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  • 17.06.2013 · IWW-Abrufnummer 131910

    Oberlandesgericht Stuttgart: Urteil vom 02.05.2013 – 7 W 24/13

    Ein Sachverständiger ist nicht stets als befangen anzusehen, wenn er nach persönlichen Angriffen auf seine Kompetenz das Prozessverhalten der Versicherer allgemein mit negativer Wertung anspricht.


    Tenor
    1. Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 7.3.2013 (18 O 556/11) wird zurückgewiesen.
    2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
    Gründe
    I.
    Die Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
    1. Berechtigt ist der Beschwerdeangriff der Beklagten, das Landgericht habe ihr Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen Priv.-Doz. Dr. ... zu Unrecht wegen Verfristung für unzulässig erachtet. Um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, nimmt der Senat auf die zutreffenden diesbezüglichen Erwägungen der Beklagten in der Beschwerdeschrift vom 26.3.2013 Bezug und macht sich diese zu eigen.
    2. Das Ablehnungsgesuch der Beklagten ist somit zwar zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.
    2.1 Maßstab für die Beurteilung des hier allein in Betracht zu ziehenden Ablehnungsgrundes der Besorgnis der Befangenheit ist eine vernünftig und ruhig denkende Partei. Aus diesem Horizont sind Befangenheitsgründe in der Person des abgelehnten Sachverständigen nicht ersichtlich.
    2.2 Die geltend gemachten Befangenheitsgründe lassen sich in zwei unterschiedliche Komplexe gliedern: zum einen die fachlichen Ausführungen des Sachverständigen in seiner (zweiten) ergänzenden Stellungnahme vom 15.1.2013, in denen er sich mit der Kritik der Beklagten in deren Schriftsatz vom 21.12.2012 auseinandersetzt, zum anderen seine „grundsätzlichen Gedanken zu Rechtsstreitigkeiten bei Berufsunfähigkeitsversicherungsansprüchen“.
    3. Die Ausführungen zum erstgenannten Komplex sind schon im Grundsatz nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Dabei mag die Beklagte die inhaltliche Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen bezweifeln; eine Befangenheitsbesorgnis vermögen sie nicht auszulösen. Die Ausführungen des Sachverständigen bewegen sich allesamt auf einer sachlichen Ebene, die die fachliche Auseinandersetzung mit der Kritik der Beklagten an seinen vorausgegangenen Stellungnahmen betreffen.
    3.1 Dies gilt auch, soweit er auf S. 3 dieser ergänzenden Stellungnahme darlegt, dass er es für „unangemessen“ halte, eine „histologisch gesicherte Erkrankung einhergehend mit Diarrhoen anzuzweifeln“.
    3.1.1 Der Sachverständige benennt zugleich die Umstände, weshalb er aus medizinischer Sicht diese Angaben für glaubwürdig erachtet. Was den diesbezüglichen Vorhalt der Beklagte anlangt, der Sachverständige habe die nach ihrem Dafürhalten hierfür erforderlichen Untersuchungen nicht durchgeführt, verkennt die Beklagte die Befugnisse, die dem Sachverständigen zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe eingeräumt sind: Der Sachverständige hat nach eigenem Ermessen und in eigener Verantwortung die Methoden zu wählen, die ihm vor dem Hintergrund seiner Fachkenntnisse, aber auch seines Erfahrungswissens geeignet und erforderlich erscheinen, um die ihm gestellte Beweisfrage zu beantworten. Bereits in seiner ersten ergänzenden Stellungnahme hat der Sachverständige zum Ausdruck gebracht, dass er keine weiteren Untersuchungen und Testverfahren für erforderlich halte, um sein gewonnenes Ergebnis zu validieren. Er hat damit sein Ergebnis gegen die erhobene Kritik auf einer sachlichen und fachlichen Ebene verteidigt.
    3.1.2 Die Wiederholung der bereits in der ersten ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen zurückgewiesenen Angriffe, ohne neue, vom Sachverständigen bislang noch nicht angesprochene Gesichtspunkte zu benennen, ist ersichtlich von dem Ansinnen der Beklagten getragen, den Sachverständigen zum Abrücken von seiner bisherigen Beurteilung und zur Durchführung der von der Beklagten für erforderlich gehaltenen Untersuchungen zu veranlassen. Flankiert werden diese wiederholten Angriffe mit formal nicht zu beanstandeten Formulierungen, die jedoch auf der beigelegten Meta-Ebene nichts anderes transportieren als den Vorwurf mangelnder Kompetenz, Nichteinhaltung scheinbar selbstverständlicher Standards und/oder unzureichender Sorgfalt bei der Gutachtenerstellung. Beispielhaft sollen Formulierungen wie „…wird den geforderten Anforderungen … nicht gerecht“ (S. 3 unten des Beklagten-Schriftsatzes vom 21.12.2012), „…trifft keine nachvollziehbaren Feststellungen…“ (S. 4 oben), „…eine nachvollziehbare Begründung hierfür lässt sich dem Gutachten … nicht entnehmen“ (S. 4 Mitte), „Der Gutachter … lässt die Instrumente und Kriterien der ICF … außen vor“ (S. 4 Mitte), „… Leitlinien, welche … in dem Ergänzungsgutachten keinen Anklang finden.“ (S. 4 unten), „Der Gutachter beharrt darauf…“ (S. 4 unten). Die Liste solcher Formulierungen, die nichts anderes als den Vorwurf mangelnder fachlicher Befähigung und Sorgfalt des Sachverständigen vermitteln, ließe sich eindrucksvoll weiterführen. Die Formulierung „Ohne die fachliche Kompetenz des Gutachters in Abrede stellen zu wollen… (S. 5 Mitte) ist reine Rhetorik; das Gegenteil wird zum Ausdruck gebracht.
    3.1.3 Gemessen an der Form dieser massiven Kritik ist deren Zurückweisung seitens des Sachverständigen mit der Formulierung, er halte die - prozessual zweifelsfrei zulässigen und statthaften - Zweifel der Beklagten für „unangemessen“, weder der Form noch dem Inhalt nach zu beanstanden. Eine ruhig und vernünftig denkende Partei würde in dieser Situation nicht nur erkennen, dass der Sachverständige trotz der erhobenen Kritik aus fachlichen Gründen schlicht andere Auffassungen hinsichtlich Methodik sowie Art und Umfang der zur Erledigung des Gutachtensauftrags erforderlichen Untersuchungen vertritt, sondern auch, dass die gewählte Formulierung des Sachverständigen maßgeblich der Form und der Beharrlichkeit der Beklagten geschuldet und hierdurch regelrecht herausgefordert ist. Der Vorwurf der Beklagten, der Sachverständige beharre auf einer unzutreffenden Auffassung kann nämlich aus der Sicht des Sachverständigen auch genau umgekehrt gesehen werden: nicht er, sondern die Beklagte beharre auf einer unzutreffenden Sicht der Dinge. Diese Erwägungen ruhig und vernünftig bedenkend, würde die als Maßstab dienende Partei die Formulierung des Sachverständigen nicht als Ausdruck einer einseitigen Parteilichkeit oder Voreingenommenheit bewerten, sondern sie in den oben dargestellten Rahmen einer sich verschärfenden fachlichen Auseinandersetzung zwischen ihr und dem Sachverständigen einordnen, in die zuerst die Beklagte, nicht der Sachverständige unterschwellig Komponenten persönlicher Vorwürfe eingeführt hat.
    3.2 Gleiches gilt für die weiteren Ausführungen des Sachverständigen auf S. 3 unten seiner zweiten ergänzenden Stellungnahme, in denen er darauf verweist, seiner Ansicht nach würden „Probanden/Versicherte regelrecht inkriminiert“, ergänzt um die rhetorische Frage, ob die Beklagte „erwarte, dass die Klägerin ihre Notdurft im Beisein eines Gutachters verrichten soll“.
    3.3 Auch die Stellungnahme zum Vorwurf unzureichend begründeter Quantifizierung des Berufsunfähigkeitsgrades begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.
    3.3.1 Der Sachverständige merkt insoweit an, dass den Gutachtern eine solche Einschätzung regelmäßig abverlangt und deren Fehlen von Parteien und Gerichten moniert werde, ihre Vornahme hingegen nahezu ebenso regelmäßig mit dem Vorwurf unzureichender Begründung und geradezu willkürlicher Festlegung angegriffen werde. Diese Beschreibung des Ablaufs von Beweisaufnahmen durch Sachverständigengutachten insbesondere im Bereich der Berufsunfähigkeits- und vergleichbarer Versicherungen, bei denen der Grad der Leistungsfähigkeitsminderung zu ermitteln ist, trifft nach den Beobachtungen des Senats für einen hohen Anteil der betroffenen Verfahren zu, und zwar mit steigender Tendenz. Der Beschrieb des Sachverständigen ist daher aus der Sicht des Senats richtig.
    3.3.2 Diese Entwicklung im Prozessverhalten vieler Parteien angesprochen zu haben, zeugt nicht von Voreingenommenheit oder Parteilichkeit des Sachverständigen, sondern ist herausgefordert durch die oben dargestellte massive fachliche Kritik am Sachverständigen, die die Beklagte mit deutlichen und unverkennbaren Einschlägen ins Persönliche garniert hat. Dies würde eine vernünftig und ruhig denkende Partei erkennen und im Hinblick auf ihr eigenes vorausgegangenes Verhalten als jedenfalls nicht unangemessene Reaktion des Sachverständigen hinnehmen, ohne hieraus den Verdacht der Befangenheit abzuleiten.
    3.3.3 Eine vernünftig und ruhig denkende Partei würde im Übrigen auch aus der Art und Weise, wie der Sachverständige den Grad der Berufsunfähigkeit eingeschätzt hat, keine Besorgnis der Befangenheit ableiten. Sie würde nämlich berücksichtigen, dass sich eine solche Bewertung häufig einer letzten rationalen Begründung ebenso entzieht wie etwa im Rahmen richterlicher Entscheidungen die Einschätzung von Mithaftungsquoten, die Höhe von Schmerzensgeldbeträgen oder die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „Angemessenheit“ oder „Billigkeit“. Sie würde daher die vom Sachverständigen ohne genauere Begründung vorgenommenen Einschätzungen nicht auf Parteilichkeit oder Voreingenommenheit zurückführen, sondern als Ausfluss des in langjähriger Berufs- und Gutachter-Erfahrung gewonnenen Erfahrungswissens bewerten.
    4. Auch die Ausführungen des Sachverständigen zu seinen „grundsätzlichen Gedanken zu Rechtsstreitigkeiten bei Berufsunfähigkeitsversicherungsansprüchen“ geben im konkreten Fall einer ruhig und vernünftig denkenden Partei keinen Anlass, die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.
    4.1 Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass jene Ausführungen des Sachverständigen solche Zweifel begründen würden, wären sie ohne jeden Anlass erfolgt. So liegt der Sachverhalt indessen nicht. Wie oben ausgeführt, hat sich die Beklagte dazu entschlossen, den „Kampf um das Recht“ in konfrontativer Form gegen den Sachverständigen zu führen, die die rein sachliche Ebene verlassen hat und unverkennbar den Sachverständigen persönlich angreift.
    4.1.1 Kein Zweifel: Im „Kampf um das Recht“ darf jede Partei sich auch überpointiert bis zur Grenze der Formalbeleidigung oder der Schmähkritik äußern, um damit ihre Rechtsposition zu unterstreichen. Diese Grenze hat die Beklagte eingehalten. Wenn eine Partei aber den Weg wählt, ihre Rechtsposition in dieser Art zu vertreten, wird sie bei ruhiger und sachlicher Überlegung keine Voreingenommenheit eines Sachverständigen annehmen, wenn dieser – teilweise – auf diesen Ton einsteigt und die erfolgten persönlichen Angriffe nicht in gleicher Weise unbeachtet lässt, wie dies in einer Entscheidung eines Gerichts geboten ist.
    4.1.2 Im Übrigen entspricht es auch der Beobachtung des Senats, dass Rechtsstreitigkeiten im Versicherungsrecht zunehmend konfrontativ geführt werden und sich der „Kampf um das Recht“ in den letzten Jahren deutlich verschärft hat. Auch wenn der Sachverständige die Auswirkungen eines solchermaßen verschärften „Kampfes um das Recht“ für eine namhafte Anzahl von Versicherten besonders plastisch und plakativ beschrieben hat, dürfte seine Beschreibung in der Sache vielfach richtig sein.
    4.1.3 Wenn die Beklagte nicht mit Angriffen gegen den Sachverständigen auf einer persönlichen Ebene spart, die dieser inhaltlich durchaus zutreffend als Angriff auf seine fachliche Kompetenz verstanden hat, so kann die Beklagte nicht Klage darüber führen, wenn der Sachverständige in gleicher Form retourniert. Jedenfalls würde die als Maßstab dienende vernünftige Partei diesen Standpunkt einnehmen statt die Unbefangenheit des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen. Stattdessen zieht es die Beklagte vor, in ihrer Beschwerdeschrift den „Kampf um das Recht“ weiter zu verschärfen, indem sie nunmehr die intellektuelle Befähigung des Sachverständigen anzweifelt, sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Nichts anderes bedeuten nämlich Formulierungen wie etwa „Schließlich kann oder will der Sachverständige die Vorhalte nicht verstehen.“ oder „… dass der Gutachter nicht willens oder in der Lage war, Behauptungen der Klägerin kritisch zu hinterfragen.“ (vgl. S. 3 des Beklagten-Schriftsatzes vom 31.1.2013).
    4.2 Auch die Ausführung des Sachverständigen, manche Versicherten würden mitunter auf berechtigte Ansprüche verzichten, drückt nicht eine einseitige, von Mitleid getragene Parteilichkeit zu Gunsten der konkreten Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits und zugleich einen haltlosen Vorwurf gegen die Versicherungswirtschaft aus, sondern weist auf die schlechterdings nicht zu leugnende strukturelle Überlegenheit der Versicherer hin. Diese ergibt sich nicht nur aus deren Finanzkraft, der ein einzelner Versicherungsnehmer mit durchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen regelmäßig nur mit Hilfe einer Rechtsschutzversicherung begegnen kann, sondern insbesondere aus dem Mangel eigener Betroffenheit. Während auf Seiten eines Versicherers der Rechtsstreit mit emotional unbeteiligten Funktionsträgern geführt werden kann, ist der Versicherungsnehmer regelmäßig mit der Führung eines solchen Rechtsstreits erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt. Die ruhig und vernünftig denkende Partei würde die beanstandeten Äußerungen des Sachverständigen in diesen zutreffenden Kontext stellen und dabei berücksichtigen, dass sie selbst mit ihren persönlichen Angriffen gegen den Sachverständigen maßgeblich die Eskalation in der Verschärfung der Tonlage eingeleitet und beflügelt hat.
    4.3 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass auch die Bemerkung des Sachverständigen, er werde keine (schriftliche) Stellungnahme mehr abgeben, sondern dem Gericht als sachverständiger Zeuge zur Verfügung stehen, dem Ablehnungsgesuch nicht zum Erfolg verhelfen kann. In der Tat sind weitere schriftliche Stellungnahmen nicht mehr fruchtbringend, weil offenkundig sämtliche Gesichtspunkte bereits angesprochen und die hierzu vorzubringenden Argumente allseits vorgebracht sind. Damit ist das Landgericht am Zug, sich über die inhaltliche Überzeugungskraft des schriftlichen Gutachtens – ggf. nach dessen mündlicher Erläuterung – Klarheit zu verschaffen und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob eine Begutachtung durch einen weiteren Sachverständigen erforderlich ist oder nicht. Nichts anderes lässt sich der Schlussbemerkung des Sachverständigen bei ruhiger und vernünftiger Betrachtung entnehmen.
    Sofern man in der Formulierung, der Sachverständige wolle als „sachverständiger Zeuge“ zur Verfügung stehen, eine Selbstablehnung erblicken wollte, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche dem Sachverständigen nicht zusteht. Richtig verstanden, wird diese Bemerkung jedoch eher zum Ausdruck bringen, dass der Sachverständige nur noch zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zur Verfügung stehen will.
    II.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO

    RechtsgebieteUnfallregulierung, Gutachten