· Fachbeitrag · Schadengutachten
Überblick über Rechtsprechung zur Bedeutung des Schadengutachtens beim Haftpflichtschaden
| In UE hat Rechtsprechung dazu breiten Raum eingenommen, dass der Geschädigte nach der Fahrzeugreparatur gegen Attacken des gegnerischen Haftpflichtversicherers gut geschützt ist, wenn er den Reparaturauftrag auf ein vorheriges Schadengutachten stützt. Stimmen Reparaturrechnung und Gutachten dann im Wesentlichen überein, laufen die Attacken des Versicherers ins Leere, dies und das sei nicht nötig gewesen. Bestätigt hat diese Rechtsprechung jüngst der BGH (Urteil vom 26.04.2022, Az. VI ZR 147/21, Abruf-Nr. 230188 ). Doch der Schutz des Geschädigten geht noch viel weiter. |
Nur ein Gutachten führt zur belastbaren Schadenfeststellung
In vollem Umfang zuzustimmen ist dem AG Zittau, Zweigstelle Löbau, wenn es sagt: „Der Geschädigte, dessen Fahrzeug bei einem Verkehrsunfall beschädigt wird, hat keine andere Möglichkeit, den entstandenen Schaden belastbar festzustellen, als dass er mit dem damit verbundenen Kostenrisiko einen Sachverständigen beauftragt, ein entsprechendes Gutachten zu erstellen.“ (AG Zittau, Zweigstelle Löbau, Urteil vom 21.01.2021, Az. 14 C 382/20, Abruf-Nr. 220373).
Gutachten hat höchsten Beweiswert
Das Wort von der „belastbaren Schadenfeststellung“ trifft die Dinge gut. Damit ist nicht gemeint, dass ein Gutachten stets „richtig“ ist. Wobei man über richtig oder falsch allerdings auch heftig streiten kann. Der Gutachter hat stets einen Beurteilungsspielraum (u. a. LG Coburg, Urteil vom 28.05.2021, Az. 33 S 49/20, Abruf-Nr. 222779; AG Oldenburg, Urteil vom 30.12.2014, Az. 7 C 7205/13 (X), Abruf-Nr. 143708; AG Stuttgart, Urteil vom 21.11.2017, Az. 43 C 723/17, Abruf-Nr. 198523; AG Kassel, Urteil vom 01.07.2020, Az. 421 C 104/18, Abruf-Nr. 217595). Kommen zwei Gutachten zu unterschiedlichen Ergebnissen, bedeutet das nicht, das eins von beiden falsch ist. Liegen die Ergebnisse jeweils innerhalb des Beurteilungsspielraums, sind beide Gutachten richtig.
Vertrauensschutz des Geschädigten
Gemeint ist vom AG Zittau, dass sich der Geschädigte auf die Feststellungen des Gutachters verlassen darf. Das wird nur eingegrenzt durch ein Auswahlverschulden des Geschädigten, also durch die Wahl eines für ihn erkennbar untauglichen Gutachters. Und es wird eingegrenzt, wenn der Geschädigte für den Schadengutachter relevante Informationen (Vor- oder Altschäden, Kilometerstandanzeigen-Veränderungen) unterdrückt hat.
Der Grund für diesen Vertrauensschutz liegt darin, dass der Geschädigte als Laie den Profis des Versicherers schutzlos gegenübersteht, wenn er nicht durch die Beauftragung eines Schadengutachters hin zum Zustand der Waffengleichheit aufrüstet. So wird dann auf Augenhöhe argumentiert.
Nachfolgend erfahren Sie, welche Bedeutung das Schadengutachten für die verschiedenen Fallgruppen hat ‒ von der 130-Prozent-Rechtsprechung über die Fiktive Abrechnung bis hin zu Restwert und Mietwagenkosten:
130-Prozent-Rechtsprechung und Gutachten
Wichtiger denn je ist wegen des leergefegten Fahrzeugmarkts, auf dem durch die massenhafte Verlängerung von Leasingverträgen und die vervielfachte Haltedauer von Mietwagen eine halbe Gebrauchtwagengeneration weggefallen ist, die Möglichkeit des Geschädigten, das Fahrzeug auf Kosten des Schädigers über den Wiederbeschaffungswert (WBW) hinaus zu reparieren.
Geschädigter darf auf Grundlage des Gutachtens disponieren
Um zu wissen, ob der Schaden innerhalb der 130-Prozent-Grenze liegt, braucht der Geschädigte eine verlässliche Angabe zum WBW und eine tragfähige Prognose zu den Reparaturkosten. Auf beides darf er sich verlassen. Dispositionen auf der Grundlage des Gutachtens sind dann geschützt.
Weist das Gutachten einen Schaden aus, der unterhalb von 130 Prozent des WBW liegt, kann der Versicherer das nach Reparaturbeginn nicht torpedieren mit der Behauptung, der WBW sei zu hoch angesetzt (OLG Schleswig, Urteil vom 08.01.2015, Az. 7 U 5/14, Abruf-Nr. 144250).
Auch wenn der Versicherer das mit einem Gegengutachten zu untermauern versucht, ist das schlichtweg zu spät (AG Hamburg St-Georg, Urteil vom 02.04.2015; Az. 918 C 82/14 Abruf-Nr. 144332; AG Neu-Ulm, Urteil vom 21.12.2015, Az. 3 C 427/15, Abruf-Nr. 185870).
Geschädigter darf Reparatur in eigener Regie durchführen
Ob eine Intervention vor Reparaturbeginn Wirkung hat, hat die Rechtsprechung noch nicht entschieden. Das kann auch daran liegen, dass der gut beratene Geschädigte das Gutachten gar nicht vorlegt, bevor die Reparatur begonnen ist. Das ist ein ohne weiteres zulässiges Verhalten, denn der BGH sagt: „Der Gesetzgeber hat dem Geschädigten in § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB die Möglichkeit eingeräumt, die Behebung des Schadens gerade unabhängig vom Schädiger in die eigenen Hände zu nehmen und in eigener Regie durchzuführen. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung würde unterlaufen, sähe man den Geschädigten schadensrechtlich grundsätzlich für verpflichtet an, vor der von ihm beabsichtigten Schadensbehebung Alternativvorschläge des Schädigers einzuholen und diesen dann gegebenenfalls zu folgen.“ (BGH, Urteil vom 25.06.2019, Az. VI ZR 358/18, Rz. 14, Abruf-Nr. 210470).
Reparaturkosten: Das Prognoserisiko trägt der Schädiger
Auch für die prognostizierten Reparaturkosten gilt: Das Prognoserisiko trägt der Schädiger. Das ist nach der Rechtsprechung des BGH auch bei den 130-Prozent-Fällen so. In der ersten 130-Prozent-Entscheidung des BGH heißt es: „Wählt der Geschädigte den Weg der Schadensbehebung mit dem vermeintlich geringeren Aufwand, so geht ein von ihm nicht verschuldetes Werkstatt- oder Prognoserisiko zu Lasten des Schädigers.“ (BGH, Urteil vom 15.10.1991, Az. VI ZR 314/90, Abruf-Nr. 092354).
Instanzgerichte bestätigen das ausdrücklich im Zusammenhang mit den 130-Prozent-Fällen (LG Ulm, Urteil vom 15.05.2015, Az. 2 O 317/14, Abruf-Nr. 144805; LG Köln, Urteil vom 04.06.2014, Az. 9 S 22/14, Abruf-Nr. 145606).
Und im umgekehrten Fall des schon prognostisch über 130 Prozent liegenden Schadens hat der BGH formuliert: „Liegen die (voraussichtlichen) Kosten der Reparatur eines Kraftfahrzeugs mehr als 30 % über dem Wiederbeschaffungswert, so ist die Instandsetzung in aller Regel wirtschaftlich unvernünftig.“ Er hat also auch hier auf die voraussichtlichen Kosten lt. Gutachten abgestellt (BGH, Urteil vom 15.10.1991, Az. VI ZR 67/91, Abruf-Nr. 101950).
Dass am Ende alles anders sein kann, als prognostiziert, liegt in der Natur der Sache. Denn so wusste schon Mark Twain: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“
Wichtig | Nur in einer Konstellation dreht sich das Prognoserisiko um: Der Schaden liegt lt. Gutachten jenseits der 130 Prozent, der Geschädigte will sie aber ‒ z. B. durch Gebrauchtteile oder einen abweichenden Reparaturweg ‒ unter die Grenze ziehen: Wenn es schiefgeht, ist das sein Risiko.
Das alles ist kein Freibrief für den Schadengutachter
Die Anwürfe der Versicherungswirtschaft, so könne der Schadengutachter die 130-Prozent-Fälle nach Belieben manipulieren, gehen an der Sache vorbei. Denn der Gutachter könnte bei einem manipulativen Gutachten vom Versicherer in Regress genommen werden (mehr dazu am Ende des Beitrags).
Fiktive Abrechnung und Gutachten
Im Rahmen der fiktiven Abrechnung ist das Schadengutachten keine unanfechtbare Grundlage. Dennoch: Lt. BGH kommt es für die Berechtigung einer Schadenposition darauf an, dass sie überwiegend wahrscheinlich ist (BGH, Urteil vom 17.09.2019, Az. VI ZR 396/18, Abruf-Nr. 212266). Weil, so der BGH, bei der fiktiven Abrechnung die Nagelprobe der Reparatur nicht stattfindet, kann ja nur auf die Prognose abgestellt werden. Und für diese Feststellung ist das Schadengutachten der erste Schritt und eine gute Grundlage.
Das LG Leipzig geht sehr weit, wenn es auch bei der fiktiven Abrechnung ausführt: „Der Unfallgeschädigte darf auf die Sachkunde des Gutachters vertrauen. Die Möglichkeit, das Gutachten aus eigener Kenntnis zu überprüfen, hat der Geschädigte nur in besonderen Fällen. Dass ein solcher Ausnahmefall vorliegt, hat die Beklagte nicht vorgetragen.“ Allerdings hatte in dem Vorgang der Versicherer auch keinen substantiierten Vortrag gegen die nicht erstatteten Schadenpositionen gehalten, sondern zum Beleg seiner Auffassung lediglich einen Prüfbericht vorgelegt (LG Leipzig, Urteil vom 02.06.2022, Az. 8 S 355/20, Abruf-Nr. 229928).
Rund um den Restwert
Läuft die Unfallschadenregulierung auf eine Abrechnung WBW minus Restwert hinaus, wurden in der Rechtsprechung schon viele Schlachten bis zum BGH geschlagen. Dabei haben sich die Versicherer in den Standardfällen regelmäßig die Zähne ausgebissen.
Vertrauen in Restwertfeststellung des Gutachters
Der Grundsatz lautet: Der Geschädigte darf sich auf die Restwertfeststellung des Gutachters verlassen. Er ist nicht verpflichtet, über die Einholung des Sachverständigengutachtens hinaus noch eigene Marktforschung zu betreiben. Auch ist er nicht verpflichtet abzuwarten, um dem Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer vor der Veräußerung des beschädigten Fahrzeugs Gelegenheit zu geben, zum eingeholten Gutachten Stellung zu nehmen und ggf. bessere Restwertangebote vorzulegen (BGH, Urteil vom 27.09.2016, Az. VI ZR 673/15, Abruf-Nr. 189462).
Voraussetzung ist aber, dass das Gutachten „… eine korrekte Wertermittlung erkennen lässt“. Und das tut es im Hinblick auf den Restwert, wenn der Sachverständige als geeignete Schätzgrundlage für den Restwert im Regelfall drei Angebote auf dem maßgeblichen regionalen Markt ermittelt und diese in seinem Gutachten konkret benannt hat (BGH, Urteil vom 13.10.2009, Az. VI ZR 318/08, Abruf-Nr. 093553).
Geschädigter Profi muss auch den Restwertmarkt im Internet nutzen
In einem jüngeren Fall hat sich der Geschädigte jedoch offenbar nicht auf die Restwertermittlung im Gutachten verlassen dürfen, denn der Streit und die Frage „örtlicher Markt oder Sondermarkt“ ist zulasten des Geschädigten ausgegangen. In dem Entscheidungsfall war der Geschädigte ein Autohändler, und für die Fallgruppe der gewerblich mit dem An- und Verkauf von Kraftfahrzeugen befassten Unfallgeschädigten sieht der BGH nicht die Notwendigkeit des Schutzes der Inzahlunggabe am Ort. Also muss der Restwert für deren verunfallte Fahrzeuge unter Einbeziehung des Sondermarkts und der Restwertbörsen ermittelt werden. Das hatte der Schadengutachter nicht getan, und so wurde der höhere Restwert angerechnet, obwohl er nicht erzielt wurde (BGH, Urteil vom 25.06.2019, Az. VI ZR 358/18, Abruf-Nr. 210470).
Wir sind sicher, dass der BGH das für Leasingfahrzeuge genauso sieht. Denn ein entsprechendes Urteil des OLG Düsseldorf hat der BGH in seinem Urteil zum Autohändler zustimmend erwähnt. Außerdem passt das in die Logik: Auch Leasinggesellschaften kaufen und verkaufen Autos und geben nicht in Zahlung.
Wichtig | Es ist schwer zu begründen, warum in dem BGH-Urteil der geschädigte Autohändler den Schwenk auf den Sondermarkt hätte voraussehen müssen und nicht den Schutz des insoweit fehlerhaften Gutachtens genoss. Vermutlich ist die einzige Begründung: Anders wäre der BGH nicht an die Rechtsfrage herangekommen.
Mietwagenkosten und Gutachten
Ein bisher einsames Urteil des AG Bad Liebenwerda behandelt eine Mietwagenkostenprognose im Gutachten: Im Schadengutachten prognostiziert der Gutachter auf der Grundlage der DAT-Mietwagenerhebung Mietkosten von 108 Euro pro Tag. Zu diesem Betrag hat der Geschädigte angemietet.
Das AG Bad Liebenwerda sieht den Geschädigten durch die Angabe im Schadengutachten nun nicht nur im Hinblick auf die Reparaturkosten als geschützt an, sondern auch im Hinblick auf die Mietwagenkosten.
Es fasst zusammen: Dem Geschädigten musste sich der vom Sachverständigen ermittelte Mietpreis nicht als augenscheinlich überhöht und damit nicht mit dem Normaltarif vergleichbar auffallen. Die Mietwagenkosten wurden zugesprochen, zumal die von der DAT-Mietwagenerhebung gefundenen Werte zwischen denen von Schwacke und Fraunhofer liegen und folglich nicht weit von der Mittelwert-Lösung „Fracke“ entfernt sind (AG Bad Liebenwerda, Urteil vom 01.07.2022, Az. 12 C 29/22, Abruf-Nr. 230283).
Wichtig | Würde sich die Ansicht durchsetzen, ersparte das viel mühsame Arbeit in der Durchsetzung der Mietwagenkosten vor Gericht, denn es müsste nicht mehr mit beiden Listen hantiert werden.
Das Regressrisiko des Gutachters
Die Medaille, dass sich der Geschädigte unter vielen Aspekten auf das Gutachten verlassen darf, hat richtigerweise auch eine Kehrseite. Denn der unfallgegnerische Haftpflichtversicherer kommt dadurch ja in die Pflicht, ggf. mehr zu bezahlen als objektiv nötig. Das ist dann der Fall, wenn der Gutachter
- Reparaturschritte in das Gutachten aufnimmt, die nicht notwendig sind,
- Schadenpositionen „aufbläst“ oder
- Werte falsch ermittelt.
Wann dabei die Grenzen des Beurteilungsspielraums überdehnt sind, ist immer eine Frage des Einzelfalls. Sie kann hier nicht generalisierend beantwortet werden.
Der Versicherer ist zwar nicht am Gutachtenvertrag beteiligt. Er ist im Ergebnis dem Inhalt des Gutachtens aber ausgeliefert. Deshalb gibt der BGH dem Versicherer einen direkten und nicht von Abtretungen abhängigen Regressanspruch gegen den Schadengutachter, indem er den Versicherer als Dritten in den Schutzbereich des Gutachtenvertrags zwischen Schadengutachter und Geschädigtem einbezieht (BGH, Urteil vom 13.01.2009, Az. VI ZR 205/08, Rz. 8, Abruf-Nr. 090691).
Wichtig | Das ist auch richtig so. Denn wer für sich in Anspruch nimmt, mit dem Schadengutachten Fakten schaffen zu dürfen, was ja wiederum die Erfolgsstory des Schadengutachtens begründet, muss auch für dessen Richtigkeit (im Rahmen des Beurteilungsspielraums) einstehen.
WEITERFÜHRENDEr HINWEISE
- Beitrag „Erfolgloser Regress eines Versicherers gegen den Schadengutachter“, UE 10/2020, Seite 15 → Abruf-Nr. 46835846