07.09.2020 · IWW-Abrufnummer 217708
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht: Urteil vom 13.07.2020 – 16 U 137/19
1. Ein nicht einstandspflichtiger Vollkaskoversicherer verletzt gegenüber dem
Versicherungsnehmer, dem er ein ihm vorliegendes Schadensgutachten nicht
unaufgefordert übersendet, weder eine versicherungsvertragliche noch eine
leistungsunabhängige Rücksichts- oder leistungsbezogene Treuepflicht.
2. Ein Vollkaskoversicherer ist nach § 810 BGB jedenfalls nicht ohne Geltendmachung eines
Einsichtsrechts durch den Versicherungsnehmer verpflichtet, diesem Einsicht in ein
Schadensgutachten zu gewähren oder ihm dasselbe zu überlassen.
3. Stellt der Vollkaskoversicherer ein Schadensgutachten auf Anforderung nicht zur
Verfügung, kann dies eine Treuepflichtverletzung darstellen.
4. Die Treuepflicht endet nicht mit der Leistungsablehnung durch den Vollkaskoversicherer.
Zur Verletzung von Treuepflichten eines Vollkaskoversicherers bei Nichtherausgabe eines bereits eingeholten Schadensgutachtens
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 22. November 2019, Az. 5 O 66/19, wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das angefochtene Urteil ist ebenso wie das gegenständliche Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch, weil die Beklagte ihm ein von ihr nach einem gemeldeten Verkehrsunfall eingeholtes Schadensgutachten nicht bzw. seiner Leasingvertragspartnerin erst verspätet zur Verfügung gestellt habe.
Der Kläger schloss mit der Beklagten im Jahre 2015 einen Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrag und einen Kaskoversicherungsvertrag für ein von ihm über die V. Financial Services von der S. Leasing GmbH geleastes Kraftfahrzeug des Typs Volvo XC90 ab. Ende Dezember 2017 wurde das Fahrzeug bei einem vom Kläger verschuldeten Unfall erheblich beschädigt. Der Kläger hatte bei dem Unfall einen Blutalkoholwert von 2,32 Promille. Bei der Unfallmeldung gab der Kläger gegenüber der Beklagten nicht an, zum Unfallzeitpunkt unter Alkoholeinfluss gestanden zu haben. Anfang Januar 2018 holte die Beklagte ein Sachverständigengutachten über die Höhe der am Fahrzeug eingetretenen Schäden ein. In einer E-Mail vom gleichen Tage (Anlage K1, GA 7) teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie das Gutachten nach Erhalt an ihn weiterleiten würde. Am 10. Januar 2018 wandte sich die Leasinggeberin an die Beklagte und bat u. a. um die Zurverfügungstellung des Sachverständigengutachtens (Anlagenkonvolut B3, GA 56).
Das von der Beklagten in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten vom 30. Januar 2018 wies Reparaturkosten in Höhe von 43.015,51 € netto, einen Wiederbeschaffungswert von 57.900 € brutto sowie einen Restwert in Höhe von 26.560 € brutto (22.319,33 € netto) aus. Dem Sachverständigen lag ein verbindliches, bis zum 19. Februar 2018 befristetes Angebot zum Ankauf des Fahrzeugs zu diesem Betrag vor.
Die Klägervertreter baten die Beklagte per E-Mail vom 8. Februar 2018 (Anlage K9, GA 79) um Mitteilung, ob sie den Vollkaskoschaden an die Leasinggeberin ausgezahlt habe. Mit Schreiben vom 20. Februar 2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass wegen des von ihm unter Alkoholeinfluss verursachten Unfalls nach den allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung ein Versicherungsschutz nicht bestehe (Anlage B4, GA 64). Daraufhin wandte sich der Kläger über seine Prozessbevollmächtigten am 26. Februar 2018 erneut an die Beklagte und bat um Übersendung des eingeholten Gutachtens. Am Folgetag lehnte die Beklagte wegen des fehlenden Versicherungsschutzes die Übermittlung von Schadensunterlagen ab. Auf ein weiteres Schreiben der Leasinggesellschaft vom 26. April 2018 (Anlage B3, GA 94) stellte sie es dieser im Mai 2018 zur Verfügung, die es später an den Kläger weiterreichte. Das Fahrzeug wurde am 7. Juni 2018 durch die Leasinggeberin zu einem Kaufpreis von 15.768,39 € netto veräußert (Abrechnung siehe Anlage K4, GA 13). Für die Zeit vom 1. März 2018 bis zum 13. Juni 2018 stellte die P. GmbH dem Kläger Standkosten in Höhe von insgesamt 882,00 € netto in Rechnung (Anlagenkonvolut K3, GA 9ff).
Der Kläger hat die Beklagte auf Zahlung der Differenz zwischen dem erlösten Restwert und dem dem Sachverständigen bei seiner Gutachtenerstattung vorliegenden verbindlichen Ankaufsangebot sowie auf Ersatz der Standgebühren, zusammen 7.432,94 € netto, und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Anspruch genommen.
Er hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte aufgrund einer vertraglichen Nebenpflicht das Gutachten an ihn habe weiterleiten müssen, damit er das notleidend gewordene Leasingverhältnis hätte abrechnen können. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2019 hat er die Behauptung aufgestellt, dass sich das verbindliche höchste Kaufangebot aus dem Schadensgutachten, welches bis zum 19. Februar 2018 befristet gewesen sei, noch hätte realisieren lassen, wenn die Beklagte ihm das Gutachten auf die Aufforderung vom 26. Februar 2018 zur Verfügung gestellt hätte, und hat sich auf das Zeugnis des Ankäufers A. W. berufen. Auch könne ein Sachverständiger in den einschlägigen Börsen prüfen, ob das verbindliche Kaufangebot eine Woche nach der Aufforderung vom 26. Februar 2018 noch in derselben Höhe realisierbar gewesen wäre (GA 134).
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt habe der Kläger einen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens, insbesondere nicht aus § 280 Abs. 1 BGB. Die Beklagte habe ihre Pflichten aus dem Versicherungsvertrag mit dem Kläger nicht verletzt. Es habe keine Pflicht zur unaufgeforderten Übersendung des Schadensgutachtens bestanden. Das Recht des Versicherungsnehmers aus § 3 Abs. 4 VVG umfasse nicht die Erteilung von Abschriften eines Schadensgutachtens. Eine solche Pflicht ergebe sich auch nicht aus § 241 Abs. 2 BGB. Der Kläger habe ferner keinen Anspruch auf Einsicht in das Gutachten aus § 810 Alt. 1 BGB gehabt. Ein Sachversicherer hole Schadensgutachten nach überwiegender Auffassung nicht im Interesse des Versicherungsnehmers ein, denn der Zweck des Gutachtens bestehe allein in der Erfüllung der dem Versicherer obliegenden Pflicht zur Ermittlung des Schadens. Aber selbst wenn ein solches Einsichtsrecht des Klägers bestanden hätte, bestünde kein Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 Absatz 1 S. 1 BGB. Die Beklagte habe sich nicht in Verzug befunden.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Berufung des Klägers. Die Auffassung des Landgerichts sei angreifbar, weil offenkundig sei, dass die Einholung des Gutachtens zwar überwiegend der Ermittlung des Schadens im Sinne des Versicherers diene, der Versicherungsnehmer allerdings ein Interesse an der Nachprüfbarkeit der ordnungsgemäßen Schadensbestimmung habe. Außerdem habe es für die Beklagte auf der Hand gelegen, dass der Kläger als Versicherungsnehmer des Leasingsfahrzeugs genauso wie die Leasinggeberin das durch den Unfall notleidend gewordene Leasingverhältnis habe abwickeln müssen. Die Herausgabe des Schadensgutachtens sei unter dem Gesichtspunkt einer vertraglichen Nebenverpflichtung daher geboten gewesen. Aus dem Schreiben vom 10. Januar 2018 ergebe sich auch nicht - auch wenn sich eine Totalschadensabrechnung aufgrund der Angaben in den Gutachten geradezu aufgedrängt habe -, dass das Gutachten ausschließlich für den Fall eines Totalschadens erbeten worden sei. Vielmehr habe die Beklagte auf Basis des Schreibens vom 10. Januar 2018 davon ausgehen müssen, dass das Gutachten dringend zur Abrechnung des wegen eines Totalschadens notleidend gewordenen Leasingverhältnis benötigt worden sei.
Unklar bleibe auch, weshalb sich die Beklagte im Zustand eines "unverschuldeten Irrtums" befunden haben sollte. Soweit sich dieser Irrtum nach Auffassung des Landgerichts auf ihre Verpflichtung zur Herausgabe des Gutachtens bezogen habe, folge ihr Verschulden aus dem Schreiben vom 10. Januar 2018, da ihr hieraus bekannt gewesen sei, dass auch die Leasinggeberin das Gutachten wegen des sich aufdrängenden Totalschadens benötigt habe. Wegen der unstreitigen Trunkenheitsfahrt des Klägers habe die Beklagte nicht das Recht gehabt, in Kenntnis der Tatsache, dass der Leasingnehmer das notleidende Vertragsverhältnis habe abrechnen müssen, diesem die Herausgabe der Schadensunterlagen zu verweigern und ihm so einen Schaden zuzufügen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des Landgerichts Kiel vom 22. November 2019 zum Aktenzeichen 5 O 66/19 zu ändern und
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.432,94 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hierauf seit dem 23. August 2018 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten seiner Prozessbevollmächtigten in Höhe von 612,80 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hierauf seit dem 23. August 2018 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Landgerichts und weist darauf hin, dass sie lediglich deshalb Veranlassung gehabt habe, überhaupt in die Ermittlungen zur Schadenshöhe einzutreten, weil der Kläger seine Trunkenheitsfahrt zunächst verschwiegen habe. Wenn der Kläger diese offenbart haben würde, wäre es zu Ermittlungen im Hinblick auf die Schadenshöhe nicht gekommen. Vertragliche Neben- und Treuepflichten endeten jedenfalls dann, wenn die Leistungsprüfung abgeschlossen sei.
II.
Die Berufung hat keinen Erfolg, § 513 Abs. 1 ZPO. Dem Kläger stehen gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche nicht zu. Die Beklagte war nicht verpflichtet, dem Kläger das Gutachten unaufgefordert zur Verfügung stellen. Auch wenn die Beklagte später dem Kläger das Gutachten auf seine Aufforderung vom 26. Februar 2018 zur Verfügung hätte stellen müssen, ist ein kausaler Schaden nicht dargetan.
1.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 280 BGB, weil die Beklagte ihm das eingeholte Schadensgutachten nicht unaufgefordert übersandt hat. Es mangelt an der schuldhaften Verletzung einer auf die unaufgeforderte Herausgabe des von der Beklagten eingeholten Schadensgutachtens gerichteten Leistungs-, sonstigen Treue- oder gesetzlichen Vorlagepflicht. Mangels Bestehens einer solchen Pflicht kommt auch keine Schadensersatzpflicht unter Verzugsgesichtspunkten in Betracht.
a.
Das Landgericht hat zutreffend eine versicherungsvertragliche Pflicht der Beklagten zur unaufgeforderten Herausgabe des im Zusammenhang mit der Schadensregulierung eingeholten Gutachtens verneint.
Aus dem Versicherungsvertragsverhältnis steht dem Kläger weder ein normierter Anspruch auf Herausgabe des Gutachtens zu, noch kann er dies im Rahmen etwaiger Nebenleistungspflichten verlangen, da eine Einstandspflicht der Beklagten bereits dem Grunde nach für den von dem Kläger verursachten Verkehrsunfall wegen dessen Alkoholisierung nicht in Betracht kommt und der Kläger daher die Angaben in dem gleichwohl eingeholten Schadensgutachten nicht benötigt, um seinen Anspruch gegen die Beklagte beziffern zu können. Die Schadensermittlung durch den Versicherer stellt in der Regel eine ausreichende Verhandlungsgrundlage für die Schadensregulierung dar und macht meist eigene Aufwendungen des Versicherungsnehmers zur Schadensermittlung überflüssig. Aber nur wenn der Versicherungsnehmer in dieser Weise auf die Schadensermittlung des Versicherers angewiesen ist, muss dieser, damit seinerseits Waffengleichheit herrscht, auch Einsicht in das Ergebnis des Sachverständigen erhalten (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. April 2005 - 12 W 32/05, NJOZ 2005, 2878, 2879; OLG Saarbrücken, Urteil vom 14. Oktober 1998 - 5 U 1011-97/80, NJW-RR 1999, 759 [OLG Saarbrücken 14.10.1998 - 5 U 1011/97-80] siehe zum Einsichtsrecht im Falle der Leistungspflicht des Versicherers: Prölss/Martin/Voit, 30. Aufl., VVG § 85 Rn. 3). Dass die Beklagte gleichwohl ein Gutachten eingeholt hat, nachdem der Kläger den Unfall zwar gemeldet, aber noch nicht seine Alkoholisierung zum Unfallzeitpunkt mitgeteilt hatte, ändert daran nichts.
b.
Die Beklagte war ferner nicht verpflichtet, das mangels anfänglicher Unkenntnis von der Alkoholisierung des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalls eingeholte Schadensgutachten auf Grund einer leistungsunabhängigen Rücksichtspflicht im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB oder einer leistungsbezogenen Treuepflicht aus § 242 BGB unaufgefordert an den Kläger herauszugeben (zur terminologischen Einordnung siehe: Staudinger/Olzen (2019) BGB § 241 Rn. 157) .
Ein Schuldverhältnis kann gemäß § 241 Abs. 2 BGB jeden Teil zur Rücksicht auf Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Unter den umfassenden Begriff der "Rücksicht" fallen alle leistungsunabhängigen Nebenpflichten (Staudinger/Olzen (2019) BGB § 241 Rn. 514). Es braucht nicht entschieden zu werden, ob die Beklagte, wenn sie von der beabsichtigten Rückabwicklung des Leasingvertrags bereits vor dem 19. Februar 2018, dem Tag, bis zu dem der im Schadensgutachten angegebene Zeuge Wiegand den beschädigten Volvo XC90 zu einem Betrag von 26.560 € angekauft hätte, erfahren hätte, aus Gründen der Rücksichtnahme verpflichtet gewesen sein könnte, das ihr ausweislich des Tatbestands des Urteils des Landgerichts am 30. Januar 2018 vorliegende Gutachten dem Kläger zur Verfügung zu stellen. Unstreitig erfuhr die Beklagten erst am 26. Februar 2018 durch das Schreiben der Klägervertreter von der Absicht des Klägers, den Leasingvertrag abzuwickeln (LGU 3). Die Pflicht, die Rechtsgüter der anderen Vertragspartei zu schützen, setzt voraus, dass dem Vertragspartner die schützenswerte Rechtsposition bekannt ist bzw. hätte bekannt sein müssen. Dies ist vorliegend nicht der Fall und ergibt sich auch nicht aus der Mitteilung der Leasinggesellschaft vom 10. Januar 2018 (Anlagenkonvolut B3, GA 56) ungeachtet der Frage, ob die die Leasinggesellschaft überhaupt Erklärungen für den Kläger hat abgeben dürfen. Mitte Januar stand nicht fest, ob es sich um einen Reparatur- oder Totalschaden handelte. Ob sich der Kläger im Hinblick auf den erst später festgestellten wirtschaftlichen Totalschaden für eine vorzeitige Abwicklung des Leasingverhältnisses entscheiden würde, konnte die Beklagten nicht beurteilen. Eine Nebenpflicht, ein eingeholtes Schadensgutachten ungefragt an den Versicherungsnehmer - nicht an die Leasinggeberin, wie der Kläger im Schriftsatz vom 17. Juni 2020, Seite 2 (GA 222) ausdrücklich zugesteht - zu übersenden, besteht jedenfalls nicht, wenn dem Versicherer ein besonderes Interesse des Versicherungsnehmers an der Kenntniserlangung nicht bekannt ist. Ein solches Interesse ergab sich insbesondere auch nicht aus der Höhe des Ankaufsangebots. Es ist nicht ersichtlich und erst recht nicht vorgetragen, dass dieses Angebot bereits im Februar 2018 als besonders günstig für den Kläger erscheinen musste. Erst im Juni 2018 hat sich herausgestellt, dass über die Ankaufsbörsen lediglich ein demgegenüber geringerer Verkaufserlös erzielt werden konnte.
Nichts Anderes gilt in Bezug auf die auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützten Pflichten der Vertragsparteien zur gegenseitigen Unterstützung und zur Mitwirkung bei der Erreichung der Ziele der anderen Partei (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 1968 - V ZR 161/66, Juris Rn. 24).
c.
Die Beklagte war auch vor Ablauf der Bindungsfrist des Angebots zum Ankauf des beschädigten Fahrzeugs am 19. Februar 2018 nicht ohne weiteres verpflichtet, dem Kläger Einsicht in das Gutachten nach § 810 BGB zu gewähren. Es kann offen bleiben, ob das Schadensgutachten allein im Interesse des Versicherers und der Gemeinschaft der Versicherten eingeholt wurde und nicht auch im Interesse des Versicherungsnehmers als Anspruchsteller (offen lassend ebenfalls u. a. Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 22. April 2020 - 5 U 55/19, juris Rn. 21). Eine Pflicht zur Einsicht in eine Urkunde nach § 810 BGB setzt jedenfalls voraus, dass der Berechtigte seinen sich aus § 810 BGB (möglicherweise) ergebenden Anspruch gegenüber dem Besitzer der Urkunde geltend macht. Dies war vor Ablauf der Bindungsfrist des Ankaufsangebots nicht der Fall; der Kläger bat die Beklagte erst per E-Mail vom 26. Februar 2018 um die Übersendung des Gutachtens (LGU3).
d.
Mangels Pflicht der Beklagten zur unaufgeforderten Zurverfügungstellung des Schadensgutachtens kommt ein Anspruch auf Ersatz etwaiger Verzögerungsschäden von vornherein nicht in Betracht.
2.
Die Beklagte hat indes eine ihr obliegende Treuepflicht gegenüber dem Kläger verletzt, als sie sich weigerte, ihm auf seine Bitte vom 26. Februar 2018 das Gutachten zur Verfügung zu stellen (Ablehnungsschreiben vom 27. Februar 2018, Anlage K2, GA 26). Der Versicherer ist nach den auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützten Pflichten der Vertragsparteien zur gegenseitigen Unterstützung und zur Mitwirkung bei der Erreichung der Ziele der anderen Partei verpflichtet, dem Versicherungsnehmer ein vorliegendes Schadensgutachten zur Verfügung zu stellen, wenn der Versicherungsnehmer ihn hierzu auffordert und für den Versicherer das verfolgte Ziel des Versicherungsnehmers ersichtlich ist.
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte dem Kläger bereits mitgeteilt hatte, für die aufgrund des alkoholbedingten Unfalls entstandenen Schäden nicht einstandspflichtig zu sein. Zwar sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Obliegenheitsverletzungen des Versicherten nach einer Leistungsablehnung des Versicherers nicht mehr sanktionierbar. Dies folgt entgegen der Darstellung der Beklagten (GA 139) aber nicht aus einem Ende der wechselseitigen Treuepflichten. Mit der endgültigen Leistungsablehnung des Versicherers enden, solange der Versicherer an ihr festhält, die Verhandlungen über eine Entschädigungsleistung, während derer der Versicherer auf Angaben eines redlichen Versicherungsnehmers angewiesen ist. Nur bis zu der Erklärung, die Leistung abzulehnen, besteht daher die besondere Schutzbedürftigkeit des Versicherers, der im Versicherungsrecht mit der - dem übrigen Schuldrecht unbekannten - Sanktion der Leistungsfreiheit wegen schuldhaft begangener Obliegenheitsverletzungen Rechnung getragen werden darf (BGH, Urteil vom 13. März 2013 - IV ZR 110/11 -, juris Rn. 18). Hieraus folgt aber nicht, dass mit der Leistungsablehnung auch alle Treuepflichten - zumal des Versicherers - enden könnten.
Der Kläger kann gleichwohl nicht Ersatz für den geringeren Erlös aus dem Verkauf des totalbeschädigten Leasingfahrzeugs in Höhe von 6.550,94 € und der bis zum Verkauf entstandenen Standkosten von 882,00 € beanspruchen.
a.
Der Kläger war zu keiner Zeit ermächtigt, das Fahrzeug zu veräußern (Schriftsatz des Klägers vom 17. Juni 2020, Seite 1, GA 221), so dass er das Fahrzeug zu den aus dem Schadensgutachten ersichtlichen Konditionen gar nicht hätte verwerten können, auch wenn er das Gutachten zeitnah auf seine Aufforderung hin erhalten hätte. Ihm stand - bei einer Vertragsbeendigung nach einem wirtschaftlichen Totalschaden - nach VIII. Ziffer 2 und V. Ziffer 7 der Leasingsbedingungen (Anlage K 10, GA 146) nicht einmal ein Vorschlagsrecht zu. Aber selbst wenn die Leasinggeberin als verfügungsbefugte Eigentümerin des Fahrzeugs das Gutachten zeitnah erhalten hätte, ist nicht feststellbar, dass die Veräußerung seitens der Leasinggeberin zu einer Zeit erfolgt wäre, zu der der Ankäufer noch bereit gewesen wäre, den ursprünglich angebotenen (nur bis zum 19. Februar 2018 geltenden) Kaufpreis zu zahlen. Es mag zwar sein, dass der Ankäufer auch noch Anfang oder Mitte März bereit gewesen sein könnte, das Fahrzeug zu diesem Preis zu erwerben (was unterstellt werden kann, so dass dem Beweisangebot nicht nachzugehen ist). Der Umstand, dass die Leasinggesellschaft nicht versucht hat, das Fahrzeug noch im Laufe des Februar oder März 2018 zu veräußern, sondern der Verkauf an die A. GmbH & Co. KG erst mit Schreiben vom 7. Juni 2018 erfolgt ist (vgl. Anlage K4, GA 13) spricht dagegen, dass im Falle einer Übermittlung des Gutachtens bis Ende Februar 2018 an den Kläger das Fahrzeug zu für den Kläger günstigeren Konditionen verkauft worden wäre. Zwar liegt nahe, dass die Leasinggesellschaft das Schadensgutachten verwenden wollte, um das beschädigte Fahrzeug über die Restwertbörsen anbieten zu können. Der Senat geht auch davon aus, dass sie so verfahren ist, als sie das Fahrzeug an die A. GmbH & Co. KG veräußerte, nachdem sie das Gutachten im Mai 2018 von der Beklagten erhalten hatte. Doch ist damit noch nicht festzustellen, dass das Fahrzeug von der Leasinggesellschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu einem höheren Preis verwertet worden wäre, wenn die Beklagte das Gutachten dem Kläger auf seine Aufforderung vom 26. Februar 2018 jedenfalls im Laufe des März 2018 zur Verfügung gestellt hätte; denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Leasinggesellschaft auf ihr derart bekanntgewordene - zumal abgelaufene - Angebote Rücksicht nähme.
Einen für ihn günstigeren hypothetischen Kausalverlauf hat der Kläger trotz des Hinweises des Senats mit der Ladung nicht dargelegt. Es ist schon nicht feststellbar, dass die Leasinggesellschaft wegen der Kündigung des Leasingvertrages überhaupt berechtigt war, das Fahrzeug zu veräußern. Zu der Beendigung des Leasingvertrages fehlt jeglicher Vortrag des Klägers. Nach V. Ziffer 7. des Leasingvertrages (auch Anlage BKl1, GA 228) können der Leasingnehmer, mithin der Kläger, und die Leasinggesellschaft innerhalb von drei Wochen nach Kenntnis des Totalschadens den Leasingvertrag zum Ende eines Vertragsmonats kündigen. Wer zu welchem Ende eines Vertragsmonats wann die Kündigung erklärt hat, ist nicht ersichtlich und wurde auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht dargelegt, obwohl diese Frage konkret angesprochen wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass der Leasingvertrag erst im April 2018 gekündigt wurde. Hierfür spricht jedenfalls, dass sich die Leasinggesellschaft selbst erst am 26. April 2018 an die Beklagte gewandt hat - bei ihr ausweislich des Eingangsstempels eingegangen am 9. Mai 2018 - um die Zurverfügungstellung des Gutachtens zu erwirken, um das Fahrzeug verwerten zu können.
b.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Standgebühren nicht zu erstatten. Denn die Eigentümerin des Fahrzeugs konnte vor der Beendigung des Leasingvertrages das Fahrzeug nicht verwerten. Es ist im Übrigen auch nicht dargetan und auch nicht ersichtlich, dass die Leasinggesellschaft, die nach der Vorlage des Gutachtens einige Wochen gebraucht hat, bis sie das Fahrzeug veräußerte, es tatsächlich wesentlich früher veräußert hätte, wenn ihr das Gutachten eher vorgelegen hätte. Rein spekulativ dasselbe "Tempo" bei früherer Vorlage unterstellt, wären Standkosten allemal bis weit in den April 2018 hinein sowieso entstanden. Dementsprechend sind die Standkosten nicht als ein Schaden zu ersetzen, der durch eine verzögerte Übersendung des Gutachtens entstanden wäre.
3.
Die Beklagte hat auch gegen keine sich selbst in der E-Mail vom 4. Januar 2018 (Anlage K1, GA 7) auferlegte Verpflichtung, das Gutachten dem Kläger zur Verfügung stellen zu wollen, verstoßen. Weder ist ersichtlich, dass durch dieses Schreiben ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde und dass durch die spätere Ablehnung der Übersendung des Gutachtens ein Vertrauensschaden entstanden ist, noch lässt sich ein entsprechender Rechtsbindungswille erkennen. Die Mitarbeiterin der Beklagten kannte zum Zeitpunkt der Absendung der E-Mail noch nicht einmal den Unfallhergang und wusste noch nicht, wer überhaupt Anspruchsteller sein würde. Die Ankündigung der Gutachtenübersendung vor Abschluss der Prüfung der Leistungspflicht sollte die Beklagte erkennbar in keiner Weise binden, sondern beschreibt lediglich die Praxis der Schadensbearbeitung im Falle der Einstandspflicht der Beklagten.
4.
Mangels begründeter Hauptforderung kann der Kläger nicht den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangen.
5.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.