18.10.2013
Finanzgericht Sachsen-Anhalt: Urteil vom 10.09.2013 – 4 K 951/12
1. Nach dem Wegfall des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG in der Fassung vor Ergehen des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 enthält das
EStG für den Kindergeldanspruch ab 2012 neben den grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 S. 1 EStG keine
weiteren Voraussetzungen mehr, insbesondere sind keine Grenzbeträge hinsichtlich eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes mehr
einzuhalten und kommt es nicht mehr auf eine „typische Unterhaltssituation” an.
2. Für den Kindergeldanspruch für eine volljährige ledige Tochter mit einem eigenen Kind ist es daher ab 2012 unerheblich,
ob die Tochter einen eigenen Unterhaltsanspruch gegen den mit ihr nicht zusammenlebenden Kindsvater hat und ob ein sog. Mangelfall
vorliegt (gegen DA 31.2.3 FamEStG Stand 2013).
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat das Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt – 4. Senat – ohne mündliche Verhandlung am 10. September 2013 durch den Vorsitzenden
Richter am Finanzgericht …, die Richterin am Finanzgericht …, den Richter am Finanzgericht …, die ehrenamtliche Richterin
… und den ehrenamtlichen Richter …
für Recht erkannt:
Der Ablehnungsbescheid vom 25. Juni 2012 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 13. August 2012 werden aufgehoben
und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger für seine Tochter für den Zeitraum April 2012 bis August 2012 Kindergeld in gesetzlicher
Höhe zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung
in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils
zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kindergeldfestsetzung für die Tochter des Klägers, geboren Mai 1989. Die Tochter ist ledig
und hat ein eigenes Kind. Bis August 2012 befand sich die Tochter in Ausbildung zur Friseurin. Der letzte Prüfungstag war
der 31. August 2012.
Mit Antrag vom 5. April 2012 beantragte der Kläger für seine Tochter Kindergeld. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid
vom 25. Juni 2012 mit der Begründung ab, dass die Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht
erfüllt seien und dass aufgrund der Nichtvorlage der Einkommensnachweise des Vaters des Enkelkindes nicht geprüft werden könne,
ob nicht mehr die Eltern des Kindes, sondern der Vater des Enkelkindes nach § 1615 I Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zum Unterhalt
verpflichtet sei.
Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruchsverfahren die am 12. September 2012 erhobene Klage. Der Kläger vertritt
die Ansicht, dass die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld vorliegen würden und dass die Tochter keine Einkünfte
erzielt habe, die den gesetzlich festgelegten Grenzbetrag überschreiten würden. Insbesondere habe die Tochter gegenüber dem
Kindeskindsvater keinen Anspruch auf Unterhaltsleistungen nach § 1615 I BGB und sei er, der Kläger, als Elternteil weiterhin
zum Unterhalt verpflichtet. Die Tochter habe zu keinem Zeitpunkt mit dem Kindeskindsvater in einer Haushaltsgemeinschaft zusammengelebt
und von diesem auch keinen Unterhalt erhalten. Zudem sei nach der Gesetzesänderung seit dem 1. Januar 2012 das erzielte Nettoeinkommen
der Tochter nicht mehr zu berücksichtigen. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung sei der Kindergeldanspruch unabhängig vom
Einkommen der Tochter gegeben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2012 in Gestalt des Einspruchsbescheides vom 13. August 2012 aufzuheben und die Beklagte
zu verpflichten, an den Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe für das Kind ab April 2012 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen und
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Beklagte stellt dar, dass der Grundtatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG bis August 2012 nachgewiesen sei. Sie
ist jedoch der Ansicht, dass ein Anspruch auf Kindergeld nur dann bestehe, wenn der Kläger nachweise, dass der eigentlich
vorrangig Unterhaltsverpflichtete – hier der Kindeskindsvater – aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage
sei, seiner Verpflichtung zur Sicherung des Kindesunterhaltes nachzukommen, so genannter Mangelfall. Da die hierzu notwendigen
Einkommensnachweise nicht vorgelegt worden seien, scheide ein Anspruch auf Kindergeld aus. Die Mangelfallprüfung sei nach
der Dienstanweisung der Familienkassen (DA 31.2.3 DA-FamEStG Stand 2013) auch nach der Neufassung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 (BGBl. I S. 2131) weiterhin vorzunehmen. Das verfügbare Nettoeinkommen der Tochter
übersteige den Grundfreibetrag des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG, so dass ein Anspruch auf Kindergeld nicht bestehe.
Dem Senat hat die Kindergeldakte der Beklagten vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet nach § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
Der Senat legt das Klagebegehren des Klägers dahingehend aus, dass er Kindergeld für den Zeitraum seiner Antragstellung (April
2012) bis zum Ende der Ausbildung seiner Tochter (August 2012) beantragt. Für den Folgezeitraum ist ein Anspruch auf Kindergeld
nicht ersichtlich und wurde vom Kläger auch nicht dargelegt. Zudem ist der Senat in zeitlicher Hinsicht an die Bekanntgabe
der Einspruchsentscheidung im August 2012 gebunden. Die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung bindet nur bis zum Ende des Monats
der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (vgl. BFH Urteil vom 05.07.2012 V R 58/10, BFH/NV 2012, 1953; Urteil vom 22.12.2011
III R 41/07, BStBl II 2012, 681).
Die insoweit zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der beantragten Kindergeldfestsetzung ist rechtswidrig und verletzt
den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Kläger hat für den Zeitraum April bis August 2012 einen Anspruch
auf Kindergeld für seine Tochter. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Kindergeld gemäß §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG sind erfüllt, da die Tochter des Klägers das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet
und sich in Ausbildung befunden hat.
Dass ein Kindergeldanspruch wegen der Berufsausbildung der Tochter dem Grunde nach besteht, ist zwischen den Beteiligten zu
Recht unstreitig. Streitig ist lediglich die Ansicht der Beklagten, dass auch nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in
der Fassung vor Ergehen des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 weiterhin eine so genannte Mangelfallprüfung durchzuführen ist.
Neben den grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 für den Bezug von Kindergeld enthält das EStG keine
weiteren Voraussetzungen, insbesondere sind keine Grenzbeträge hinsichtlich eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes mehr einzuhalten.
Die Höhe der Ausbildungsvergütung der Tochter bzw. ihr Bezug von Berufsausbildungsbeihilfe ist für den Kindergeldanspruch
nicht maßgeblich, da die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31. Dezember 2011 gültigen Fassung (EStG a. F.) enthaltene
Regelung eines so genannten Grenzbetrages zum 1. Januar 2012 entfallen ist (Art. 1 Nr. 17 Buchstabe a), Art. 18 Abs. 1 des
Steuervereinfachungsgesetzes 2011 vom 1. November 2011, BGBl. I 2011, S. 2131 ff.).
Gleiches gilt für einen möglichen Unterhaltsanspruch der Tochter gegen den Vater ihres Kindes nach §§ 1615 I BGB, der bis
2011 zu den maßgeblichen Einkünften und Bezügen gehörte. Der Senat lässt deshalb dahingestellt, ob die Tochter ggf. einen
Anspruch nach § 1615 I BGB gegenüber dem Kindeskindsvater hatte bzw. ob ein solcher Unterhalt überhaupt gezahlt wurde.
Die Einkünfte des Kindeskindsvaters sind für den Kindergeldanspruch des Klägers nämlich nicht von Bedeutung. Ob ein so genannter
„Mangelfall” vorliegt, ist unerheblich, weil der Umstand, dass die Tochter ein eigenes Kind hat, dem Kindergeldanspruch nicht
entgegensteht. Für Kinder mit eigenen Kindern sieht das Gesetz keinerlei Einschränkungen vor. Der Kindergeldanspruch setzt
entgegen der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) keine „typische Unterhaltssituation” voraus. Nach diesem
ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal war ein Kindergeldanspruch nicht gegeben, wenn ein Kind verheiratet war und kein sog. „Mangelfall”
vorlag (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 19.4.2007 III R 65/06, BStBl II 2008, 756) oder das Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachging
(vgl. z.B. BFH-Urteile vom 20.7.2006 III R 78/04, BFH/NV 2006, 2248 und III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249).
Das Erfordernis des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der „typischen Unterhaltssituation” hat der BFH in seiner neueren
Rechtsprechung – jedenfalls für die Fälle der Vollzeitbeschäftigung – ausdrücklich aufgegeben (BFH-Urteile vom 17.6.2010 III
R 34/09, BStBl II 2010, 982; vom 27.1.2011 III R 57/10, BFH/NV 2011, 1316; und vom 22.12.2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927;
III R 65/10, BFH/NV 2012, 929; III R 67/10, BFH/NV 2012, 930; III R 93/10, BFH/NV 2012, 932 und III R 66/10, BFH/NV 2012,
1301). Zur Begründung führt der BFH aus, dass eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der
Berücksichtigungstatbestände sei. Die Frage, ob ein Kind typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen seiner Eltern angewiesen
ist, sei nach der gesetzlichen Regelung erst im Rahmen der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
a. F.) zu prüfen.
Der Senat schließt sich der geänderten Rechtsprechung an. Mangels gesetzlicher Regelung kann das Fehlen einer typischen Unterhaltssituation
einen nach dem Gesetz bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen. Daran hat sich mit dem Wegfall der Prüfung der eigenen
Einkünfte und Bezüge des Kindes zum 1. Januar 2012 nichts geändert. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung ist Kindergeld
nunmehr bei Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren.
Dabei hat der Gesetzgeber eine Ausweitung der Begünstigungsfälle bewusst in Kauf genommen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs
soll diese Ausweitung den Umfang der begünstigten Fälle nicht wesentlich erweitern. Der Wegfall des Grenzbetrages soll vielmehr
zu einer erheblichen Entlastung von Eltern, volljährigen Kindern, Familienkassen und Finanzämtern führen (Bundestags-Drucksache
17/5125, S. 41). Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation, die sich durch die Höhe des eigenen Einkommens des Kindes
ausdrückt, ist bereits nicht mehr gesetzliche Voraussetzung. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung liefe das Erfordernis eines
ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals „typische Unterhaltssituation” zuwider. Hätte der Gesetzgeber den Kindergeldanspruch für
verheiratete Kinder oder Kinder mit eigenen Kindern und einem Unterhaltsanspruch gegen den Kindeskindsvater ausschließen wollen,
hätte er einen entsprechenden Ausschlusstatbestand eingeführt (vgl. zu verheirateten Kindern: FG Münster Urteil vom 30.11.2012
4 K 1569/12 Kg, EFG 2013, 298; FG Münster Gerichtsbescheid vom 24.04.2013 5 K 3297/12 Kg, Revision eingelegt Az. des BFH:
III R 22/13, StED 2013, 392; Sächsisches Finanzgericht Urteil vom 13.06.2013 2 K 458/13 (Kg), Revision eingelegt Az. des BFH:
III R 34/13, juris; FG Köln Urteil vom 16.07.2013 9 K 935/13, juris; vgl. zu Unterhaltsanspruch nach § 1615 I BGB: Sächsisches
Finanzgericht Urteil vom 26.06.2013 2 K 470/13 (Kg), Revision anhängig Az. des BFH: III R 37/13, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung
folgt aus den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Kindergeldberechtigung für Kinder mit eigenen Kindern nach
Wegfall des Grenzbetrags zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO). Zudem widerspricht die Entscheidung einer bundesweit geltenden Verwaltungsanweisung
(DA 31.2.3 FamEStG Stand 2013).