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10.08.2012 · IWW-Abrufnummer 122475

Landgericht Dortmund: Urteil vom 24.05.2012 – 2 O 319/10

Bei einem im Dezmber 2007 beantragten und im Januar 2008 geschlossenen Versicherungsvertrag kann der VR die Rechte nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG nur ausüben, wenn der VN gem. § 19 Abs. 5 S. 1 VVG auf die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat.


Landgericht Dortmund

2 O 319/10

Tenor:

Es wird festgestellt, dass der Krankenversicherungsvertrag, Versicherungsnummer 00.000.000/1/1, nicht wirksam durch die Vertragsänderung vom 21.04.2010 gemäß § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG rückwirkend angepasst worden ist.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, unter Beachtung der Vertragsbedingungen die Behandlungskosten gemäß eingereichtem kieferorthopädischem Behandlungsplan (KFO) vom 02.10.2010 über 5307,78 Euro zu tragen hat.

Die Kosten des Rechtstreits trägt nach einem Streitwert von bis zu 7000 Euro die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbarem Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höher Sicherheit leistet.

T a t b e s t a n d

Am 30.12.2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Krankenversicherung für ihre im Jahre 2000 geborene Tochter. Die Gesundheitsfragen wurden im Wesentlichen verneint, unter anderem diejenige nach einer Zahn- oder Kieferfehlstellung bzw. nach Durchführung oder Beabsichtigung einer kieferorthopädischen Behandlung. Die Beklagte nahm den Antrag im Jahre 2008 an. Ende April 2009 empfahl die die Tochter der Klägerin behandelnde Zahnärztin nach Anfertigung von Röntgenbildern die Konsultation einer Kieferorthopädin, die im Oktober 2009 die Einleitung einer kieferorthopädischen Behandlung empfahl. Den Behandlungsplan reichte die Klägerin bei der Beklagten ein, die im Zuge der Leistungsprüfung in Erfahrung brachte, dass die Tochter der Klägerin im April 2007 in zahnärztlicher Behandlung war. Wegen des dabei erhobenen Befundes sah die Beklagte die vorvertragliche Anzeigepflicht für verletzt und nahm mit Schreiben vom 21.04.2010 eine Vertragsanpassung in Form der rückwirkenden Einführung eines Leistungsausschlusses für die Behandlung von Zahn- und Kieferfehlstellungen vor und lehnte eine Kostenerstattung für die beabsichtigte KFO-Behandlung deshalb ab.

Die Klägerin sieht die vorvertragliche Anzeigepflicht nicht verletzt, da weder eine Zahnfehlstellung noch die Notwendigkeit einer kieferorthopädischen Behandlung bei Antragstellung bekannt gewesen sei, da noch ein Milchgebiss vorgelegen habe. Deshalb sollte nach dem Rat der behandelnden Zahnärztin im Jahre 2007 der Beginn des Zahndurchbruchs abgewartet werden, bevor über eine mögliche kieferorthopädische Behandlung entschieden werden sollte.

Mit der Klage begehrt die Klägerin Feststellung der Unwirksamkeit der Vertragsanpassung und der Kostenerstattungspflicht der Beklagten gemäß dem KFO-Plan vom 02.10.2010.

Die Klägerin beantragt,

1.

es wird festgestellt, dass der Krankenversicherungsvertrag, Versicherungsnummer 76.748.802/1/1, nicht wirksam durch die Vertragsänderung vom 21.04.2010 gemäß § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG rückwirkend angepasst worden ist;

2.

es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, unter Beachtung der Vertragsbedingungen des streitgegenständlichen Krankenversicherungsvertrages die Kosten gemäß dem eingereichten kieferorthopädischen Behandlungsplan (KFO) vom 02.10.2010 in Höhe von 5307,78 Euro zu tragen hat.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer vorgerichtlich geäußerten Auffassung fest und verweist auf die tariflichen Leistungsbeschränkungen. Außerdem geht sie von Vorvertraglichkeit des Versicherungsfalles aus.

Das Gericht hat die Klägerin gemäß § 141 ZPO angehört und zur Vorvertraglichkeit ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 29.03.2012, wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme auf das Gutachten des Sachverständigen L vom 26.11.2011, wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die Klage ist begründet.

Die von der Beklagten vorgenommene rückwirkende Vertragsanpassung in Form der Einführung eines Risikoausschlusses ist unwirksam, weil die Beklagte die Klägerin bei Antragstellung nicht auf die Rechtsfolgen einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat. Die Beklagte ist auch verpflichtet, im bedingungsgemäßen Umfang Kostenerstattung für eine kieferorthopädische Behandlung der Tochter der Klägerin gemäß KFO-Plan vom 02.10.2010 zu übernehmen, weil der Versicherungsfall während der Vertragslaufzeit eingetreten ist und somit keine Vorvertraglichkeit vorliegt.

1.

Die Beklagte war nicht berechtigt, gemäß § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG eine Anpassung des geschlossenen Krankenversicherungsvertrages in Form der rückwirkenden Einführung eines Risikoausschlusses vorzunehmen, weil sie die Klägerin bei Antragstellung nicht auf die Folgen einer Anzeigeverletzung hingewiesen hat, sodass ihr die Rechte nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG nicht zustehen, § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG. Das VVG 2008 und damit auch dessen § 19 findet auf den streitgegenständlichen Versicherungsvertrag Anwendung, weil der Vertrag im Jahre 2008 geschlossen worden ist. Die Ausnahmen, die Art. 1 EGVVG für die Fortgeltung des alten Rechts vorsieht, greifen nicht ein. Aus der Geltung des VVG 2008 folgt, dass der Versicherer gemäß § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG die aus einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht folgenden Rechte nur geltend machen kann, wenn er bei Antragstellung durch gesonderte Mitteilung in Textform auf die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat. Dieser Hinweis ist unstreitig nicht erfolgt, weil das von der Beklagten noch am 30.12.2007 verwendete Antragsformular keine Belehrung vorsieht und die Beklagte die Klägerin vor Annahme des Antrages auch nicht mehr über die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung belehrt hat. Entgegen der Auffassung der Beklagten war der Hinweis nach § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG nicht deswegen entbehrlich, weil der Antrag noch im Jahre 2007, mithin unter Geltung des alten VVG, gestellt worden ist. Diese Auffassung wird allerdings vertreten mit der Begründung, dass das neue VVG bei Antragstellung noch nicht galt und die vom VVG 2008 vorgegebene Belehrung sinnvollerweise nicht nachgeholt werden könne, da der Versicherungsnehmer mit einem solchen nachträglichen Hinweis nicht mehr zur Erfüllung seiner Anzeigepflicht angehalten werden könne (Marlow/Spuhl, Das neue VVG kompakt, 4. Auflage, Randnummer 226; Härle in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar VVG, 2. Auflage, § 19 Randnummer 152). Diese Auffassung überzeugt nicht. Die Risikoprüfung des Versicherers, als deren Bestandteil die Beantwortung der Risikofragen durch den Versicherungsnehmer zu betrachten ist, war bei Inkrafttreten des VVG 2008 noch nicht abgeschlossen. Dem Versicherer wäre es vor Annahme des Antrags im Jahre 2008 möglich gewesen, die Belehrung nach § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG nachzuholen, nachdem er erkannt hatte, dass die Annahme des Antrags zur Anwendbarkeit des VVG 2008 führen musste. Die Beklagte hätte die Klägerin ohne weiteres darauf hinweisen können, dass nunmehr ein anderes Gesetz gilt als bei Antragstellung und dass sie, die Beklagte, nunmehr gezwungen war, auf die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung hinzuweisen, wenn sie die Rechte nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG in Anspruch nehmen wollte. Nach Auffassung des Gerichts wäre damit der Beklagten weder etwas Unzumutbares abverlangt noch eine Überforderung auferlegt worden, da die in der Übergangsphase zwischen Geltung des alten und des neuen VVG angebahnten Verträge nicht so zahlreich gewesen sein dürften, dass der Versicherer in diesen Fällen nicht noch einen nachträglichen Hinweis auf die Rechtsfolgen einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung hätte geben können, wenn er denn diesen Hinweis nicht ohnehin schon im Antragsformular vorgesehen hat, weil absehbar war, dass der Vertrag nur unter Geltung des VVG 2008 zustande kommen würde (vgl. Tschersich, r+s 2012, 53, 55). Dabei hat das Gericht auch berücksichtigt, dass sich die Beklagte im Antragsformular den Empfang der Verbraucherinformationen Januar 2008 sowie der AVB 2008 hat bestätigen lassen. Dieser Hinweis auf die bereits auf das VVG 2008 abgestimmten Vertragsunterlagen weist das Bewusstsein der Beklagten aus, dass sie mit dem Zustandekommen des Vertrages die Vorschriften des VVG 2008 einzuhalten hatte. Wenn sie unter diesen Umständen davon abgesehen hat, die nach § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG vorgeschriebene Belehrung über die Folgen der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht dem Antrag beizufügen, war sie zumindest gehalten, die Klägerin vor Annahme des Antrags über diese Rechtsfolgen aufzuklären, damit die Klägerin gegebenenfalls unzutreffende Angaben korrigieren konnte. Eine in den Verbraucherinformationen, AVB, enthaltene Belehrung genügt dem gesetzlichen Anforderungen nicht (OLG, Hamm VersR 2011, 469).

Da die Beklagte mithin bereits wegen Fehlens des nach § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG erforderlichen Hinweises nicht berechtigt war, eine Vertragsanpassung zu verlangen, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Klägerin mindestens fahrlässig ihre Anzeigepflicht deswegen verletzt hat, weil sie eine Zahnfehlstellung nicht angegeben hat, da ihr –wie sie bei ihrer Anhörung angegeben hat- von der behandelnden Zahnärztin einer solcher Befund nicht genannt worden ist. Denn in der Krankenversicherung kann wegen § 194 Abs. 1 Satz 3 VVG nur die schuldhafte, nicht aber die schuldlose Anzeigepflichtverletzung den VR zu einer Vertragsanpassung berechtigen.

2.

Die Beklagte ist auch verpflichtet, die Behandlungskosten gemäß KFO-Plan vom 02.10.2010 zu tragen, weil die Klägerin bewiesen hat, dass der Versicherungsfall innerhalb der Vertragslaufzeit eingetreten ist. Der dazu vom Gericht beauftragte Sachverständige L hat - von der Beklagten nicht angegriffen - festgestellt, dass die Kiefer- und Zahnprobleme, die die kieferorthopädische Behandlung erforderlich machen, in keinem Zusammenhang stehen mit den Diagnosen, die die Zahnärztin der Tochter der Klägerin im Jahre 2007 gestellt hat. Es handelt sich damit um einen neuen Versicherungsfall, für den die Beklagte im bedingungsgemäßen Ausmaß eintrittspflichtig ist, da - wie unter 1. ausgeführt - auch der von ihr eingefügte Risikoausschluss für Zahn- und Kieferfehlstellungen nicht eingreift.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und deren Abwendung auf § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.