31.01.2013 · IWW-Abrufnummer 130325
Landgericht Duisburg: Urteil vom 12.10.2012 – 7 S 187/11
Die wirksame Einbeziehung von Versicherungsbedingungen in einen Vertrag über eine Reiserücktrittskostenversicherung kann offen bleiben, wenn eine etwaige Regelungslücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch Anwendung marktüblicher Versicherungsbedingungen geschlossen werden kann.
Gegen die Wirksamkeit einer Versicherungsbedingung, wonach Versicherungsschutz im Rahmen einer Reiserücktrittskostenversicherung besteht, wenn die planmäßige Durchführung der Reise nicht zumutbar ist, weil die versicherte Person während der Dauer des Versicherungsschutzes von einer unerwarteten schweren Erkrankung betroffen wird, bestehen keine Bedenken.
Das Bestehen einer dem Versicherungsnehmer bekannten Grunderkrankung (hier: Bandscheibenprotrusion), die erfahrungsgemäß gelegentlich Akutbeschwerden (hier: Rückenschmerzen) verursachen kann, schließt den Versicherungsschutz für solche akuten Vorfälle nicht aus. Die Erkrankung ist vielmehr nur dann „unerwartet“, wenn dem Versicherungsnehmer bei der Buchung der Reise nicht bekannt war, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens akuter Beschwerden im unmittelbaren Vorfeld der geplanten Reise derart gesteigert sein werde, dass ein vernünftiger unversicherter Reisender in seiner Situation von der Reisebuchung abgesehen hätte (Anschluss BGH, VersR 2012, 89; OLG Hamm, VersR 2001, 1229).
Landgericht Duisburg
7 S 187/11
Tenor:
Die Berufung der Kläger gegen das am 01.12.2011 verkündete Urteil des Amtsgerichts Wesel (5 C 89/11) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungs verfahrens fallen den Klägern zur Last.
Dieses Urteil sowie das angefochtene Urteil sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
G r ü n d e :
I.
Wegen der tat sächlichen Feststellungen wird zunächst Bezug genommen auf das angefochtene Urteil (Bl. 93 ff. d. A.). Die Kammer hat den Kläger zu 2. informatorisch angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen E X. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsprotokolle vom 22.06.2012 (Bl. 166 ff. d. A.) und 21.09.2012 (Bl. 241 ff. d. A.) verwiesen. Von einer weitergehenden Darstellung des Sach- und Streitstandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
II.
Die Berufung ist unbegründet.
Das Amtsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, weil kein von dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag über eine Reiserücktrittskostenversicherung gedeckter Versicherungsfall vorliegt. Versicherungsschutz kommt dem Grunde nach in Betracht, wenn ein – von den Klägern zu beweisender – Versicherungsfall im Sinne von Teil II. A. § 2 Ziff. 1. der Versicherungsbedingungen der Beklagten (Bl. 64 d. A.) vorliegt. Hiernach müsste die planmäßige Durchführung der Reise nicht zumutbar gewesen sein, weil eine versicherte Person – hier der Kläger zu 2. – während der Dauer des Versicherungsschutzes von einer unerwarteten schweren Erkrankung betroffen wurde.
1. Ohne Erfolg rügt die Berufung, dass das Amtsgericht die wirksame Einbeziehung der Versicherungsbedingungen in den Vertrag offengelassen und die etwaige Regelungslücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch Anwendung der marktüblichen Versicherungsbedingungen geschlossen hat. Eine beispielhafte Internetrecherche (der Versicherungsbedingungen mehrerer in diesem Segment marktführender Versicherungsunternehmen) belegt, dass – entsprechend den von der Beklagten vorgelegten Musterbedingungen des H (Bl. 78 d. A.) – Erkrankungen im Rahmen von Reiserücktrittsversicherungen nur versicherbar sind, wenn sie unerwartet und schwer sind. Bezeichnenderweise vermögen die Kläger keinen Versicherer zu nennen, der einen weiterge henden Schutz anbietet.
2. Dass die Beschwerden des Klägers – massive Schmerzen im LWS-Bereich mit radikulären Symptomen in beiden Beinen (vgl. die ärztliche Bescheinigung vom 14.02.2011, Bl. 22 d. A.) – eine schwere Erkrankung darstellen, hatte die im Namen der Beklagten tätige Maklerin bereits im Rahmen der vorprozessualen Korrespondenz ausdrücklich zugestanden. Soweit die Beklagte in der Klageerwiderung dennoch bestritten hat, das es dem Kläger nicht zumutbar gewesen sei, die Reise anzutreten, ist dies unbeachtlich, da die Unzumutbarkeit des Reiseantritts durch die Schwere der Erkrankung indiziert wird (vgl. Führich, Reiserecht, 6. Aufl. 2010, Rn. 821 f. m. w. N.) und die Beklagte keine Umstände vorgetragen hat, die die Durchführung der Reise gleichwohl zumutbar erscheinen ließ. Es ist allgemein bekannt, dass akute LWS-Beschwerden äußerst schmerzhaft sind und durch das mit der Reise einhergehende Tragen von Koffern und mehrstündige Sitzen in einem Flugzeug verschlimmert werden können.
3. Den Kern des Streits bildet indessen die Frage, ob der Kläger von der Erkrankung auch unerwartet betroffen wurde.
a) Den unter Berufung auf Knappmann (in: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, Nr. 2 VB-Reiserücktritt 2008, Rn. 5 m. w. N.) aufgeworfenen Bedenken der Berufung in Bezug auf die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem gesetzlichen Leitbild der §§ 19 ff. VVG ist nach herrschender Meinung nicht durch eine Verwerfung der gesamten Klausel gemäß § 307 Abs. 1 und 2 BGB, sondern durch eine „kundenfreundliche“ Auslegung Rechnung zu tragen (§ 305c Abs. 2 BGB). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Reisekrankenversicherung, die aufgrund der insoweit wortgleichen Leistungsbeschreibung auf die Reiserücktrittskostenversicherung übertragen werden kann, ist bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen, die zum Schutz des Versicherers vor vorvertraglichen Risiken das Leistungsversprechen auf Krankheiten beschränken, deren Eintritt „unerwartet“ war, auf die subjektive Sicht des Versicherungsnehmers oder der versicherten Person abzustellen, da anderenfalls die nach der gesetzlichen Konzeption des Versicherungsvertrags dem Versicherer obliegende Gefahrtragung unzulässig auf den Versicherungsnehmer übertragen würde (BGH, VersR 2012, 89; im Anschluss an OLG Köln, NVersZ 1999, 131; OLG Hamm, VersR 2001, 1229). Damit dürfte freilich keine (echte) „subjektive Auslegung“ gemeint sein, sondern der allgemein für richtig erachtete Maßstab der objektiven Auslegung nach dem Empfängerhorizont des durchschnittlichen Versicherungsnehmers, welcher die streitgegenständliche Bestimmung jedoch so verstehen wird, dass es für die Frage des Vorliegens des Merkmals „unerwartet“ auf die subjektive Sicht des konkreten Versicherungsnehmers bzw. der versicherten Person ankommt (vgl. Wandt, VersR 2012, 89 f.).
Eine Erkrankung ist deshalb nur dann „unerwartet“, wenn der Versicherungsnehmer sie bei Buchung der Reise und Abschluss des Versi cherungsvertrags tatsächlich nicht vorhergesehen hat. Eine Einbeziehung auch (grob) fahrlässiger Unkenntnis in dem Sinne, dass der Versicherungsnehmer mit dem Eintritt der Erkrankung hätte rechnen können oder müssen (vgl. Führich, a. a. O., Rn. 824), ist mit dem Wortlaut der Bestimmung nicht vereinbar: Anders als der in manchen Bedingungswerken verwendete Begriff „vorhersehbar“, der auch fahr lässiges Nichtvorhersehen einschließt, stellt der Begriff „unerwartet“ ausschließlich auf die tatsächliche Erwartung ab (Wandt, a. a. O.; ebenso im Ergebnis Knappmann, a. a. O., Rn. 7). Allein das Bestehen einer dem Versicherungsnehmer bekannten Grunderkrankung, die erfahrungsgemäß gelegentlich Akutbeschwerden verursachen kann, schließt den Versicherungsschutz für solche akuten Vorfälle allerdings nicht aus, weil das bedingungsgemäße Erfordernis des „unerwarteten“ Eintritts der Erkrankung auf den Zeitraum der Reise bezogen und beschränkt ist. Es kommt deshalb allein darauf an, ob dem Versicherungsnehmer bei der Buchung bekannt war, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens akuter Beschwerden im unmittelbaren Vorfeld der geplanten Reise derart gesteigert sein werde, dass ein vernünftiger unversicherter Reisender in seiner Situation von der Reisebuchung abgesehen hätte (vgl. OLG Hamm, a. a. O.; Knappmann, a. a. O., Rn. 8).
b) Unter Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe kann die Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen, dass die Rückenbeschwerden am 10.10.2010 aus der Sicht des Klägers unerwartet aufgetreten sind. Zwar hat sich die von der Beklagten aufgrund der ärztlichen Bescheinigung des Zeugen E X vom 14.02.2011 (Bl. 22 d. A.) angenommene Korrelation zwischen „schwerer körperlicher Arbeit“ und rezidivierenden Rückenbeschwerden nicht bestätigt. Vielmehr hat der Kläger glaubhaft erläutert, dass er seit 1980 eine Bürotätigkeit als angestellter Viehkaufmann ausübe, weshalb er von Berufs wegen jedenfalls nicht schwer körperlich zu arbeiten habe.
Unterdessen hat die Beweisaufnahme ergeben, dass der Kläger im nahen zeitlichen Zusammenhang mit der Buchung der Reise (02.08.2010) an gleichartigen Rückenbeschwerden wie zum Zeitpunkt des Reiserücktritts (10.10.2010) litt. Bereits aus der von den Klägern vorgelegten ärztlichen Bescheinigung des Zeugen E X vom 14.02.2011 (Bl. 22 d. A.) ergibt sich, dass der Kläger vor dem streitgegenständlichen Vorfall mindestens zweimal wegen LWS-Beschwerden in dessen hausärztlicher Behandlung war, und zwar einmal im Sommer 2009 und ein weiteres Mal im Januar 2010. Weiter geht aus der Bescheinigung hervor, dass bei einer MRT-Untersuchung im Februar 2010 eine flache Bandscheibenprotrusion (Bandscheibenvorwölbung) im Bereich der Wirbel L4/L5, mithin eine degenerative Veränderung der Bandscheibe festgestellt worden war. In seiner Vernehmung durch die Kammer hat der Zeuge E X ergänzend erläutert, dass der Kläger seit dem Jahr 2000 immer wieder gelegentlich – schätzungsweise zwei- bis dreimal pro Jahr – mit Rückenschmerzen in seiner Behandlung gewesen sei. In den Jahren 2009 und 2010 habe er den Kläger jeweils in die fachärztliche Behandlung des Orthopäden E F überwiesen. Darüber hinaus hat der Zeuge die Kopie eines Berichts des Arztes für Neurologie E T vom 17.08.2010 (Bl. 244 d. A.) zu den Akten gereicht, bei dem der Kläger sich – offenbar auf Veranlassung des Orthopäden E F – am 10.08.2010 mit zunehmenden Schmerzen im rechten Knie, ausstrahlend zum Unterschenkel und zur Hüfte, vorgestellt hatte. Als Ursache dieser Schmerzen hat Herr E T in erster Linie eine sog. Lumboischialgie, mithin eine Kombination aus Lumbago („Hexenschuss“) und Ischialgie („Ischiassyndrom“), ausgemacht, deren Ursache regelmäßig in einer degenerativen Veränderung der Bandscheibe(n) im unteren Lendenwirbelbereich zu finden ist, wie sie beim Kläger dokumentiert ist. Der Zeitpunkt der neurologischen Untersuchung sowie der Umstand, dass der Kläger über „zunehmende Beschwerden“ berichtete, legen nahe, dass der Kläger bereits bei der Buchung der Reise nicht beschwerdefrei war.
Vor dem vorstehenden Hintergrund ist die in den schriftlichen Bescheinigungen des Zeugen E X dokumentierte Einschätzung, dass bei der Buchung keine Bedenken gegen die Reise bestanden hätten (vgl. Bl. 17, 19, 22 d. A.), nicht nachvollziehbar. Auch der Kläger selbst hat der Kammer nicht nachvollziehbar zu erläutern vermocht, weshalb er bei der Buchung – trotz regelmäßig wiederkehrender und sogar aktuell bestehender Beschwerden – davon ausgegangen sein will, die Reise zwei Monate später beschwerdefrei antreten zu können. Zur weiteren Sachaufklärung hat der Kläger nicht beitragen; im Gegenteil hat er zunächst versucht, die Kammer (und die Beklagte) in die Irre zu führen, indem er die in der ärztlichen Bescheinigung vom 14.02.2011 (Bl. 22 d. A.) nicht erwähnten – insbesondere fachärztlichen – Behandlungen verschwiegen und – was angesichts der im Zuge der Beweisaufnahme bekannt gewordenen Tatsachen schon eine besondere Dreistigkeit darstellt – erklärt hat, er habe „in all den letzten Jahren keine Probleme“ mit dem Rücken gehabt (vgl. Sitzungsprotokoll vom 22.06.2012, Bl. 166 ff. d. A.). Zu dem – in der mündlichen Verhandlung vom 21.09.2012 erörterten – Bericht des Facharztes E T vom 17.08.2010 (Bl. 244 d. A.) hat der Kläger sich nicht erklärt. Da der Kläger für das Vorliegen eines Versicherungsfalls beweisbelastet ist, gehen die verbleibenden Unklarheiten zu seinen Lasten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 1.659,00 €.