25.07.2006 · IWW-Abrufnummer 062171
Bundesgerichtshof: Urteil vom 24.05.2006 – IV ZR 203/03
Die in der Gliedertaxe (§ 7 I (2) a) AUB 94) enthaltene Wendung "... Funktionsunfähigkeit eines Armes im Schultergelenk ..." ist unklar (§ 305c Abs. 2 BGB).
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 203/03
Verkündet am:
24. Mai 2006
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch die Richter Seiffert, Dr. Wolst, Wendt, die Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter Felsch auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2006
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 13. Juni 2003 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zu seinem Nachteil erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Invaliditätsleistungen aus einer bei ihr bestehenden Unfallversicherung in Anspruch. Vereinbart sind unter anderem eine Kapitalleistung von bis zu 200.000 DM sowie zusätzlich eine lebenslange monatliche Unfallrente von 2.000 DM. Dem Vertrag liegen die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 94) der Beklagten zugrunde, die hinsichtlich der Kapitalleistung wortgleich mit den bei Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. S. 2505 ff. abgedruckten AUB 94 in § 7 I AUB 94 unter anderem bestimmen:
"(2) Die Höhe der Leistung richtet sich nach dem Grad der Invalidität.
a) Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit
eines Armes im Schultergelenk|70%
eines Armes bis oberhalb des Ellenbogengelenks|65%
eines Armes unterhalb des Ellenbogengelenks|60%
einer Hand im Handgelenk|55%
eines Daumens|20%
eines Zeigefingers|10%
eines anderen Fingers|5%
eines Beines über der Mitte des Oberschenkels|70%
eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels|60%
eines Beines bis unterhalb des Knies|50%
eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels|45%
eines Fußes im Fußgelenk|40%
einer großen Zehe|5%
einer anderen Zehe|2%
...|
b) Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes nach a) angenommen.
..."
Nach den § 7 I AUB 94 erweiternden Besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit Unfall-Rente (UBB 809) wird die Rente gezahlt, wenn der nach § 7 I (2) und (3) AUB 94 zu bemessende Grad der Invalidität mindestens 50% beträgt.
Der Kläger, der als Waldarbeiter tätig war, wurde bei Baumfällarbeiten am 28. November 1997 vom Stamm eines umstürzenden Baumes auf der linken Körperseite getroffen. Er erlitt unter anderem folgende Verletzungen: Schulterblattbruch, Riss der Achselarterie, Armplexusschädigung, stumpfes Thoraxtrauma mit Rippenbrüchen und einen Oberschenkelbruch im Bereich der Hüfte.
Die von der Beklagten eingeholten Gutachten ergaben eine Funktionsbeeinträchtigung des linken Armes von 3/7 und des linken Beines von 1/30 (Invaliditätsgrad nach § 7 I (2) AUB 94 30% bzw. 2,33%). Die Beklagte zahlte an den Kläger nach einem Invaliditätsgrad von 32,334% insgesamt einen Kapitalbetrag von 64.668 DM. Die Leistung einer Unfallrente lehnte sie ab, weil der Invaliditätsgrad 50% nicht erreiche.
Der Kläger hat einen Gesamtinvaliditätsgrad von 60% bis 70% behauptet und - von 70% ausgehend - einen restlichen Kapitalbetrag von 75.332 DM sowie eine monatliche Rente von 2.000 DM ab dem 28. November 1997 eingeklagt.
Das Landgericht hat ein chirurgisches und ein neurologisches Fachgutachten eingeholt und diesen folgend eine Funktionsbeeinträchtigung des Armes von 2/3 und des Beines von 1/10 und dementsprechend einen Invaliditätsgrad von insgesamt 53,67% angenommen. Es hat die Beklagte unter Klagabweisung im Übrigen zur Zahlung eines weiteren Kapitalbetrages von 21.817,85 ¤ sowie antragsgemäß zur Zahlung der Rente verurteilt.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht den Kapitalbetrag auf 9.884,29 ¤ herabgesetzt und die weitergehende Klage einschließlich des Rentenanspruchs abgewiesen. Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
I. Das Berufungsgericht hat nach Anhörung der Sachverständigen eine Gesamtinvalidität von 42% angenommen (linker Arm: 1/2 von 70% = 35%, linkes Bein: 1/10 von 70% = 7%). Die vom Landgericht abweichende geringere Funktionsbeeinträchtigung des Armes hat das Berufungsgericht wie folgt begründet:
Der Schultergürtelbereich sei praktisch funktionsunfähig, weil der Kläger die Schulter und den Oberarm nicht mehr bewegen und gebrauchen könne. Der Unterarm und die Hand könnten jedoch mit Einschränkungen für die wesentlichen Funktionen noch eingesetzt werden. Die Gerichtssachverständigen gingen unter Berücksichtigung der oberen Armplexusschädigung und der noch vorhandenen Funktionsfähigkeit des Unterarmes und der Hand von einer als Obergrenze bezeichneten Funktionsbeeinträchtigung des Armes von etwas weniger als 3/4 aus, die Privatsachverständigen der Beklagten dagegen im Hinblick auf die Unterarm- und Handfunktionen nur von 3/7 bzw. 1/2. Unter Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte, insbesondere der nach der Gliedertaxe mit 55% hoch bewerteten Hand, sei auch unter Berücksichtigung bestehender Schmerz- und Kribbelempfindungen die Annahme eines hälftigen Armwertes gerechtfertigt.
II. Dieser Beurteilung ist nicht zu folgen. Ihr liegt ein rechtlich fehlerhaftes Verständnis der Gliedertaxe des § 7 I (2) a und b AUB 94 zugrunde.
1. a) Die Gliedertaxe bestimmt in § 7 I (2) a AUB 94 nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder - dem Verlust gleichgestellt - Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Gliedes (BGH, Urteil vom 17. Januar 2001 - IV ZR 32/00 - VersR 2001, 360 unter 2 a zu der gleichen Regelung in den AUB 88). Demgemäß beschreibt § 7 I (2) a AUB 94 abgegrenzte Teilbereiche eines Armes und Beines und ordnet jedem Teilbereich einen festen Invaliditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilgliedes steigt. Die Gliedertaxe stellt damit für den Verlust und für die Funktionsunfähigkeit der in ihr genannten Gliedmaßen oder deren Teilbereiche durchgängig allein auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ab (BGH, Urteile vom 23. Januar 1991 - IV ZR 60/90 - VersR 1991, 413 und vom 17. Oktober 1990 - IV ZR 178/89 - VersR 1991, 57 unter 3 b, jeweils zu § 8 II (2) a und b AUB 61).
Dieses Bewertungssystem ist, wie sich aus den vorstehend angeführten Senatsentscheidungen ergibt, auch für die Entscheidung über den Invaliditätsgrad bei teilweisem Verlust oder teilweiser Gebrauchsunfähigkeit gemäß § 8 II (3) Satz 2 AUB 61 maßgebend, der insoweit auf § 8 II (2) AUB 61 verweist. Sachlich übereinstimmend damit wird nach § 7 I (2) b AUB 94 und AUB 88 bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung der entsprechende Teil des Prozentsatzes nach Buchst. a angenommen.
b) Da das Berufungsgericht nicht hinreichend beachtet hat, dass es auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ankommt, hat es versäumt, der Frage näher nachzugehen, was unter Funktionsunfähigkeit des Armes im Schultergelenk zu verstehen ist.
aa) Die mit den AUB 94 und AUB 88 vereinbarten Gliedertaxen nehmen für den Fall des Verlustes oder - diesem gleichgestellt - der Funktionsunfähigkeit die Abgrenzung bestimmter Teilbereiche des Armes oder Beines unter anderem mit den Worten "eines Armes im Schultergelenk", "einer Hand im Handgelenk" und "eines Fußes im Fußgelenk" vor. Diese Formulierungen sind unterschiedlicher Auslegung zugänglich, soweit es um die Funktionsunfähigkeit geht. Sie geben Anlass zu Zweifeln, ob damit allein auf das Gelenk abzustellen ist oder auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenks unter Einbeziehung des körperfernen Gliedes oder Gliedteiles bis zum betroffenen Gelenk.
bb) Die Formulierung "Funktionsunfähigkeit ... eines Fußes im Fußgelenk" in § 7 I (2) a AUB 88 hat der Senat dahin ausgelegt, dass bei vollständiger Funktionsunfähigkeit im Gelenk der Invaliditätsgrad von 40% nach der Gliedertaxe unverrückbar feststehe (Urteil vom 17. Januar 2001, aaO unter 2). Die Erwägung des damaligen Berufungsgerichts, wegen noch erhaltener Restfunktionen des Fußes könne nicht von vollständiger Funktionsunfähigkeit des Fußes ausgegangen werden, hat er für unerheblich gehalten. Nach der Gliedertaxe sei insoweit allein entscheidend, dass nach sachverständiger Beurteilung Funktionen des Fußes im Fußgelenk vollständig aufgehoben seien. Das Vorhandensein des Fußes unterhalb des Fußgelenks bleibe nach der Gliedertaxe unbeachtlich, da diese die Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk dem Verlust gleichstelle.
cc) Zur Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk im Sinne von § 7 I (2) a AUB 88 hat das Oberlandesgericht Hamm (VersR 2002, 747) unter Hinweis auf das Senatsurteil vom 17. Januar 2001 (aaO) entschieden, die Bestimmung sei eindeutig dahin auszulegen, dass es allein auf die Funktionsunfähigkeit im Gelenk ankomme und nicht auf die Funktionsunfähigkeit des Teilgliedes Hand. Ob die Hand noch vorhanden sei und ob bzw. welche Funktionen erhalten geblieben seien, sei unerheblich. Gegen die Ansicht des Oberlandesgerichts Hamm und für die Bewertung der Funktionsunfähigkeit der Hand insgesamt haben sich Knappmann (VersR 2003, 430) und das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (VersR 2003, 495) ausgesprochen.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm zurückgewiesen (Urteil vom 9. Juli 2003 - IV ZR 74/02 - VersR 2003, 1163). Er hat seine Entscheidung jedoch nicht - wie das Oberlandesgericht - auf eine eindeutige Auslegung der Bestimmung gestützt. Unter Berücksichtigung der beachtlichen Gegenargumente ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass die in der Gliedertaxe gebrauchte Wendung "als feste Invaliditätsgrade gelten ... bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit ... einer Hand im Handgelenk 55%" nicht eindeutig ist, beide Auslegungen vertretbar sind, die sich aus der mehrdeutigen Formulierung "Hand im Handgelenk" ergebenden Zweifel sich aus der Sicht des um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers nicht überwinden lassen und deshalb nach §§ 5 AGBG, 305c Abs. 2 BGB von der für den Versicherungsnehmer günstigeren Auslegung auszugehen ist.
dd) Für die Funktionsunfähigkeit eines Armes im Schultergelenk f ührt die Auslegung aus den im Senatsurteil vom 9. Juli 2003 im Einzelnen dargelegten Erwägungen (aaO unter II 2) zu demselben Ergebnis (ebenso OLG Karlsruhe VersR 2006, 104; a.A. OLG Bamberg r+s 2003, 380 und OLG Frankfurt am Main VersR 2002, 560). Soweit dem Umstand, dass der Senat die Annahme der Revision gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (aaO) durch (nicht begründeten) Beschluss abgelehnt hat, etwas anderes entnommen werden könnte (Knappmann, aaO S. 431 und in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 7 AUB 94 Rdn. 24), wird daran nicht festgehalten.
Da der Versicherungsnehmer die Formulierung "eines Armes im Schultergelenk" auch so verstehen kann, dass auf die (volle oder teilweise) Funktionsunfähigkeit im Gelenk selbst abzustellen ist und nicht auf die Funktionsunfähigkeit des Armes insgesamt, ist nach §§ 5 AGBG, 305c Abs. 2 BGB diese ihm günstigere Auslegung maßgebend.
2. Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt ist der Invaliditätsgrad in den Tatsacheninstanzen bisher nicht beurteilt worden. Damit dies nachgeholt werden kann und die Parteien sich dazu äußern können, ist die Sache zurückzuverweisen. Der Maßstab für die Bemessung des Invaliditätsgrades ergibt sich, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat und die Revision verkennt, aus § 287 ZPO und nicht aus § 286 ZPO (vgl. Senatsurteil vom 12. November 1997 - IV ZR 191/96 - r+s 1998, 80 unter 4; Knappmann in Prölss/Martin, aaO Rdn. 5). Die Revision weist allerdings mit Recht darauf hin, dass das Berufungsgericht, soweit es von der Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen abweicht, seine eigene Sachkunde nicht dargelegt hat. Die bisherige Beurteilung der Sachverständigen, auch der Privatsachverständigen der Beklagten, deutet darauf hin, dass der Arm des Klägers im Schultergelenk völlig funktionsunfähig ist.