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  • 18.10.2013

    Finanzgericht München: Urteil vom 20.02.2013 – 9 K 3405/12

    1. Nach dem Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes zum 1.1.2012 ist Kindergeld nunmehr bei Vorliegen
    eines Berücksichtigungstatbestandes – unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes – zu gewähren.


    2. Die Berücksichtigung verheirateter Kinder ist nicht (mehr) von einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal „typische Unterhaltssituation”
    abhängig. Einkünfte des Ehegatten des Kindes stehen der Berücksichtigung des Kindes daher nicht entgegen.


    IM NAMEN DES VOLKES


    Urteil

    In der Streitsache


    hat der 9. Senat des Finanzgerichts München durch den Vorsitzenden Richter des Finanzgerichts …, den Richter am Finanzgericht
    … und die Richterin am Finanzgericht … sowie der ehrenamtlichen Richter … ohne mündliche Verhandlung am 20. Februar 2013 für
    Recht erkannt:


    1. Der Kindergeldaufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 3. September 2012 und die Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober
    2012 werden aufgehoben.


    2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.


    3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in
    Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit
    in derselben Höhe leistet.


    Tatbestand

    Streitig ist, ob der Klägerin für die Zeit ab Januar 2012 Kindergeld für A., geboren 1988, zusteht.

    Die Großmutter von A. erhielt auf ihren Antrag Kindergeld für ihre Enkelin zuletzt aufgrund der Kassenanordnung vom 17. Oktober
    2008. Mit Beschluss des Amtsgerichts-Vormundschaftsgericht – vom 8. Mai 2009 Az. 721 XVI 9390/08 nahm die Klägerin A. auf
    deren beiderseitigen Antrag als Kind an. Der Beschluss wurde mit Zustellung am 19. Mai 2009 wirksam. Die Agentur für Arbeit
    X. – Familienkasse – (Beklagte) verfügte die Weiterzahlung von Kindergeld am 21. Juli 2009.


    Mit Veränderungsmitteilung vom 20. März 2012 teilte die Klägerin der Familienkasse mit, dass A. seit 8. August 2011 verheiratet
    sei und bis zum 31. Dezember 2011 in ihrem Haushalt gelebt habe. Die Familienkasse stellte die Zahlung von Kindergeld mit
    Verfügung vom 23. Mai 2012 ein und sandte der Klägerin einen Fragebogen hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge von A. bis 31.
    Dezember 2011 zu und bat um eine Prognose für 2012. Diesbezüglich teilte die Klägerin mit Schreiben vom 16. Juli bzw. 21.
    August 2012, auf die Bezug genommen wird, mit, dass der Ehemann im Jahr 2011 Einnahmen i.H.v. 710 EUR gehabt habe und im Jahr
    2012 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.H.v. voraussichtlich 51.000 EUR und aus selbständiger Arbeit i.H.v. voraussichtlich
    3.000 EUR haben werde.


    Daraufhin hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 3. September 2012 ab Januar 2012 auf und forderte
    Kindergeld für den Zeitraum vom Januar bis einschließlich Mai 2012 i.H.v. 920 EUR zurück.


    Den dagegen eingelegten Einspruch, den die Klägerin damit begründete, dass es nach der aktuellen Gesetzesfassung aufgrund
    des Wegfalls des Grenzbetrags an einer entsprechenden Rechtsgrundlage für die Anrechnung des Einkommens des Ehemannes fehle,
    wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober 2012, auf die Bezug genommen wird, als unbegründet zurück.


    Hiergegen richtet sich die Klage, mit der die Klägerin weiterhin die Aufhebung des Kindergeldaufhebungs- und Rückforderungsbescheides
    begehrt. Zur Begründung trägt sie vor, sie habe Anspruch auf Kindergeld für das Kind A., da diese sich in Ausbildung befinde
    und das 25. Lebensjahr noch nicht überschritten habe. Weitere Voraussetzungen enthalte das Gesetz nicht. Eine Einkommens-
    und Vermögensprüfung finde seit dem 1. Januar 2012 nicht mehr statt. Das Gesetz setze auch nicht voraus, dass das Kind unverheiratet
    sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den §§ 74 Abs. 1, 76 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG). Diese setzten eine
    Unterhaltssituation zwar voraus, besagten aber nicht, dass Kindergeld nur an unterhaltsverpflichtete Eltern gezahlt würde.
    Der Gesetzgeber habe trotz des Wissens, dass Rechtsprechung und Verwaltung § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG einschränkend
    dahingehend ausgelegt haben, dass die Vorschrift eine typische Unterhaltssituation der Eltern erfordere, eine uneingeschränkte
    Abschaffung der Einkommensprüfung gewollt. Eine Einschränkung könne auch nicht im Rahmen einer Typisierung von Seiten der
    Verwaltung erfolgen. Dies bleibe allein dem Gesetzgeber vorbehalten. Derzeit fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für
    eine Einkommensüberprüfung bei verheirateten Kindern.


    Ergänzend wird auf den Schriftsatz vom 8. Oktober 2012 Bezug genommen.

    Die Klägerin beantragt,

    der Kindergeldaufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 3. September 2012 und die Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober
    2012 werden aufgehoben.


    Die Beklagte beantragt

    Klageabweisung.

    Sie bezieht sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, bei der Besteuerung
    der Eltern dürfe ein Einkommensbetrag i.H. des sächlichen Existenzminimums sowie des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs ihrer
    Kinder nicht besteuert werden. Dies erfolge in der Regel durch das monatlich festgesetzte und ausgezahlte Kindergeld. Mit
    der Eheschließung falle jedoch die Unterhaltsverpflichtung der Eltern weg. Für eine Entlastung der Eltern im Wege des Familienleistungsausgleichs
    bestehe dann kein Bedarf mehr. Eine Zahlung von Kindergeld erfolge nur noch im sog. Mangelfall, der hier nicht gegeben sei.
    Dies gelte unabhängig davon, dass der Gesetzgeber ab 2012 auf die Berechnung der Einkünfte und Bezüge des Kindes verzichtet
    habe. Die Neuregelung sei ausweislich der Gesetzesbegründung nur aus Vereinfachungsgründen erfolgt. Der Grundgedanke, eine
    typische Unterhaltssituation der Eltern auszugleichen, sei damit jedoch nicht aufgegeben worden. Dies zeige auch ein Vergleich
    mit den – durch das Jahressteuergesetz 2011 unverändert belassenen – Regelungen bei behinderten Kindern. Entscheidend sei
    bei diesen weiterhin, dass das Kind nicht in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.


    Ergänzend wird auf den Schriftsatz vom 28. Dezember 2012 Bezug genommen.

    Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO –)

    Entscheidungsgründe

    Die Klage ist begründet.

    Zu Unrecht hat die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld ab Januar 2012 aufgehoben und Kindergeld für den Zeitraum
    von Januar bis einschließlich Mai 2012 i.H.v. 920 EUR zurückgefordert.


    1. Eine Kindergeldberechtigung der Klägerin liegt auch ab Januar 2012 vor.

    a) Nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG haben
    Steuerpflichtige u.a. mit Wohnsitz im Inland ein Anspruch auf Kindergeld u.a. für ein eigenes bzw. angenommenes Kind, das
    das 18., aber nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und für einen Beruf ausgebildet wird. Besteht bei einem angenommenen
    Kind das Kindschaftsverhältnis zu den Eltern fort, wird die Konkurrenz zu Gunsten der Adoptiveltern aufgelöst und zwar auch
    dann, wenn der Aufnehmende – wie im Streitfall – eine Einzelperson ist (vgl. Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 32 Rz.18). Die
    Berücksichtigung von volljährigen Kindern u.a. unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG ist dabei Ausfluss
    der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.


    Der Gesetzgeber geht davon aus, dass den Eltern typischerweise Unterhaltsaufwendungen entstehen, wenn das Kind z.B. noch für
    einen Beruf ausgebildet wird, sich zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befindet oder auf einen Ausbildungsplatz wartet (vgl.
    § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG). Eine typische Unterhaltssituation ist aber kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal
    der einzelnen Berücksichtigungstatbestände. Ob ein Kind wegen eigener Einkünfte typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen
    der Eltern angewiesen und deshalb nicht als Kind zu berücksichtigen ist, ist nach der gesetzlichen Regelung nicht bei der
    Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG zu ermitteln, sondern erst auf einer zweiten
    Stufe bei der Prüfung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden Grenzbetrag überschreiten.
    Der Gesetzgeber unterstellt typisierend, dass Eltern nicht (mehr) mit Unterhaltsaufwendungen für das Kind belastet sind und
    ihre Leistungsfähigkeit damit derjenigen kinderloser Steuerpflichtiger entspricht, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes
    den maßgebenden Grenzbetrag übersteigen (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BFHE 230, 61,
    BStBl II 2010, 982). Andererseits besteht nach der Rechtsprechung des BFH nach der Eheschließung des Kindes grundsätzlich
    kein Kindergeldanspruch der Eltern mehr, weil ab diesem Zeitpunkt in erster Linie der Ehepartner dem Kind zum Unterhalt verpflichtet
    ist. Die Eltern sind nur noch nachrangig unterhaltsverpflichtet. Ausnahmsweise müssen Eltern gegenüber ihrem verheirateten
    Kind Unterhaltsleistungen erbringen, wenn das Einkommen des Ehepartners so gering ist, dass er zum vollständigen Unterhalt
    nicht in der Lage ist – sog. Mangelfall – (BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340
    m.w.N.).


    b) Nach diesen Grundsätzen erfüllt die Klägerin die Tatbestandsvoraussetzungen für den Kindergeldbezug.

    Unstreitig ist die Klägerin als Steuerpflichtige mit Wohnsitz im Inland nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG kindergeldberechtigt.
    Aufgrund der wirksamen Annahme von A. als Kind mit Beschluss des AG München – Vormundschaftsgericht – vom 8. Mai 2009 Az.
    721 XVI 9390/08 (vgl. § 1754 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch) und des von A. absolvierten Studiums ist A. unstreitig auch Kind
    i.S.v. § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG.


    Weitere Voraussetzungen enthält das Gesetz nicht. Die Höhe der Ausbildungsvergütung der Tochter ist für den Kindergeldanspruch
    nicht maßgeblich, da die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31.12.2011 gültigen Fassung (EStG a. F.) enthaltene Regelung
    zum 1.1.2012 entfallen ist (Art. 1 Nr. 17 Buchstabe a, Art. 18 Abs. 1 des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 vom 1. November
    2011, BGBl. I 2011, S. 2131 ff.). Gleiches gilt für den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann nach §§ 1608 Satz
    1, 1360, 1360 a Bürgerliches Gesetzbuch, der bis 2011 zu den maßgeblichen Einkünften und Bezügen gehörte (vgl. BFH in BStBl
    II 2012, 340).


    Die Einkünfte des Ehemannes der Tochter sind für den Kindergeldanspruch der Klägerin ebenfalls nicht von Bedeutung. Ob ein
    sog. „Mangelfall” vorliegt, ist unerheblich, weil der Umstand, dass die Tochter verheiratet ist, dem Kindergeldanspruch nicht
    entgegensteht. Für verheiratete Kinder sieht das Gesetz keinerlei Einschränkungen vor. Der Kindergeldanspruch setzt entgegen
    der früheren Rechtsprechung des BFH keine „typische Unterhaltssituation” voraus. Nach diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal
    war ein Kindergeldanspruch nicht gegeben, wenn ein Kind verheiratet war und kein sog. „Mangelfall” vorlag (BFH-Urteile vom
    19.4.2007 III R 65/06, BStBl. II 2008, 756) oder das Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachging (BFH-Urteile vom 20.7.2006
    III R 78/04, BFH/NV 2006, 2248 und III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249).


    Das Erfordernis des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der „typischen Unterhaltssituation” hat der BFH in seiner neueren
    Rechtsprechung – jedenfalls für die Fälle der Vollzeitbeschäftigung – ausdrücklich aufgegeben (BFH-Urteile vom 22. Dezember
    2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927; III R 65/10, BFH/NV 2012, 929; III R 67/10, BFH/NV 2012, 930; III R 93/10, BFH/NV 2012,
    932 und III R 66/10, BFH/NV 2012, 1301). Zur Begründung führt der BFH aus, dass eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes
    Tatbestandsmerkmal der Berücksichtigungstatbestände sei. Die Frage, ob ein Kind typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen
    seiner Eltern angewiesen ist, sei nach der gesetzlichen Regelung erst im Rahmen der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes
    32 Abs.4 Satz 2 EStG a. F.) zu prüfen (Urteil des Finanzgerichts Münster vom 30. November 2012 4 K 1569/12, juris m.w.N.).


    Der Senat schließt sich der geänderten Rechtsprechung des BFH und der Rechtsauffassung des FG Münster in seinem Urteil vom
    30. November 2012 an. Mangels gesetzlicher Regelung kann das Fehlen einer typischen Unterhaltssituation einen nach dem Gesetz
    bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen. Daran hat sich mit dem Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge
    des Kindes zum 1. Januar 2012 nichts geändert. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung ist Kindergeld nunmehr bei Vorliegen
    eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren. Dabei hat der
    Gesetzgeber eine Ausweitung der Begünstigungsfälle bewusst in Kauf genommen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs soll
    diese Ausweitung den Umfang der begünstigten Fälle nicht wesentlich erweitern. Der Wegfall des Grenzbetrages soll vielmehr
    zu einer erheblichen Entlastung von Eltern, volljährigen Kindern, Familienkassen und Finanzämtern führen (Bundestags-Drucksache
    17/5125, S. 41). Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation, die sich durch die Höhe des eigenen Einkommens des Kindes
    ausdrückt, ist bereits nicht mehr gesetzliche Voraussetzung. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung liefe das Erfordernis eines
    ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals „typische Unterhaltssituation” zuwider. Hätte der Gesetzgeber den Kindergeldanspruch für
    verheiratete Kinder ausschließen wollen, hätte er einen entsprechenden Ausschlusstatbestand eingeführt.


    2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    3. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus
    § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

    VorschriftenEStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, EStG § 32 Abs. 4 S. 2, BGB § 1608