· Fachbeitrag · Verfahrensrecht
Aktuelle Praxisprobleme bei der Berechnung der Festsetzungsfrist
von StB Jürgen Derlath, Münster
| Aktuelle Entscheidungen der Steuergerichte zeigen, dass neben dem materiellen Steuerrecht vertiefte Kenntnisse des teilweise komplizierten steuerlichen Verfahrensrechts für die Beratungspraxis unerlässlich sind. Einen Kernbereich des Verfahrensrechts bilden die Regelungen über die Festsetzungsverjährung (§ 169 ff. AO). Wir nehmen dies zum Anlass, auf aktuelle Praxisprobleme im Zusammenhang mit den sog. An- und Ablaufhemmungen aufmerksam zu machen. |
1. Grundsätzliches zur Festsetzungsverjährung
Der Lauf der Festsetzungsfrist ist entscheidende Vorbedingung für die Anwendung von Berichtigungsvorschriften nach Eintritt der Bestandskraft (§ 169 Abs. 1 S. 1 AO). Nach Ablauf der Frist kann weder eine Änderung zugunsten noch zulasten des Mandanten erfolgen. Für die Fristberechnung sind wichtig: Der Beginn des Fristlaufs (§ 170 AO), die Dauer der Frist (§ 169 Abs. 2 AO) und der Fristablauf (§ 171 AO).
1.1 Fristbeginn
Der Fristbeginn hängt - jedenfalls für den Bereich der Ertragsteuern und der Umsatzsteuer - entscheidend davon ab, ob eine Steuererklärung oder -anmeldung einzureichen ist.
- Besteht die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung oder -anmeldung, bestimmt sich der Fristbeginn nach § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO (Ausnahme) mit dem Ablauf des Jahres der Abgabe der Steuererklärung bzw. der Einreichung der Steueranmeldung, spätestens jedoch mit dem Ablauf des dritten Kalenderjahres nach Steuerentstehung. Die Steuer entsteht in der Regel mit Ablauf des betreffenden Kalenderjahres.
- Besteht keine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung oder -anmeldung, greift der Grundsatz des § 170 Abs. 1 AO: Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist.
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A ist Rentner, seine Ehefrau B Arbeitnehmerin. Sie geben Ende 2014 eine Einkommensteuererklärung für 2010 ab.
Die ESt 2010 entsteht mit Ablauf des 31.12.10, der Drei-Jahres-Zeitraum des § 170 Abs. 2 AO endet mit Ablauf des 31.12.13, d.h. die Festsetzungsfrist beginnt unabhängig von der Erklärungsabgabe mit Ablauf des 31.12.13. |
1.2 Dauer und Ablauf der Frist
Die regelmäßige Fristdauer beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO). Sie verlängert sich auf fünf Jahre im Falle der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) bzw. auf zehn Jahre bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO).
Mit der Bestimmung des Fristbeginns und der -dauer steht das regelmäßige Ende der Festsetzungsverjährungsfrist fest. Zu beachten ist hier aber in jedem Fall der umfangreiche Katalog der Ablaufhemmungen des § 171 AO. Ist ein Tatbestand dieser Vorschrift - vor dem regelmäßigem Fristende - erfüllt, kann sich der Fristablauf ggf. um viele Jahre verzögern.
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2. Aktuelle Entwicklungen bei An- und Ablaufhemmungen
Die Steuergerichte haben sich 2015 immer wieder mit Problemen im Bereich der An- und Ablaufhemmungen befassen müssen. Hier folgen die für die Praxis wichtigsten Probleme.
2.1 An- und Ablaufhemmungen bei Antragsveranlagungen
Die Besonderheit bei Antragveranlagungen i.S. von § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG besteht darin, dass mangels Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung die Festsetzungsfrist mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres beginnt (§ 170 Abs. 1 AO) und regelmäßig vier Jahre später endet. Nur bis dahin kann ein Antrag auf Veranlagung noch gestellt werden.
PRAXISHINWEIS | Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass bei der Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG - anders als in Fällen der Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG - die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO nicht anwendbar ist (vgl. BVerfG 18.9.13, 1 BvR 924/12, HFR 13, 1157). |
Das FG Hamburg (30.4.15, 1 K 264/13, NZB BFH VI B 68/15) hatte sich mit der Rechtsfrage zu befassen, ob eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung durch eine verbindliche Aufforderung durch das Finanzamt gemäß § 149 Abs. 1 S. 2 AO entstehen kann. Danach ist im Einzelfall durch Auslegung (nach dem Empfängerhorizont!) zu ermitteln, ob das Finanzamt durch die Aufforderung eine Abgabepflicht originär begründen will oder ob der Empfänger lediglich an eine - z.B. in den Vorjahren bestehende - gesetzliche Erklärungspflicht erinnert werden soll.
Grundsätzlich läuft eine Festsetzungsfrist nicht ab, solange die Steuerfestsetzung wegen höherer Gewalt innerhalb der letzten sechs Monate des Fristlaufs nicht erfolgen kann (§ 171 Abs. 1 AO).
PRAXISHINWEIS | Kein Fall höherer Gewalt i.S. dieser Ablaufhemmung des § 171 AO ist gegeben bei verlorengegangenen Steuerunterlagen durch eine Umzugsfirma (vgl. FG Hamburg 30.4.15, 1 K 264/13, NZB beim BFH unter VI B 68/15). |
Das FG Thüringen (17.12.14, 4 K 402/12, Rev. BFH: VI R 14/15) hat zudem drei weitere strittige Fragen im Zusammenhang mit der Antragsveranlagung wie folgt entschieden:
- § 108 AO (z.B. Ablaufhemmung des Abs. 3 für Fristende am Sonnabend, Sonntag oder Feiertag) ist auf die Erklärung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG, für die keine gesetzliche/ausdrückliche Erklärungspflicht besteht, nicht anzuwenden.
- Eine Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3 AO kommt bei der Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nur in Betracht, wenn der Antrag auf Steuerveranlagung vor Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt worden ist.
- Für einen Antrag auf Steuerveranlagung nach Ablauf der Festsetzungsfrist kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) nicht in Betracht.
PRAXISHINWEIS | Bei entsprechenden Streitigkeiten mit dem Finanzamt sollten Sie unter Hinweis auf das oben genannte Revisionsverfahren betroffene Ablehnungsbescheide mit dem Einspruch anfechten und das Ruhen des Verfahrens bis zur höchstrichterlichen Entscheidung beantragen! |
2.2 Ablaufhemmung durch Außenprüfung
Konfliktanfällig sind in der Praxis häufig die Anforderungen, die an den Beginn einer Außenprüfung zu stellen sind. Nach der Rechtsprechung des BFH setzt der Beginn der Außenprüfung i.S. von § 171 Abs. 4 S. 1 AO den Erlass einer Prüfungsanordnung und die Vornahme - wenn auch nur stichprobenweise - tatsächlicher Prüfungshandlungen für die in der Anordnung genannten Steuerarten und Besteuerungszeiträume voraus (vgl. etwa BFH 31.8.11, I B 9/11, BFH/NV 11, 2011).
Es sind ernsthafte und qualifizierte Ermittlungshandlungen des Prüfers erforderlich, die für den Steuerpflichtigen erkennbar darauf gerichtet sind, den für die richtige Anwendung der Steuergesetze wesentlichen Sachverhalt zu ermitteln oder zu überprüfen. Dabei muss es sich um Maßnahmen handeln, die für den Steuerpflichtigen als Prüfungshandlungen erkennbar sind und geeignet erscheinen, sein Vertrauen in den Ablauf der Verjährungsfrist zu beseitigen (nicht bei bloßen Vorbereitungshandlungen!). Bereits ein informatives Gespräch des Prüfers mit dem Steuerpflichtigen oder seinem Bevollmächtigen kann den Beginn der Außenprüfung darstellen (vgl. BFH 18.2.09, V R 82/07, BStBl. II 09, 876).
PRAXISHINWEIS | Bei einem Antrag auf Verschiebung des Beginns der Außenprüfung entfällt die zunächst mit dem Antrag herbeigeführte Ablaufhemmung allerdings nach dem Rechtsgedanken des § 171 Abs. 8 S. 3 AO rückwirkend dann, wenn die Finanzbehörde nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Eingang des Antrags mit der Prüfung beginnt (so aktuell FG Hamburg 18.6.15, 2 K 158/14, Rev. BFH IX R 34/15). Zur Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist bei mehrfachen Verlegungsanträgen des Steuerpflichtigen und zwischenzeitiger Untätigkeit des Außenprüfers siehe auch FG Niedersachsen 14.1.15, 4 K 26/15. |
Die durch den Beginn einer Außenprüfung ausgelöste Ablaufhemmung greift jedoch nicht, wenn eine Außenprüfung unmittelbar nach ihrem Beginn für die Dauer von mehr als sechs Monaten aus Gründen unterbrochen wird, die die Finanzbehörde zu vertreten hat (§ 171 Abs. 4 S. 2 AO).
PRAXISHINWEIS | Keine relevante Unterbrechung liegt vor, wenn erste verwertbare Ergebnisse vorliegen. Auf die Höhe der steuerlichen Auswirkung kommt es nicht an (so aktuell FG Hamburg 18.6.15, 2 K 158/14, Rev. BFH IX R 34/15). |
2.3 Fristablauf durch Anfechtung eines nichtigen Verwaltungsaktes
Der Ablauf der Feststellungsfrist wird nicht nach § 181 Abs. 1 i.V. mit § 171 Abs. 3a AO durch Anfechtung gehemmt, wenn der angefochtene Verwaltungsakt nichtig ist. Nur ein rechtswirksamer Bescheid ist geeignet, die Festsetzungsfrist zu wahren und eine Ablaufhemmung herbeizuführen. Diese Problematik ergibt sich in der Praxis häufig bei Bekanntgabemängeln des Finanzamts (vgl. etwa zu Ablauf und Hemmung der Festsetzungsfrist bei Missachtung einer Bekanntgabevollmacht: FG Baden-Württemberg 22.1.15, 12 K 3631/12, NZB BFH IX B 29/15).
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Während bei der gesonderten und einheitlichen Feststellung die Feststellungsfrist gegenüber allen Feststellungsbeteiligten durch die Bekanntgabe gegenüber nur einem Beteiligten gewahrt wird (gilt auch für Gesellschafter, die aus der Gesellschaft ausgeschieden sind, sowie nach Auflösung der Gesellschaft), ist ein negativer Feststellungsbescheid an die Steuerpflichtigen zu richten, deren Begehren auf Feststellung der Besteuerungsgrundlagen mit dem Bescheid abgelehnt wird. Ist der negative Feststellungsbescheid wegen fehlerhafter Bezeichnung des Inhaltsadressaten gegenüber dem zutreffenden Inhaltsadressaten unwirksam, wahrt er die Feststellungsfrist des § 181 Abs. 1 S. 1 i.V. mit § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO nicht (vgl. FG Hamburg 11.3.15, 2 K 194/13 mit Anm. Fink, EFG 15, 1166 ff.). |
2.4 Festsetzungsverjährung bei strafbarem Bezug von Kindergeld
Umstritten war, wie lange zurück die Familienkasse zu Unrecht erhaltenes Kindergeld zurückfordern kann. Der BFH hat nun aktuell entschieden, dass die Festsetzung des Kindergeldes nachträglich aufgehoben werden kann, wenn es ein Kindergeldberechtigter, der fortlaufend Kindergeld bezieht, unterlässt, der Familienkasse den Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen mitzuteilen. Begeht er dadurch eine Steuerordnungswidrigkeit, so ist der Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 7 AO bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung, die erst mit der letztmals zu Unrecht erlangten Kindergeldzahlung beginnt, gehemmt (BFH 26.6.14, III R 21/13, BFH/NV 15, 248).
2.5 Festsetzungsfrist für Stromsteuervergütungsansprüche
Das FG Düsseldorf hat aktuell geklärt, dass der Vergütungsantrag nach § 9b StromStG keine Steueranmeldung darstellt, für deren Abgabe eine gesetzliche Verpflichtung besteht (27.5.15, 4 K 1961/14 VSt, NZB BFH VII B 87/15). Die Festsetzungsfrist für Stromsteuervergütungsansprüche beginnt nach § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahrs, für das die Steuervergütung begehrt wird und in dem der jeweilige Vergütungsanspruch durch die Entnahme des Stroms entstanden ist. Sie beträgt ein Jahr.
2.6 Festsetzungsverjährung bei Eigenheimzulage
Für Altfälle im Bereich der Eigenheimförderung könnte das Urteil des FG Köln relevant sein. Danach entsteht der Anspruch auf Eigenheimzulage mit dem Beginn der Nutzung der Wohnung zu eigenen Wohnzwecken und für die weiteren Jahre des Förderzeitraums jeweils mit dem Beginn des Kalenderjahres, für das eine Eigenheimzulage festzusetzen ist. Daher beginnt die Festsetzungsverjährung gemäß § 170 Abs. 1 AO für jedes einzelne Jahr des Förderzeitraums mit Ablauf des jeweiligen Förderjahres, so dass für jedes einzelne Förderjahr eine eigenständige Verjährungsfrist zu beachten ist. Eine Pflicht, wonach das Finanzamt die aus einer Mitteilung nach § 12 Abs. 2 EigZulG über die Nutzungsänderung zu ziehenden Konsequenzen innerhalb einer vierjährigen Verjährung umzusetzen hätte, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen (FG Köln 23.4.15, 11 K 3371/14, EFG 15, 1331).
2.7 Festsetzungsfrist bei Verletzung der Anzeigepflicht eines Notars
Die Verjährungsfrist für die Festsetzung der Grunderwerbsteuer verlängert sich gegenüber dem Steuerpflichtigen nicht auf fünf Jahre, wenn der Notar die ihm gemäß § 18 GrEStG obliegende Anzeigepflicht leichtfertig verletzt (BFH 3.3.15, II R 30/13).
2.8 Keine Hinzuziehung oder Beiladung bei Festsetzungsverjährung
Geklärt ist nun auch, bis wann ein Dritter - z.B. in Fällen einheitlich und gesonderter Feststellungen - zum Verfahren eines Steuerpflichtigen hinzugezogen (Einspruchsverfahren) oder beigeladen (Klageverfahren) werden kann und in Folge bei ihm ggf. negativen Folgen je nach Ausgang des Einspruchs- oder Klageverfahren umgesetzt werden können. Der BFH hat entschieden, dass das im Hinzuziehen eines Dritten liegende Zurückdrängen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zugunsten der Rechtsrichtigkeit nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Dritte vor Ablauf der Festsetzungsfrist der gegen ihn gerichteten steuerlichen Ansprüche hinzugezogen oder beigeladen wird (BFH 12.2.15, V R 42/14, BFH/NV 15, 945).