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  • · Fachbeitrag · Leserforum

    Neue Versicherer-Attacke auf Alt- und Vorschäden: Keine Stundenverrechnungssätze der Marke mehr?

    | Rund um die Alt- und Vorschäden wird der Ideenreichtum manches Versicherers immer origineller. Ein anwaltlicher Leser zeigte uns ein Schreiben mit der These, bei Alt- und Vorschäden dürften keine Marken-Preise mehr zur Anwendung kommen. Der Geschädigte müsse den Gutachter beauftragen, andere Preise in die Kalkulation einzustellen. Andernfalls seien die Gutachtenkosten vom Versicherer nicht zu erstatten. UE beleuchtet nachfolgend die steile These des Versicherers mit der BGH-Rechtsprechung. |

    VU-Schreiben: Bei Alt- und Vorschäden keine Marken-Preise

    Den (auszugsweisen) Wortlaut des Schreibens wollen wir unseren Lesern nicht vorenthalten: „Ihr Mandant hat wissentlich und willentlich einen Gutachter beauftragt, ausdrücklich Vertragswerkstattlöhne zur fiktiven Abrechnung zu kalkulieren, obwohl diese nach präjudizierender BGH-Rechtsprechung aufgrund vorhandener Vor- und Altschäden nicht erstattet verlangt werden können. Nach BGH ist der erforderliche Wiederherstellungsaufwand auf Fachwerkstattlohn zu reduzieren.“

     

    Und nach dem Hinweis auf eine andere Werkstatt endet das dann: „Nach herrschender Rechtsprechung soll ein beauftragtes Gutachten, sofern der Auftrag nach präjudizierender BGH-Vorgabe unter absoluter Beachtung der obliegenden Schadenminderungspflicht erfolgte, einen berechtigten und begründeten Anspruch belegen. Nach o. g. Ausführungen kann die beauftragte Kalkulation jedoch nicht beansprucht werden, sodass auch Kosten dieser Beauftragung nicht erstattet verlangt werden können. Wir lehnen daher die geforderten Gutachterkosten ab, da Ihr Mandant nachweislich eine deutlich überhöhte Kalkulation in Auftrag gegeben hat.“

    Schreiben passt nicht in die sonst übliche Diktion

    Dieses gestelzte Schreiben sieht nicht nach einem zentral vorgegebenen Text aus. Eher ist es ein Versuchsballon. Denn dass bei diesem Versicherer derzeit ein Mitarbeiter zu viel Zeit hat, um so etwas zu ersinnen, scheint angesichts dessen massiven Arbeitsrückstands ausgeschlossen.

    BGH-Entscheidungen widerlegen steile Thesen eindeutig

    Die Thesen stehen im klaren Widerspruch zu den BGH-Entscheidungen. Die Spielregeln für die fiktive Abrechnung hat der BGH im Urteil vom 20.10.2009 (Az. VI ZR 53/09, Abruf-Nr. 133712) dargelegt:

     

    • In dieser wegweisenden Entscheidung zur fiktiven Abrechnung hat er im Leitsatz a betont, dass der Geschädigte in der Regel Anspruch auf die Reparaturkosten der Marke am Ort hat. Das ist völlig unabhängig vom Alter und Wartungsstatus des Fahrzeugs und fußt auf § 249 Abs. 2 S. 1 BGB.

     

    • In Leitsatz b allerdings sagt der BGH, dass der Versicherer gemäß § 254 BGB unter bestimmten Voraussetzungen auf die Kosten verweisen darf, die in einer gleichwertigen markenfreien Werkstatt entstehen. Dazu muss er dann eine konkrete Werkstatt in erreichbarer Nähe benennen.

     

    Mit anderen Worten: Solange der Versicherer nicht auf eine andere Werkstatt verwiesen hat, hat der Geschädigte Anspruch auf die Stundenverrechnungssätze der Marke am Ort. Und deshalb darf er auch ein Gutachten auf dieser Grundlage erstellen lassen. Denn zum Zeitpunkt der Gutachtenbeauftragung und -erstellung hat der Versicherer noch nicht auf die andere Werkstatt verwiesen.

    Gutachter muss das geltende Schadenersatzrecht beachten

    Die These, der Gutachter dürfe so nicht kalkulieren, ist diametral falsch. Der BGH sagt: „Beauftragt der Geschädigte ‒ wie im Streitfall ‒ den Gutachter mit der Schadensschätzung zum Zwecke der Schadensregulierung, hat der Sachverständige das Gutachten unter Berücksichtigung der geltenden Rechtsprechung zum Schadensersatz bei KFZ-Unfällen zu erstellen.“ (BGH, Urteil vom 13.01.2009, Az. VI ZR 205/08, Rz 10, Abruf-Nr. 090691).

     

    Wie oben gezeigt, sagt die geltende Rechtsprechung: Der Geschädigte hat im Regelfall Anspruch auf die Reparaturkosten der Markenwerkstatt, solange der Versicherer noch nicht wirksam auf eine andere Werkstatt verwiesen hat.

     

    In demselben Urteil sagt der BGH, „… dass der Gutachtensumfang durch den Gutachtensauftrag und nicht durch das Interesse des Haftpflichtversicherers des Unfallgegners an einer besonders Kosten sparenden Schadensabrechnung bestimmt wird.“ Eine „… präjudizierende BGH-Vorgabe unter absoluter Beachtung der obliegenden Schadenminderungspflicht …“ den Gutachter in voreilendem Gehorsam instruieren zu müssen, können wir darin nicht erkennen.

     

    Wichtig | Somit sind sämtliche Angriffe des Versicherers gegen das Gutachten und die Verweigerung, das Gutachtenhonorar zu erstatten, verfehlt.

    Alt-/Vorschäden: Einfluss auf Zumutbarkeit einer Verweisung

    Eine interessante Frage ist es aber, ob Alt- oder Vorschäden einen Einfluss auf die Zumutbarkeit der Verweisung haben. Präziser: Ob bei Fahrzeugen, die „eigentlich“ wegen ihres Alters von nicht mehr als drei Jahren oder von zwar mehr als drei Jahren, jedoch durchgehender Wartung und Reparatur in der Markenwerkstatt („scheckheftgepflegt“) vor der Verweisung geschützt sind, der Alt- oder Vorschaden ein anderes Licht auf die Sache wirft.

     

    Bis zum Alter von drei Jahren

    Mit der Drei-Jahres-Schranke will der BGH den Geschädigten davor schützen, dass er wegen des (bei der fiktiven Abrechnung auch nur gedachten) „Fremdgehens“ Schwierigkeiten mit Gewährleistungs- und Garantieansprüchen bekommt. Wörtlich: „Dies gilt vor allem bei Fahrzeugen bis zum Alter von drei Jahren. Denn bei neuen bzw. neuwertigen Kraftfahrzeugen muss sich der Geschädigte im Rahmen der Schadensabrechnung grundsätzlich nicht auf Reparaturmöglichkeiten verweisen lassen, die ihm bei einer späteren Inanspruchnahme von Gewährleistungsrechten, einer Herstellergarantie und/oder von Kulanzleistungen Schwierigkeiten bereiten könnten.“

     

    • Altschäden, also z. B. eine Delle oder ein verschrammter Stoßfänger, die unrepariert blieben, haben keinen Einfluss auf Garantieentscheidungen des Herstellers. Ein Altschaden ändert also nichts.

     

    • Ein Vorschaden, der in einer Werkstatt der Marke beseitigt wurde, ändert auch nichts. Ein Vorschaden jedoch, der außerhalb einer Werkstatt der Marke beseitigt wurde, könnte einen Einfluss auf Garantieleistungen haben. Doch der BGH will die Drei-Jahres-Sperre generell angewendet wissen: „Im Interesse einer gleichmäßigen und praxisgerechten Regulierung bestehen deshalb bei Fahrzeugen bis zum Alter von drei Jahren grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken gegen eine (generelle) tatrichterliche Schätzung der erforderlichen Reparaturkosten nach den Stundenverrechnungssätzen einer markengebundenen Fachwerkstatt.“

     

    Mehr als drei Jahre, aber scheckheftgepflegt

    Bei bisher scheckheftgepflegten Fahrzeugen geht es dem BGH darum, dass dieser wertbeeinflussende Status nicht durch das „Fremdgehen“ untergeht: „Bei Kraftfahrzeugen, die älter sind als drei Jahre, kann es für den Geschädigten ebenfalls unzumutbar sein, sich im Rahmen der Schadensabrechnung auf eine alternative Reparaturmöglichkeit außerhalb einer markengebundenen Fachwerkstatt verweisen zu lassen. Denn auch bei älteren Fahrzeugen kann die Frage Bedeutung haben, wo das Fahrzeug regelmäßig gewartet, „scheckheftgepflegt“ oder ggf. nach einem Unfall repariert worden ist. Dabei besteht ‒ wie entsprechende Hinweise in Verkaufsanzeigen belegen ‒ bei einem großen Teil des Publikums … die Einschätzung, dass bei einer (regelmäßigen) Wartung und Reparatur eines Kraftfahrzeugs in einer markengebundenen Fachwerkstatt eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese ordnungsgemäß und fachgerecht erfolgt ist.“

     

    • Altschäden haben definitiv keinen Einfluss auf den Status „scheckheftgepflegt“. Dann ist das Fahrzeug eben scheckheftgepflegt mit Delle und verschrammtem Stoßfänger.

     

    • Ein Vorschaden, der in einer Werkstatt der Marke beseitigt wurde, ändert zweifellos auch nichts. Ein Vorschaden, der außerhalb einer Werkstatt der Marke beseitigt wurde, könnte jedoch einen Einfluss auf den Status „scheckheftgepflegt“ haben. Denn der BGH sagt zum Thema scheckheftgepflegt, es könne den Wert beeinflussen, „… wo das Fahrzeug regelmäßig gewartet, „scheckheftgepflegt“ oder ggf. nach einem Unfall repariert worden ist.“ Das kann man so verstehen, dass das Fahrzeug bei einer Vorschadenreparatur außerhalb einer Werkstatt der Marke nicht mehr als scheckheftgepflegt anzusehen ist. Versteht man das so, ist der Status „scheckheftgepflegt“ und damit der Schutzzweck der Sperre bereits verloren.
    Quelle: Ausgabe 04 / 2023 | Seite 16 | ID 49260629