04.07.2011 · IWW-Abrufnummer 112059
Landgericht Saarbrücken: Urteil vom 27.05.2011 – 13 S 25/11
Kommt es beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, das zuvor bis zum Stillstand abgebremst worden ist, tritt die Betriebsgefahr des stehenden Fahrzeugs bei der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG nur dann vollständig zurück, wenn das Verschulden des Rückwärtsfahrenden durch besondere Umstände erschwert ist (Fortführung Kammer, Urteil vom 09.07.2010 - 13 S 61/10).
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 11.01.2011 – 5 C 94/10 (03) – wird auf dessen Kosten zurückgewiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger beansprucht restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30.03.2009 auf dem Parkplatz des Lidl-Einkaufsmarktes in ... ereignet hat.
Der Kläger hatte sein Fahrzeug zunächst in einer Parktasche auf dem Parkplatz des Einkaufsmarktes geparkt. In einer schräg gegenüberliegenden, durch eine Fahrgasse getrennten Parktasche stand die Erstbeklagte mit ihrem Fahrzeug, das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert ist. Die Erstbeklagte kollidierte beim Rückwärtsausparken mit dem Fahrzeug des Klägers. Der von dem Kläger beauftragte außergerichtliche Sachverständige bezifferte in seinem Schadensgutachten die Kosten für die Reparatur des klägerischen Fahrzeugs auf 2.931,14 EUR brutto, den Wiederbeschaffungswert auf 1.950,- EUR und den Restwert auf 310,- EUR (Gutachten Bl. 8 d.A.). Für die Gutachtenerstellung wurden dem Kläger 367,41 EUR in Rechnung gestellt. Die Zweitbeklagte hat außergerichtlich auf der Grundlage einer Haftungsteilung insgesamt einen Betrag von 1.018,71 EUR an den Kläger gezahlt.
Der Kläger hat erstinstanzlich den Wiederbeschaffungswert seines Wagens (1.950,- EUR), die Sachverständigenkosten (367,41 EUR) und eine Unkostenpauschale (25,- EUR) abzüglich der außergerichtlichen Zahlung der Beklagten (1.018,72 EUR), mithin 1.328,70 EUR, sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 117,57 EUR geltend gemacht. Er hat behauptet, er sei bereits vollständig aus der Parktasche herausgefahren und nach vorne weggefahren gewesen, als die Erstbeklagte, ohne auf ihn zu achten, rückwärts aus ihrer Parktasche ausgeparkt habe. Obwohl er sein Auto vor der Kollision noch zum Stehen gebracht habe, habe er den Unfall nicht mehr verhindern können. Die Beklagten treffe daher die Alleinhaftung. Den Restwert seines Fahrzeuges brauche er sich nicht anrechnen zu lassen, weil er das Fahrzeug weiter genutzt habe.
Die Beklagten haben vorgetragen, dass beide Fahrzeuge zum gleichen Zeitpunkt rückwärts ausgeparkt seien.
Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von 505,60 EUR in der Hauptsache und 74,25 EUR an außergerichtlichen Anwaltskosten nebst Verzugszinsen stattgegeben. Dabei ist es von einer Haftungsverteilung von 75% zu 25% zulasten der Beklagten ausgegangen. Es hat ausgeführt, die Erstbeklagte sei beim Rückwärtsfahren zur Beachtung der höchsten Sorgfalt verpflichtet gewesen. Bei sorgfältiger Fahrweise habe sie den Kläger sehen müssen. Sie treffe daher die wesentliche Verantwortung an dem Zusammenstoß. Aber auch den Kläger treffe eine Mitschuld an dem Unfall. Es stehe zwar fest, dass das klägerische Fahrzeug vorwärts gefahren sei und beim Zusammenstoß gestanden habe bzw. kurz vorher bis fast zum Stillstand abgebremst worden sei. Da aber nicht nachgewiesen sei, wann der Kläger gebremst habe bzw. wie nahe er an den Parktaschen vorbeigefahren sei, sei nicht ausgeschlossen, dass er durch langsames und bremsbereites Fahren den Zusammenstoß habe vermeiden können. Ausgehend von einem wirtschaftlichen Totalschaden hat das Amtsgericht den ersatzfähigen Fahrzeugschaden auf den Wiederbeschaffungswert abzüglich des Fahrzeugrestwertes beschränkt.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Anspruch im Umfang der Klageabweisung weiter. Er rügt eine Rechtsverletzung durch das Amtsgericht. Angesichts der Feststellung, dass er sein Fahrzeug aus einer Vorwärtsbewegung rechtzeitig vor der Kollision habe anhalten können und die Erstbeklagte gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen habe, sei eine Mithaftung nicht gerechtfertigt. Die Schadensberechnung des Amtsgerichts sei fehlerhaft, weil das Amtsgericht entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Restwert des Fahrzeuges in Ansatz gebracht habe, obwohl der Kläger seinen Pkw nach dem Unfall vom 30.03.2009 zumindest noch bis zum 23.09.2010 nachweislich benutzt habe.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist unbegründet. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts beruht nicht auf einer Rechtsverletzung und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen keine andere Entscheidung (§ 513 Abs.1 ZPO).
1. Zutreffend hat das Amtsgericht eine Haftung des Klägers und der Erstbeklagten gem. § 7 Abs. 1 StVG iVm. § 115 VVG bejaht. Soweit der Erstrichter dabei davon ausgegangen ist, dass für den Kläger ein unabwendbares Ereignis nicht vorgelegen hat (§ 17 Abs. 3 StVG; vgl. § 7 Abs. 2 StVG aF.), begegnet diese Feststellung keinen Bedenken. Dem Kläger ist der Nachweis der Unabwendbarkeit nicht gelungen.
a) Ein unabwendbares Ereignis setzt voraus, dass der Unfall auch bei Einhaltung der äußersten möglichen Sorgfalt durch einen Idealfahrer nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus (vgl. zu § 7 Abs. 2 StVG a.F.: BGHZ 117, 337; Urteil vom 23.09.1986 – VI ZR 136/85 – VersR 1987, 158, 159 mwN.; BGHZ 113, 164, 165).
b) Der Kläger hat den Anforderungen an einen Idealfahrer nicht genügt. Ein Idealfahrer anstelle des Klägers musste bereits bei einer ganz geringen Fahrbewegung des Beklagtenfahrzeugs zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der zum Ausfahren aus der Parktasche ansetzende Verkehrsteilnehmer den in der unmittelbaren Annäherung befindlichen Kläger übersehen hatte und ohne Unterbrechung ganz aus der Parklücke herausfahren würde. Unter diesen Umständen hätte ein Idealfahrer bereits den Beginn der Fahrbewegung als Reaktionsaufforderung für eine Bremsung genutzt (vgl. nur Kammer, Urteil vom 10.12.2010 – 13 S 58/10). Dass der Kläger sich entsprechend verhalten hätte, ist weder vorgetragen noch für die Kammer offensichtlich.
2. Auch die vom Amtsgericht getroffene Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG hält im Ergebnis einer Überprüfung stand.
a) Anders als die Berufung meint, kann der Erstbeklagten kein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO vorgehalten werden. Nach der Rechtsprechung der Kammer findet § 9 Abs. 5 StVO und der dem rückwärts Fahrenden auferlegte Gefährdungsausschluss auf Parkplätzen keine unmittelbare Anwendung, da die Vorschrift vorrangig den fließenden Verkehr schützen will. Auf einem Parkplatz, dem – wie im Streitfall – der eindeutige Straßencharakter fehlt und der daher allein dem ruhenden Verkehr dient, ist der Schutzzweck des § 9 Abs. 5 StVO nicht unmittelbar betroffen, denn es muss dort anders als im fließenden Verkehr jederzeit mit rangierenden und damit auch rückwärts fahrenden Fahrzeugen gerechnet werden (vgl. Kammer, Urteil vom 09.07.2010 – 13 S 61/10, Schaden-Praxis 2011, 106 und zuletzt Urteil vom 10.12.2010 aaO, jeweils mwN.).
b) Die Erstbeklagte hat jedoch gegen das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§ 1 Abs. 2 StVO) verstoßen. Nach dieser Vorschrift muss sich ein Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Der Erstbeklagten oblag es hiernach jedenfalls, beim Ausparken den rückwärtigen Verkehrsraum zu überblicken und den Rangiervorgang nur einzuleiten bzw. fortzusetzen, soweit sie dies tun konnte, ohne mit dem klägerischen Fahrzeug zu kollidieren. Dabei ist die besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens, die allein durch das eingeschränkte Sichtfeld des Rückwärtsfahrenden für den rückwärtigen Verkehr besteht, mit einzubeziehen mit der Folge, dass die Wertung des § 9 Abs. 5 StVO sinngemäß Anwendung findet. Der Rückwärtsfahrende muss sich daher so verhalten, dass er bei Erkennbarkeit der Gefahr sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann. Kollidiert er beim rückwärtigen Ausparken mit einem anderen Fahrzeug, spricht ein Anscheinsbeweis für sein Verschulden, wenn ihm – wie hier – der Nachweis nicht gelingt, dass er vorkollisionär angehalten hat (vgl. Kammer, Urteile vom 09.07.2010 aaO und vom 13.12.2010 aaO, jeweils mwN.).
c) Der Kläger hat den Unfall nicht verschuldet. Ein Verstoß gegen das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme nach § 1 Abs. 2 StVO liegt nicht vor. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger mit der auf Parkplätzen gebotenen Achtsamkeit gefahren ist. Die Beklagten können sich insoweit nicht darauf berufen, dass für ein Verschulden des Klägers bereits der Beweis des ersten Anscheins spreche. Wie die Kammer bereits entschieden hat, wird der Anscheinsbeweis widerlegt, wenn nachgewiesen ist, dass der Fahrzeugführer seiner Pflicht nachgekommen ist, in ständiger Bremsbereitschaft zu fahren (vgl. dazu Kammer, Urteil vom 29.05.2009 – 13 S 181/08, NJW-RR 2009, 1250 mwN.) und sein Fahrzeug vorkollisionär zum Stillstand gebracht hat. Auf die Dauer des Stillstandes kommt es insoweit nicht an (vgl. Kammer, Urteil vom 09.07.2010 aaO). Diesen Nachweis hat der Kläger erbracht. Wie sich aus dem von den Parteien nicht angegriffenen Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergibt, befand sich das Klägerfahrzeug zum Anstoßzeitpunkt nämlich im Stillstand bzw. in einem Zustand, der kollisionsmechanisch nicht von einem Stillstand zu unterscheiden ist. Damit hat der Kläger aber, da keine sonstigen Anhaltspunkte bestehen, die die Annahme seines Verschuldens stützen könnten, den Anforderungen nach § 1 Abs. 2 StVO auf Parkplätzen Genüge getan.
d) Im Rahmen der Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG wiegt der Verkehrsverstoß der Erstbeklagten schwer. Den Rückwärtsfahrenden trifft eine vergleichsweise höhere Sorgfaltspflicht als den Vorwärtsfahrenden, da wegen der eingeschränkten Sichtverhältnisse dem Rückwärtsfahren eine höhere Gefahr innewohnt als dem Vorwärtsfahren (vgl. Kammer, Urteil vom 13.12.2010 aaO mwN.). Dem Verschulden der Erstbeklagten steht zwar lediglich die einfache Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs gegenüber. Diese tritt aber hier nicht zurück. Ein Zurücktreten der Betriebsgefahr kommt in Fällen wie dem vorliegenden nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verschulden des Rückwärtsfahrenden durch besondere Umstände erschwert ist (vgl. Kammer, Urteil vom 09.07.2010 aaO; vgl. auch Urteil vom 13.12.2010 aaO). Solche Umstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Dass der Erstrichter die Betriebsgefahr mit einer Quote von 25% bemessen hat, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
3. Das Amtsgericht hat auch den ersatzfähigen Fahrzeugschaden zutreffend ermittelt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der Geschädigte im Totalschadensfall – wie hier - nur Ersatz des Wiederbeschaffungswerts abzüglich des Restwerts verlangen, auch wenn er das beschädigte Fahrzeug weiter benutzt (vgl. BGHZ 171, 287, 289 f.; Urteil vom 01.06.2010 – VI ZR 316/09, NJW 2010, 2722). Die von der Berufung zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Weiternutzungsdauer ist im Streitfall nicht einschlägig, da sie sich ausschließlich auf die Fälle der Abrechnung auf Reparaturkostenbasis bezieht (vgl. nur BGHZ 178, 338 ff mwN.).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO iVm. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).