15.05.2012 · IWW-Abrufnummer 122009
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 22.02.2012 – 2 K 677/11
1. Die versehentlich unterlassene Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG ist keine offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO.
2. Die Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG (Antrag ermäßigter Steuersatz) ist keine neue Tatsache i. S. d. § 173 AO.
3. Der Steuerpflichtige muss sich das grobe Verschulden seines Steuerberaters zurechnen lassen, wenn dieser weder die von seiner Mitarbeiterin mittels eines DATEV-Programms erstellte Steuererklärung vor der Einreichung beim FA nachprüfte, noch anhand einer Überprüfung des Einkommensteuerbescheides erkennt, dass die beabsichtigte Beantragung der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG versehentlich unterblieben ist, noch rechtzeitig Einspruch einlegt, um eine Änderung des Bescheides zu Gunsten der Klägerin zu erreichen, so dass eine Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ausscheidet.
4. Das FA verletzt nicht seine Ermittlungspflicht, wenn es bei der Steuerfestsetzung hinsichtlich der Besteuerung des Veräußerungsgewinns der eindeutigen, von einem Steuerberater gefertigten Erklärung folgt und mangels Antrags den ermäßigten Steursatz nach § 34 Abs. 3 EStG der Besteuerung nicht zugrunde legt.
5. Da die Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG und der Antrag auf Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG nicht in einem inneren Zusammenhang stehen, verletzt das FA nicht seine Verpflichtungen aus § 89 AO, wenn es eine Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG nicht anregt.
6. Der nach Eintritt der formellen Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung gestellte Antrag auf Gewährung der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG ist kein Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, dem steuerliche Rückwirkung zukommt.
7. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a AO eröffnet nicht die Möglichkeit, die steuerliche Wirkung von Antragsrechten, die nur bis zur Bestandskraft der Steuerfestsetzung ausgeübt werden können, nach Eintritt dieses Zeitpunkts zu beseitigen.
8. Da der Antrag nach § 34 Abs. 3 S. 4 EStG nur einmal im Leben gestellt werden kann, kann nicht unterstellt werden, dass derjenige, der die vergünstigte Besteuerung geltend machen kann und alle Angaben hierzu macht, diese Tarifermäßigung auch geltend machen will, so dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO nicht in Betracht kommt.
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 2. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2012 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … ehrenamtliche Richter …
für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die formell bestandskräftige Festsetzung der Einkommensteuer für 2008 aufgrund eines erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gestellten Antrags auf ermäßigte Besteuerung nach § 34 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG – zu ändern ist.
Die Kläger sind zusammenveranlagte Eheleute. Die am … 1943 geborene Klägerin veräußerte zum 1. April 2008 ihre Arztpraxis und erzielte einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 64.149 EUR. Auf die – unstreitige – Berechnung des Gewinns in der Einkommensteuererklärung für 2008 wird vollinhaltlich Bezug genommen (Bl. 12 der Einkommensteuerakten für 2008).
Die Klägerin erklärte in der unter Mitwirkung eines steuerlichen Beraters erstellten Einkommensteuererklärung vom 19. August 2009 in der Anlage S (Selbständige Arbeit) den Veräußerungsgewinn in Höhe von 64.149 EUR und stellte den Antrag auf Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG (Bl. 6 der Einkommensteuerakten für 2008). Die Voraussetzungen hierfür waren erfüllt. Einen Antrag auf ermäßigte Besteuerung nach § 34 Abs. 3 Satz 1 EStG, dessen Voraussetzungen grundsätzlich ebenfalls erfüllt gewesen wären, stellte die Klägerin dagegen nicht.
Mit Einkommensteuerbescheid vom 29. Oktober 2009 für 2008 setze das Finanzamt die Einkommensteuer erklärungsgemäß fest, ohne dass der Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abgabenordnung – AO – angeordnet wurde. Die gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO wegen – das vorliegende Verfahren nicht betreffenden – Fragen vorläufige Einkommensteuerfestsetzung wurde nicht angefochten und mit Ablauf des 2. Dezember 2009 formell bestandskräftig.
Mit beim Finanzamt am 17. Dezember 2009 eingegangenem Schreiben vom 16. Dezember 2009 teilte der von den Klägern bevollmächtigte Steuerberater mit, dass bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung für 2008 versehentlich der ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG in Bezug auf die Besteuerung des von der Klägerin erzielten Veräußerungsgewinns nicht beantragt worden sei. Dies sei darauf zurückzuführen, dass seine äußerst fachkundige Mitarbeiterin bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung mittels eines DATEV-Programms zwar die Ziffer 1 für die Beantragung des Freibetrags gemäß § 16 Abs. 4 EStG, nicht jedoch in Zeile 3 des Programms die Ziffer 1 für den Antrag des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG gesetzt habe. Da das Programm nicht automatisch auf eine Eintragung in Zeile 3 zur Beantragung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG hinweise, habe sie die fehlende Antragstellung übersehen. Dieser Fehler sei erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist für die Steuerfestsetzung für 2008 entdeckt worden, da diese der – fehlerhaften – Antragstellung entsprochen habe. Es handele sich um ein mechanisches Versehen, das gemäß § 129 AO berichtigt werden könne. Es werde daher um eine entsprechende Änderung der Einkommensteuerfestsetzung gebeten.
Das Finanzamt lehnte die beantragte Änderung des Einkommensteuerbescheides mit Bescheid vom 10. Februar 2010 ab. Es führte aus, dass eine Änderung nach § 129 AO nicht in Betracht komme, da ein Rechtsanwendungsfehler nicht vollumfänglich auszuschließen sei. Das Vorliegen der Voraussetzungen anderer Änderungsvorschriften sei nicht ersichtlich.
Der hiergegen am 12. Februar 2010 eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2011 als unbegründet zurückgewiesen, da die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 129 AO nicht erfüllt seien. Eine offenbare Unrichtigkeit liege nicht vor, wenn der Steuerpflichtige es versäume, Anträge zu antragsabhängigen Steuervergünstigungen zu stellen. Die Finanzbehörde könne den Angaben des Steuerpflichtigen in der Einkommensteuererklärung Glauben schenken, wenn keine greifbaren Umstände vorlägen, die darauf hindeuteten, dass seine Angaben falsch oder unvollständig seien. Der Antrag auf ermäßigte Besteuerung gemäß § 34 Abs. 3 EStG könne im Leben nur einmal in Anspruch genommen werden. Die Entscheidung, ob und wann der Steuerpflichtige den Antrag stelle, liege nicht in der Entscheidungskompetenz des Finanzamts. Diesbezüglich bestehe für das Finanzamt auch keine Hinweispflicht, zumal die Kläger steuerlich beraten gewesen seien.
Mit der am 18. Februar 2011 erhobenen Klage halten die Kläger weiter an ihrem Begehren fest und lassen durch ihren Bevollmächtigten ergänzend vortragen: Dem Finanzamt sei positiv bekannt gewesen, dass die Klägerin seit Jahrzehnten ausschließlich in ihrer ärztlichen Einzelpraxis tätig gewesen sei. Es habe auch Kenntnis davon gehabt, dass sie nach Erreichen der Altersgrenze die Praxis veräußert habe und dass weitere unternehmerische Tätigkeiten, die unter die Begünstigung des § 34 Abs. 3 EStG fallen könnten, nicht existierten. Es habe auch keinen denkbaren Anlass für eine unterschiedliche Behandlung der Steuerbegünstigungen nach § 16 Abs. 4 EStG und § 34 Abs. 3 EStG gegeben. Werde in einem solchen Fall die Gewährung des Freibetrags wegen Betriebsveräußerung nach § 16 Abs. 4 EStG beantragt, jedoch die Beantragung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG unterlassen, liege offenkundig ein Schreibversehen vor, das einer Berichtigung nach § 129 AO zugänglich sei.
Abgesehen davon, sei in dem nachträglichen Bekanntwerden eines diesbezüglichen Versehens eine neue Tatsache zu sehen, das einen Anspruch auf Änderung des Bescheides zu Gunsten der Klägerin nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO begründe. Der Einkommensteuererklärung habe unter sachgerechter Würdigung aller Umstände nur der Inhalt entnommen werden können, dass auch der ermäßigte Steuersatz habe beantragt werden sollen. Außerdem habe das Finanzamt selbst eingeräumt, dass ihm nicht bekannt gewesen sei, ob die Klägerin den ermäßigten Steuersatz bereits in Anspruch genommen habe bzw. noch in Anspruch nehmen könne. Auch dieser Umstand sei eine neue Tatsache im Sinne des § 173 AO. Da es sich um einen schlichten Schreibfehler handele, treffe die Klägerin an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache auch kein grobes Verschulden.
Das Finanzamt hätte bei sachgerechter Wahrnehmung seiner gemäß § 89 Abs. 1 AO bestehenden Fürsorgepflicht den steuerlichen Vertreter der Klägerin auf den fehlenden Antrag hinweisen und eine Antragstellung anregen müssen. Dem Finanzamt hätte sich bei dem gegebenen Sachverhalt ohne weiteres aufdrängen müssen, dass beim Ausfüllen des Erklärungsvordrucks versehentlich die Antragstellung unterblieben sei. Das Finanzamt sei daher verpflichtet gewesen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren oder den Bescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid vom 10. Februar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2011 aufzuheben und das Finanzamt zu verpflichten, den ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 Abs. 3 EStG zu berücksichtigen und den Einkommensteuerbescheid für 2008 vom 29. Oktober 2009 entsprechend zu ändern.
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Finanzamt verweist zur Begründung seines Antrags auf die Einspruchsentscheidung und trägt hierzu ergänzend vor:
Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Bescheides nach § 129 AO lägen nicht vor, da beim Erlass des Steuerbescheides keine offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO unterlaufen sei. § 129 AO greife nicht, wenn der Steuerpflichtige es versäume, einen Antrag für eine antragsabhängige Steuervergünstigung zu stellen. Eine offenbare Unrichtigkeit liege außerdem dann nicht vor, wenn mehr als die theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums bestehe. Dies sei vorliegend der Fall, da ein Rechtsirrtum hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen für eine ermäßigte Besteuerung vorliegen, nicht auszuschließen sei.
Auch eine Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht möglich, da nach der Steuerfestsetzung keine neue Tatsache bekannt geworden sei. Die Betriebsaufgabe durch die Klägerin sei zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt gewesen. Nicht zweifelsfrei bekannt gewesen sei lediglich die Frage, ob nicht bereits die ermäßigte Besteuerung von der Klägerin in Anspruch genommen worden sei. Dies sei jedoch für die Veranlagung mangels Antragstellung nicht rechtserheblich gewesen. Der Sachbearbeiter habe aufgrund des fehlenden Antrags nach § 34 Abs. 3 EStG nicht anders entscheiden können. Zudem müsse sich die Klägerin das grob fahrlässige Verhalten ihres Steuerberaters bei der einmaligen Antragstellung zurechnen lassen, so dass auch aus diesem Grund die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht vorliegen würden.
Das Finanzamt sei auch nicht nach § 89 Abs. 1 AO verpflichtet gewesen, die Kläger auf die Möglichkeit der ermäßigten Besteuerung hinzuweisen. Das Finanzamt habe bei einer von einem Steuerberater erstellten Steuererklärung davon ausgehen können, dass beabsichtigt gewesen sei, lediglich den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG zu beantragen. Die Betreuungspflicht des Finanzamts greife nur ein, wenn sich die Fehlerhaftigkeit aufdränge und es davon ausgehen müsse, dass der Beteiligte bei Kenntnis aller Rechte und Pflichten eine andere, zweckmäßigere Erklärung abgegeben hätte. Im vorliegenden Fall genüge bereits der Hinweis auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme des ermäßigten Steuersatzes im amtlichen Vordruck der behördlichen Betreuungspflicht. Wenn dieser eindeutige Hinweis vom Steuerberatungsbüro nicht beachtet werde, könne dem Finanzamt nicht mangelnde Beratung vorgeworfen werden.
Zudem seien der Freibetrag im Sinne von § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG und die ermäßigte Besteuerung gemäß § 34 EStG nicht zwangsläufig aneinander gekoppelt. So sei eine ermäßigte Besteuerung nach § 34 EStG nicht allein für Veräußerungsgewinne vorgesehen, sondern es bestünden auch weitere Möglichkeiten für eine Inanspruchnahme des ermäßigten Steuersatzes. Eine Ermäßigung nach § 34 Abs. 3 Satz 4 EStG könne nur einmal im Leben beansprucht werden. Es könne danach nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin den Antrag bereits in früheren Jahren gestellt habe und ein erneuter Antrag deshalb ausgeschlossen gewesen sei. Ein Grund für die Nichtbeantragung der ermäßigten Besteuerung sei somit ohne weiteres denkbar und ein bewusster Verzicht auf die Antragstellung nicht auszuschließen gewesen.
Am 21. Dezember 2011 hat die Berichterstatterin die Streitsache mit den Beteiligten erörtert.
Am 22. Februar 2012 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Senat statt; auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom gleichen Tag wird Bezug genommen.
Dem Gericht lagen bei seiner Entscheidung die Kläger betreffend zwei Bände Rechtsbehelfsakten, ein Band Einkommensteuerakten und ein Band Betriebsprüfungsakten vor.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Ablehnungsbescheid vom 10. Februar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2011 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Das Finanzamt hat zu Recht den Antrag der Klägerin, den Einkommensteuerbescheid für 2008 vom 29. Oktober 2009 unter Berücksichtigung des ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 Abs. 3 EStG zu ändern, abgelehnt. Es war nicht verpflichtet, diesen Bescheid nach § 129 AO zu berichtigen bzw. nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern.
1. a) Nach § 129 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten im Sinne dieser Vorschrift müssen einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlich sein, d. h. es muss sich um mechanische Fehler handeln. Ist die mehr als nur theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums, Denkfehlers bei der Sachverhaltswürdigung oder einer unvollständigen Sachaufklärung gegeben, liegt kein mechanisches Versehen und damit keine offenbare Unrichtigkeit vor (ständige Rechtsprechung, z. B. Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, Bundessteuerblatt – BStBl – II 1984, 785; vom 28. November 1985 IV R 178/83, BStBl II 1986, 293). Die Entscheidung, ob eine offenbare Unrichtigkeit in diesem Sinne vorliegt, ist nach den Verhältnissen des Einzelfalls, vor allem nach der Aktenlage zu treffen (Urteil des BFH vom 15. März 1994 XI R 78/92, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 1995, 937).
b) Die Einkommensteuerfestsetzung für 2008 enthält hinsichtlich der Besteuerung des Veräußerungsgewinns der Klägerin keine offenbare Unrichtigkeit. Sie kann deshalb nicht nach § 129 AO berichtigt werden.
Zwar steht der Fehlerhaftigkeit der Festsetzung nicht entgegen, dass der Bescheid der unrichtigen Steuererklärung entsprach, in der versehentlich der ermäßigte Steuersatz nach § 34 Abs. 3 EStG nicht beantragt wurde. Denn eine offenbare Unrichtigkeit kann auch dann vorliegen, wenn das Finanzamt eine in der Steuererklärung enthaltene offenbare, d. h. für das Finanzamt „erkennbare” Unrichtigkeit als eigene übernimmt (Urteile des BFH vom 25. Februar 1972 VIII R 141/71, BStBl II 1972, 550, sowie vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, a. a. O.). Dies setzt jedoch voraus, dass sich die Unrichtigkeit ohne weiteres aus der Steuererklärung des Steuerpflichtigen, deren Anlagen sowie den in den Akten befindlichen Unterlagen für das betreffende Veranlagungsjahr ergibt (BFH Urteil vom 27. Mai 2009 X R 47/08, BFHE 226, 8; BStBl II 2009, 946).
Eine solche offenbare Unrichtigkeit ist vorliegend nicht gegeben. Den von den Klägern mit der Einkommensteuer eingereichten Unterlagen war nicht zu entnehmen, ob die Absicht und die rechtliche Möglichkeit bestand, die ermäßigte Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG zu beantragen. Danach wäre die Unrichtigkeit der Erklärung für den zuständigen Bearbeiter des Finanzamts nur erkennbar gewesen, wenn er entweder bei der Klägerin nachgefragt hätte, ob sie bereits zuvor den Antrag nach § 34 Abs. 3 EStG gestellt hatte, oder zur Klärung dieser Frage die Steuererklärungen der Vorjahre zugezogen hätte. Eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, vom Sachbearbeiter jedoch unterlassene Sachverhaltsermittlung ist kein mechanisches Versehen. Sie schließt die Berichtigung einer offenbare Unrichtigkeit aus (Urteile des BFH v. 18. April 1986 VI R 4/83, BStBl II 1986, 541, 544, und vom 31. Juli 1990 I R 116/88, BStBl II 1991, 22). Vorliegend bestand zudem die mehr als nur theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums, so dass auch aus diesem Grund keine offenbare Unrichtigkeit vorliegt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 5. Februar 1998 IV R 17/97, BFHE 185, 345, BStBl II 1998, 535).
2. Das Finanzamt hat zu Recht eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO abgelehnt.
a) Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteil vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960) ist die Stellung eines Antrags keine neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, sondern eine Verfahrenshandlung, die nicht zu einer Änderung berechtigt. Allerdings ist der einer Steuervergünstigung zugrunde liegende Sachverhalt eine neue Tatsache, wenn er erstmals nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung aufgrund eines nachträglich gestellten Antrags bekannt wird (vgl. BFH Urteil vom 30. Oktober 2003 III R 24/02, BStBl II 2004, 394).
Grobes Verschulden i. S. v. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Ma ße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (Urteil des BFH vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BStBl II 2001, 379, m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO die Angaben in der Steuererklärung wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen hat. Dazu gehört, dass er den Erklärungsvordruck gewissenhaft durchliest und ausfüllt. Auch ein steuerrechtlich nicht vorgebildeter Steuerpflichtiger handelt daher i. d. R. grob fahrlässig, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht (richtig) beantwortet (Urteile des BFH vom 9. August 1991 III R 24/87, BStBl II 1992, 65, sowie vom 4. Februar 1993 III R 78/91, BFH/NV 1993, 641, jeweils mit weiteren Nachweisen).
b) Danach sind die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht gegeben. Es ist bereits zweifelhaft, ob dem Finanzamt nachträglich eine neue Tatsache bekannt geworden ist. Dem Sachbearbeiter des Finanzamts war zum Zeitpunkt der Veranlagung bekannt, dass die Klägerin am … 1943 geboren war, dass sie ihre Praxis zum 1. April 2008 auf ihren Nachfolger übertragen und einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 64.149 DM erzielt hatte. Lediglich unbekannt war, ob die Klägerin die Ermäßigung nach § 34 Abs. 3 EStG bereits in Anspruch genommen hatte. Selbst wenn man hinsichtlich dieser Frage von einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache ausginge, lägen die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht vor, weil das nachträgliche Bekanntwerden dieser neuen Tatsache auf einem groben, den Klägern zuzurechnenden Verschulden ihres Steuerberaters beruht. Auch der mit der Ausarbeitung der Steuererklärung betraute steuerliche Berater muss sich um eine sachgemäße und gewissenhafte Erfüllung der Erklärungspflicht bemühen. Dabei sind an ihn erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen. Insbesondere muss von Angehörigen der steuerberatenden Berufe die Kenntnis und sachgerechte Anwendung der einschlägigen steuerrechtlichen Bestimmungen erwartet werden (Urteil des BFH vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BStBl II 1983, 324).
Vorliegend hat der steuerliche Berater der Klägerin seine ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise dadurch verletzt, dass er weder die von seiner Mitarbeiterin mittels eines DATEV-Programms erstellte Steuererklärung vor der Einreichung beim Finanzamt nachprüfte, noch anhand einer Überprüfung des Einkommensteuerbescheides für 2008 vom 29. Oktober 2009 erkannte, dass die beabsichtigte Beantragung der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG versehentlich unterblieben war, noch rechtzeitig Einspruch einlegte, um eine Änderung des Bescheides zu Gunsten der Klägerin zu erreichen (BFH Urteil vom 4. Februar 1993 III R 78/91, BFH/NV 1993, 641). Dieses grob schulhafte Verhalten ihres Steuerberaters muss sich die Klägerin zurechnen lassen (BFH-Urteile vom 24. März 1987 X R 66/81, BFH/NV 1988, 411 und vom 24. Januar 2002 IX B 120/01, juris; Urteil des Senats vom 21. September 2005 2 K 396/02, juris).
Das von dem Klägervertreter u.a. zitierte Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Dezember 2010, Entscheidungen des Finanzgerichts – EFG – 2011, 685 hält der Senat für auf den Streitfall nicht anwendbar, da vorliegend der Eingabefehler nicht dem Steuerpflichtigen selbst unterlaufen ist, sondern dem von den Klägern mit der professionellen Erstellung der Steuererklärung beauftragen Steuerberater, den eine gegenüber dem Steuerpflichtigen erhöhte Sorgfaltspflicht trifft.
c) Das grobe Verschulden der Kläger wird auch nicht durch mögliche Versäumnisse des Finanzamts ausgeschlossen (Urteile des BFH vom 9. August 1991 III R 24/87, BStBl II 1992, 65; vom 4. Februar 1993 III R 78/91, a. a. O., vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441). Es kann daher grundsätzlich dahinstehen, ob sich dem Finanzamt – wie der Klägervertreter meint – nach dem Inhalt der Einkommensteuererklärung die Überlegung hätte aufdrängen müssen, dass die Stellung des Antrags nach § 34 Abs. 3 EStG versehentlich unterblieben war.
3. Das Gericht sieht sich aufgrund der Vorhaltungen des Klägervertreters dennoch dazu veranlasst, darauf hinzuweisen, dass nach seiner Auffassung das Finanzamt weder seine Aufklärungsplicht nach § 88 Abs. 1 AO noch seine Fürsorgepflicht nach § 89 Satz 1 AO verletzt hat:
a) Das Finanzamt verletzt seine Ermittlungspflicht nach § 88 AO nur, wenn es ersichtlichen Unklarheiten oder Zweifelsfragen, die sich bei einer Prüfung der Steuererklärung sowie der eingereichten Unterlagen ohne weiteres aufdrängen mussten, nicht nachgeht. Dabei braucht die Behörde Steuererklärungen nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen (BFH-Urteil vom 5. Dezember 2002 IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588, BFH-Urteil vom 7. Juli 2004 XI R 10/03, BFHE 206, 303; BStBl II 2004, 911; BFH-Urteil vom 28. Juni 2006 XI R 58/05, BFHE 214, 319; BStBl II 2006, 835). Berücksichtigt man zudem, dass den Steuerpflichtigen, der eine Steuervergünstigung mit erheblichen finanziellen Auswirkungen beantragt, eine erhöhte Mitwirkungspflicht trifft (BFH-Beschluss vom 9. Mai 1969 III B 36/68, BFHE 96, 296; BStBl II 1969, 627) ist vorliegend eine Verletzung der Ermittlungspflicht des Finanzamts, das bei der Steuerfestsetzung hinsichtlich der Besteuerung des Veräußerungsgewinns der eindeutigen, von einem Steuerberater gefertigten Erklärung der Kläger folgte, nicht gegeben.
b) Es liegt auch keine Verletzung des § 89 Abs. 1 AO vor. Danach soll die Finanzbehörde die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Im Streitfall war der Fehler bei der Antragstellung jedoch nicht offensichtlich. Die von der Klägerin beantragte Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG und der Antrag auf Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG stehen nicht in einem inneren Zusammenhang, so dass die Finanzverwaltung nicht darauf schließen konnte, dass von der Klägerin auch die Antragstellung nach § 34 Abs. 3 EStG beabsichtigt war. Bei den an die Fürsorgepflicht der Finanzverwaltung zu stellenden Anforderungen ist im Streitfall darüber hinaus zu berücksichtigen, dass in dem amtlichen Vordruck für die Erklärung zur Einkommensteuererklärung 2008 in der Anlage S in der Zeile 16 nachgefragt wird, ob für den Veräußerungsgewinn der ermäßigte Steuersatz des § 34 Abs. 3 EStG wegen Vollendung des 55. Lebensjahres beantragt wird. Dass der Steuerberater für die Steuererklärung nicht den amtlichen Vordruck, sondern ein DATEV-Programm verwendete, bei dessen Bedienung seiner Mitarbeiterin der Eingabefehler unterlief, kann somit nicht dem Finanzamt angelastet werden.
4. Bei der nach Eintritt der formellen Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung für 2008 vorgenommenen Antragstellung auf Gewährung der ermäßigten Besteuerung handelt es sich auch nicht um ein Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, dem steuerliche Rückwirkung zukommt. Der Antrag ist lediglich formelle Voraussetzung für die Berücksichtigung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 3 EStG und kein gesetzliches Tatbestandsmerkmal und hat danach keine materielle Rückwirkung. Materiell setzt der ermäßigte Steuersatz nach § 34 Abs. 3 EStG einerseits außerordentliche Einkünfte und andererseits die Vollendung des 55. Lebensjahres voraus. Der zusätzlich erforderliche Antrag hat danach allein verfahrensmäßige Bedeutung. Der Antrag muss daher vor Eintritt der formellen Bestandskraft gestellt werden (vgl. BFH-Urteile vom 21. April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863; BFH-Urteil vom 14. Mai 2009 IV R 6/07, BFH/NV 2009, 1989 m.w.N).
5. Ebenso scheidet die Anwendung des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO aus, weil diese Korrekturnorm nicht die Möglichkeit eröffnet, die steuerliche Wirkung von Antragsrechten, die nur bis zur Bestandskraft der Steuerfestsetzung ausgeübt werden können, nach Eintritt dieses Zeitpunkts zu beseitigen (BFH-Urteil vom 4. November 2004 III R 73/03, BFHE 207, 327; BStBl II 2005, 290).
6. Der Klägerin war auch nicht nach § 110 AO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumnis der Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO) zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist unter Umständen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn das Finanzamt einen konkludenten Antrag übergeht und auch im Steuerbescheid keinen Hinweis darauf gibt (BFH-Urteil vom 30. Oktober 2003 III R 24/02, BStBl II 2004, 394). Dies gilt jedoch nur dann, wenn unterstellt werden kann, dass derjenige, der eine steuerliche Vergünstigung geltend machen kann und alle Angaben hierzu macht, diesen auch geltend machen will und das Gesetz keinen ausdrücklich gestellten Antrag vorsieht. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da der Wortlaut des § 34 Abs. 3 Satz 1 EStG eine vergünstigte Besteuerung der außerordentlichen Einkünfte nur „auf Antrag” vorsieht. Da der Antrag nach § 34 Abs. 3 Satz 4 EStG zudem nur einmal im Leben gestellt werden kann, kann auch nicht unterstellt werden, dass derjenige, der die vergünstigte Besteuerung geltend machen kann und alle Angaben hierzu macht, diese Tarifermäßigung auch geltend machen will.
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
8. Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der hierfür in § 115 Abs. 2 FGO abschließend aufgezählten Gründe vorliegt.