Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

19.02.2018 · IWW-Abrufnummer 199681

Bundessozialgericht: Urteil vom 09.02.1993 – 12 RK 26/90

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Tatbestand
1

Streitig ist, ob der Kläger ab 1. Januar 1984 in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig geworden ist.
2

Der Kläger war bei der Beigeladenen zu 2) vom 1. April 1976 bis zum 30. Juni 1984 als Apothekenhelfer beschäftigt und unterlag der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und der Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit. Wegen der Höhe des erzielten Arbeitsentgelts bestand bis einschließlich 1983 - auch unter Berücksichtigung eines in den letzten Jahren gezahlten 13. und 14. Monatsgehalts - keine Versicherungspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung. Am 21. Dezember 1983 erlitt der Kläger Gehirnblutungen und wurde arbeitsunfähig. Inzwischen bezieht er Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
3

Die Beigeladene zu 2) meldete den Kläger nach Erhöhung der Jahresarbeitsverdienstgrenze zum 1. Januar 1984 zur gesetzlichen Krankenversicherung bei der Beklagten an. Diese annullierte die Anmeldung mit Schreiben vom 20. Januar 1984 und teilte dem Kläger mit Bescheid vom 24. Juli 1984 mit, daß Versicherungspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung auch ab 1. Januar 1984 nicht gegeben sei; das für 1984 zu erwartende Jahresarbeitsentgelt werde die für dieses Jahr maßgebliche Jahresarbeitsverdienstgrenze in Höhe von 46.800,-- DM überschreiten. Er habe sich seit 1976 - mit Ausnahme des Jahres 1980 - den Jahresurlaub jeweils durch Zahlung eines 14. Monatsgehalts abgelten lassen. Für 1984 sei deshalb die Urlaubsabgeltung für den im Jahre 1983 nicht genommenen Urlaub bei der Ermittlung des regelmäßigen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) in Höhe eines 14. Monatsgehaltes mitzuberücksichtigen. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. April 1985).
4

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 30. März 1988 abgewiesen und im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei im Jahre 1984 nicht krankenversicherungspflichtig geworden, da die Urlaubsabgeltung dem JAV zuzurechnen sei. Die zwischen dem Kläger und der Beigeladenen zu 2) herrschende Praxis, den Urlaub abzugelten, verstoße zwar gegen ein arbeitsrechtliches Schutzgesetz. Da aber im Beitragsrecht auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen sei, sei maßgebend, daß der Bezug der Urlaubsabgeltung auch im Jahre 1984 vom Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als sicher habe angesehen werden können.
5

Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil sowie den angefochtenen Bescheid vom 24. Juli 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 1985 durch Urteil vom 8. Februar 1990 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Vereinbarung einer Urlaubsabgeltung für den gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) sei in einem bestehenden Arbeitsverhältnis wegen eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig. Deshalb sei es ausgeschlossen, bei der vorausschauenden Bestimmung des regelmäßigen JAV die Urlaubsabgeltung mitzuberücksichtigen. Der Kläger unterliege folglich ab 1. Januar 1984 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung.
6

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 165 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31. Dezember 1988 geltenden Fassung und der Grundsätze über die Berechnung des regelmäßigen JAV.
7

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1990 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 30. März 1988 zurückzuweisen.
8

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
9

Er hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig.
10

Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
Gründe
11

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Der Kläger ist im Jahre 1984 krankenversicherungspflichtig geworden, so daß der angefochtene Bescheid rechtlich keinen Bestand haben konnte. Sein regelmäßiges JAV überstieg in diesem Jahr nicht die damals für die Versicherungspflicht für Angestellte geltende JAV-Grenze.
12

Nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO, der bis zum 31. Dezember 1988 Gültigkeit hatte und ab dem 1. Januar 1989 durch entsprechende Vorschriften des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) ersetzt worden ist (vgl § 5 Abs 1 Nr 1, § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V), wurden Angestellte für den Fall der Krankheit versichert, wenn ihr regelmäßiger JAV 75 vH der für Jahresbezüge in der Rentenversicherung der Arbeiter geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs 2 RVO) - JAV-Grenze - nicht überstieg. Das Einkommen des Klägers überstieg diese Grenze zum Jahreswechsel 1983/84 nicht, weil bei der Errechnung des JAV eine Urlaubsabgeltung nicht zu berücksichtigen war.
13

Wie der für die Krankenversicherungspflicht maßgebliche regelmäßige JAV zu berechnen ist, regelt das Gesetz nicht. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl SozR 2200 § 165 RVO Nr 65, mwN) ist für den regelmäßigen JAV das (um die Familienzuschläge verminderte) Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung als Angestellter maßgebend, wie es im voraus für das kommende Kalenderjahr festzustellen ist. Der während des für die Ermittlung des JAV maßgebenden Jahres regelmäßig zu erwartende Verdienst ist nur der Verdienst, bei dem zu erwarten ist, daß er bei normalem Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird. Der regelmäßige JAV eines Beschäftigten mit festvereinbartem Entgelt wird in der Weise ermittelt, daß der vertragsmäßig zustehende Monatsverdienst mit zwölf vervielfacht wird. Ferner sind solche Bezüge zu berücksichtigen, deren Zahlung nach der bisherigen Übung auch künftig mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist (SozR aaO). Hiernach gehören zum regelmäßigen JAV grundsätzlich alle in der Regel, dh mit hinreichender Sicherheit, aus der Beschäftigung für die nächsten zwölf Monate zu erwartenden Einnahmen. Der Begriff des JAV entspricht damit im wesentlichen dem Begriff des Entgelts in § 14 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - <SGB IV> (SozR aaO).
14

Danach ist bei dem zu Beginn des Jahres 1984 zu erwartenden Entgelt aus der Tätigkeit des Klägers bei der Beigeladenen zu 2) nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG zunächst wie im Jahre 1983 von einem regelmäßigen Monatsentgelt in Höhe von 3.425,-- DM auszugehen. Auf das Jahr umgerechnet ergibt sich demnach ein Betrag von 41.100,-- DM. Diesem sind vermögenswirksame Leistungen in Höhe von 624,-- DM (12 x 52,-- DM) sowie ein weiteres Bruttomonatsentgelt als Weihnachtsgeld hinzuzurechnen. Nach den Feststellungen des LSG hatte die Beigeladene zu 2) dem Kläger hinsichtlich dieser Übung auch keine Veränderungen in der Zukunft angekündigt, so daß im Sinne der zitierten Rechtsprechung mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen war, daß auch im Jahre 1984 eine Weihnachtsgratifikation gezahlt werden würde, die deshalb bei der Bestimmung des JAV 1984 zu berücksichtigen ist. Bei Addition dieser Beträge ergibt sich ein voraussichtlicher JAV 1984 in Höhe von insgesamt 45.149,-- DM. Der Kläger ist somit krankenversicherungspflichtig geworden; denn dieser JAV übersteigt nicht die für das Jahr 1984 maßgebliche Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 46.800,-- DM. Ob steuerliche Vergünstigungen in Form eines Weihnachtsfreibetrages in Höhe von 100.-- DM dabei abzusetzen sind, kann dahingestellt bleiben.
15

Eine darüber hinaus zu zahlende "Urlaubsabgeltung" in Höhe eines 14. Monatsentgelts kann bei der erforderlichen vorausschauenden Betrachtungsweise jedenfalls zum Jahreswechsel 1983/84 nicht mit hinreichender Sicherheit bei der Feststellung des zu erwartenden JAV miteinbezogen werden.
16

Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hatte der Kläger zwar regelmäßig wiederkehrend seinen Urlaub "verkauft", indem er durchgehend gearbeitet und hierfür Arbeitsentgelt in Form eines 14. Monatsgehalts - in den letzten Jahren zusammen mit dem April-Gehalt - erhalten hatte. Auch im Jahre 1983 hatte der Kläger bis zu seiner Erkrankung am 21. Dezember 1983 keinen Urlaub genommen. Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 1984 blieb er arbeitsunfähig. Im Dezember 1984 erhielt er von der Beigeladenen zu 2) Urlaubsabgeltungszahlungen für 1983 und für den Zeitraum vom 1. Januar 1984 bis zum 30. Juni 1984.
17

Nach § 7 Abs 3 BUrlG muß der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muß der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Ein innerhalb dieser Frist nicht genommener Urlaub verfällt. Zum Jahreswechsel 1983/84 war deshalb grundsätzlich nicht auszuschließen, daß der - erkrankte - Kläger den Urlaub für 1983 noch vor dem 1. April 1984 antreten könnte.
18

Angesichts dieser Situation kann bei vorausschauender Bestimmung der aus dem Beschäftigungsverhältnis zu erwartenden Einnahmen nicht mit der hinreichenden Sicherheit davon ausgegangen werden, daß dem Kläger im April 1984 ein 14. Monatsgehalt für im Jahre 1983 nicht genommenen Urlaub gezahlt wird. Inwieweit solche Zahlungen gegen ein Abgeltungsverbot verstoßen, bedarf hier keiner Entscheidung. Der Senat läßt offen, ob - wie das LSG meint - allein eine Rechtswidrigkeit einer Urlaubsabgeltungsvereinbarung deren Miteinbeziehung in den zu erwartenden JAV entgegensteht.
19

Das Ergebnis fügt sich in die Rechtsprechung des Senats zu vergleichbaren Fragen ein. Er hat mit Urteil vom 7. Dezember 1989 (BSGE 66, 124 = BSG SozR 2200 § 165 Nr 97) entschieden, sehe ein gültiger Tarifvertrag bei Vollendung des 35. Lebensjahres eine höhere Vergütung vor, mit der die JAV-Grenze für das laufende Jahr überschritten werde, so führe dies nicht dazu, daß der regelmäßige JAV bereits in diesem Jahr die maßgebliche JAV-Grenze übersteigt. Die Änderung - ein "Überschreiten" der JAV-Grenze durch eine Erhöhung des regelmäßigen JAV - muß "tatsächlich eintreten", darf also nicht nur bevorstehen. Diese Voraussetzung hat der Senat bejaht in einem Fall, in dem es um die Berücksichtigung der Vergütung für vertraglich fest vereinbarten Bereitschaftsdienst ging (vgl BSG SozR 2200 § 165 Nr 65). Bei dieser Vergütung handelt es sich nämlich um einen bei Aufnahme der Tätigkeit mit hinreichender Sicherheit einplanbaren Gehaltsbestandteil. Hingegen fällt unter diesen Begriff des regelmäßigen JAV im allgemeinen nicht das durch Ableisten von Überstunden erzielte Einkommen. Denn der Angestellte hat, sofern die Überstunden nicht ausnahmsweise aufgrund bestimmter Vereinbarungen zu leisten sind, keinen mit hinreichender Sicherheit einplanbaren Anspruch auf Ableistung von Überstunden, diese sind vielmehr von der jeweiligen Situation des Betriebes, insbesondere seiner Auftragslage, abhängig, fallen mithin - jedenfalls typischerweise - unregelmäßig an.
20

Demnach war der Kläger im Jahre 1984 krankenversicherungspflichtig geworden, und die Revision der Beklagten konnte keinen Erfolg haben.
21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Vorschriften§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO § 1385 Abs. 2 RVO § 7 Abs. 3 BUrlG