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  • 11.06.2013 · IWW-Abrufnummer 131852

    Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 08.02.2013 – 9 U 202/12

    Zur Aufsichtspflicht der Eltern für einen 6 Jahre und einen Monat alten Jungen, der mit einem Kinderrad den vor dem elterlichen Haus gelegenen öffentlichen Gehsteig befährt.



    Tenor:

    Der Senat weist die Parteien darauf hin, dass beabsichtigt ist, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Die Sache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und eine Entscheidung ist zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich; die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist nicht geboten, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 4 ZPO.

    Gründe:

    I.

    Gemäß § 540 Abs.1 ZPO wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts anderes ergibt. Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Beklagten hätten ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt und hierzu näher ausgeführt.

    Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der diese klageerweiternd Zahlung weitere 250,- € nebst Zinsen und Feststellung begehrt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihr die zukünftig anlässlich des Unfalls für ihr Kassenmitglied entstehenden Aufwendungen zu ersetzen. Die Beklagten hätten ihrer Aufsichtspflicht nicht genügt. Denn die Beklagte zu 1) habe D nicht ausreichend beobachten können, weil sie nicht ständig im Ladengeschäft gewesen sei. Wenn sie sich im Ladengeschäft aufgehalten habe, sei sie durch die Bedienung von Kunden abgelenkt gewesen. Daher habe sie nicht feststellen können, ob D sich den erteilten Anweisungen entsprechend verhielt. Um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, hätten die Beklagten D regelmäßig in kurzen Zeitabständen kontrollieren müssen. Die Tatsache, dass die Beklagte zu 1) unter der Woche D auf dem Fahrrad auf dem Weg zum Kindergarten begleitet habe, belege zudem, dass dieser sich nicht sicher auf dem Fahrrad habe bewegen können.

    Die Klägerin beantragt,

    das angefochtene Urteil abzuändern, und die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 16.931,16 € sowie weitere 250,-€ und vorgerichtliche Kosten in Höhe von 492,54 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 16.931,16 € seit dem 17.05.2011, aus 250,- € seit dem 26.10.2012 und aus 492,54 € seit dem 18.05.2012 zu zahlen,

    festzustellen,

    dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche zukünftig aus Anlass des Verkehrsunfalls vom 09.05.2009 in H entstehende Aufwendungen für ihr Kassenmitglied C zu ersetzen.

    Die Beklagten beantragen,

    die Berufung zurückzuweisen.

    II.

    Die Berufung der Klägerin bietet offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.

    Der Klägerin steht der auf sie übergegangene geltendgemachte Anspruch auf Ersatz von Heilbehandlungskosten für ihr Kassenmitglied C nicht zu. Die Voraussetzungen der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage nach § 832 Abs. 1 BGB liegen nicht vor. Denn die Beklagten haben ihrer Aussichtspflicht für ihren Sohn D genügt.

    Nach § 832 Abs. 1 Satz 1 BGB sind die nach §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB aufsichtspflichtigen Eltern zwar verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, den ihr Kind einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht besteht jedoch nicht, wenn sie nachweisen, dass sie ihre Aufsichtspflicht erfüllt haben oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre.

    Nach den gem. § 529 ZPO grundsätzlich bindenden tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts ist die bei der Klägerin versicherte Frau C durch den Sohn der Beklagten widerrechtlich verletzt worden. Denn dieser ist bei der Ausfahrt von dem Hofgelände mit seinem Fahrrad auf den unmittelbar an den Gehweg angrenzenden Radweg geraten und dort mit der geschädigten Radfahrerin Frau C kollidiert, wodurch diese zu Schaden gekommen ist.

    Diese widerrechtliche Schadensverursachung beruht aber nicht auf einer Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten.

    Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Eltern in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 Abs. 1 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falls genügt worden ist. Entscheidend ist daher nicht, ob der Erziehungsberechtigte allgemein seiner Aufsichtspflicht genügt hat, sondern ob dies im konkreten Fall und in Bezug auf die zur widerrechtlichen Schadenszufügung führenden Umstände geschehen ist (vgl. BGH NJW 2009, 1954). Die Aufsichtspflicht wird mithin zum einen durch Eigenschaften des aufsichtsbedürftigen Kindes und zum anderen durch die Schadensgeneigtheit des Unfallbereichs und der danach gegebenen und zu erwartenden konkreten Gefahrensituation bestimmt. Dabei hat der Aufsichtspflichtige in seine Überlegungen einzubeziehen, dass beides in einer inhaltlichen Wechselbeziehung steht. Je gefahrenträchtiger die objektiven Umstände sind, um so größere Anforderungen sind an die Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes zu stellen, um es unbeaufsichtigt lassen zu können. Umgekehrt müssen Defizite im Bereich der subjektiven Elemente zu größeren Anforderungen an die Aufsichtspflicht führen, und zwar auch dann, wenn sich das Kind in einem objektiv überschaubaren und vertrauten Bereich ohne besondere Gefahrenlage bewegt (vgl. OLG Hamm, NJW-RR 2002, 236).

    Mangels anderweitiger Feststellungen des Landgerichts ist für die Prüfung des Maßes der Aufsichtspflicht in der Person Conrads von einem normal entwickelten Kind im Alter von 6 Jahren und einem Monat auszugehen.

    Die elterlichen Pflichten umfassen auch die sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Straßenverkehr. Das ist jedoch nur möglich, wenn das Kind auch altersgerecht Gelegenheit erhält, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren. Allein die Tatsache, dass D ohne ständige Beaufsichtigung durch die Beklagten den vor dem elterlichen Haus gelegenen Gehsteig mit seinem Kinderfahrrad benutzt hat, vermag eine Aufsichtspflichtverletzung nicht zu begründen. Denn die Beklagte zu 1) hat bei ihrer persönlichen Anhörung gem. § 141 ZPO in erster Instanz zur Überzeugung des erkennenden Richters dargelegt, dass D das von ihm seit ca. 3 Jahren benutzte Fahrrad sicher habe fahren können. D sei auch entsprechend angewiesen worden, ausschließlich den Gehsteig zu benutzen und dem Radweg und der Straße fernzubleiben. Davon, dass D sich an die ihm erteilten Anweisungen gehalten habe, habe sie sich überzeugen können, wenn D seine „Touren“ gemacht habe, was ca. 6 mal täglich vorgekommen sei, insbesondere an Samstagen. Soweit die Klägerin mutmaßt, Kinder in Conrads Alter neigten grundsätzlich dazu, Kurven großzügig zu nehmen, bleibt dies eine Mutmaßung, die durch das Ergebnis der Anhörung der Beklagten zu 1) widerlegt ist.

    Über das zu keiner Beanstandung Anlass gebende Fahrverhalten ihres Sohnes konnte sich die Beklagte zu 1) auch anlässlich der gemeinsamen Fahrten zum Kindergarten einen zuverlässigen Überblick verschaffen. Auch in diesem Zusammenhang habe die Beklagte zu 1) D stets ermahnt, Kurven vorsichtig zu durchfahren. Dass die Beklagte zu 1) D auf dem Weg zum Kindergarten beleitet hat, gibt entgegen der Ansicht der Klägerin keinen Anlass zu der Vermutung, D beherrsche sein Fahrrad im Straßenverkehr nicht sicher. Die Begleitung durch die Beklagte zu 1) ist nicht Ausdruck einer zwingend erforderlichen ständigen Begleitung. Abgesehen davon, dass nicht bekannt ist, ob D auf dem Weg zum Kindergarten Straßen – gegebenenfalls an besonders gefährlichen Stellen – überqueren oder sonstige für Kinder in seinem Alter nicht oder nur schwierig zu überschauende Verkehrssituationen meistern musste, entspricht die Begleitung eines 6-jährigen Kindes zum Kindergarten durch die Mutter der Üblichkeit und diente der weiteren Schulung des Kindes. Demgegenüber sind die Verhältnisse vor dem elterlichen Haus übersichtlich und D seit Jahren bekannt. Eine gesteigerte Aufsichtspflicht ergibt sich auch nicht – wie die Klägerin meint – daraus, dass nach ihrer Auffassung die Hofeinfahrt für den Verkehr auf dem Radweg nicht erkennbar ist und daher Radfahrer nicht mit aus der Hofeinfahrt kommenden Fahrzeugen rechneten.

    Soweit die Klägerin argumentiert, die Beklagte zu 1) habe ihre Aufsichtspflichten deshalb nicht sorgfältig wahrgenommen, weil sie zum Unfallzeitpunkt nicht im Ladengeschäft gewesen sei und zudem Zweifel bestünden, wie sie bei anderen Gelegenheiten zuverlässig beobachtet haben will, dass sich D an die ihm erteilten Anweisungen hielt, vermag dies keine durchgreifenden Zweifel zu begründen. Die D erteilten Anweisungen dienten nicht allein dem Schutz der anderen Passanten oder Radfahrer, sondern bezweckten ersichtlich auch, D selbst vor einer Kollision und damit vor Verletzungen zu bewahren. Vor diesem Hintergrund überzeugt, dass sich die Beklagte zu 1) zuverlässig vergewissert hat, dass D ihre Anweisungen beachtete. Hierin durfte sich die Beklagten auch dadurch bestätigt sehen, dass es insoweit bislang zu keinem Zwischenfall gekommen ist. Dass sie im Unfallzeitpunkt keinen Blickkontakt zu D hatte, ist daher unschädlich.

    Dem Kläger wird Gelegenheit gegeben, zu dem vorstehenden Hinweis innerhalb von 3 Wochen Stellung zu nehmen.

    RechtsgebietBGBVorschriften§§ 823, 1626, 1631 BGB