11.12.2014 · IWW-Abrufnummer 173563
Bundesfinanzhof: Beschluss vom 19.09.2014 – IX B 101/13
Gründe
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) und ihr Lebensgefährte sind hälftige Miteigentümer eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks. In dem Gebäude befinden sich zwei abgeschlossene Wohnungen. Seit der Fertigstellung des Gebäudes bewohnten die Klägerin und ihr Lebensgefährte die Wohnungen gemeinsam.
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Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) gewährte der Klägerin für die Streitjahre gemäß Rz 66 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 10. Februar 1998 (BStBl I 1998, 190) Eigenheimzulage in Höhe des vollen Fördergrundbetrags für die im Dachgeschoss gelegene Wohnung in der Annahme, dass die Klägerin diese Wohnung mit ihrem älteren Sohn unter Ausschluss des anderen Miteigentümers allein bewohne. Nach einer Durchsuchung des Hauses im Zuge eines steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erkannte das FA, dass die Klägerin die Wohnung nicht allein bewohnt hatte und änderte die Bewilligungsbescheide mit der Maßgabe, dass der Fördergrundbetrag halbiert wurde. Die Befugnis zur Änderung ergebe sich aus § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung . Die Klägerin habe in ihrem Antrag falsche Tatsachen vorgetäuscht. Die Ermittlungen hätten neue Tatsachen ergeben.
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Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Klage. Sie habe keine falschen Tatsachen vorgetäuscht. Vielmehr habe das FA fehlende Angaben zu den Nutzungsverhältnissen nicht zum Anlass genommen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Ihr könne dagegen (wenn überhaupt) nur eine geringfügige Unrichtigkeit im Antrag zur Last gelegt werden. Das FA sei deshalb zur Änderung nicht befugt gewesen.
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Zu den maßgeblichen Nutzungsverhältnissen habe sie im Antrag auf Eigenheimzulage schon deshalb keine Angaben gemacht, weil im Antragsformular danach nicht gefragt worden sei. Soweit sie in Zeile 29 zu den Eigentumsverhältnissen hinsichtlich der Dachgeschosswohnung unrichtig "100 %" eingetragen habe, habe sie sich in einem Rechtsirrtum befunden. Der Irrtum sei überdies offensichtlich gewesen, weil sich aus den dem Antrag beigefügten Unterlagen eindeutig ergeben habe, dass sie hälftige Miteigentümerin des Grundstücks sei. Von den Fahndungsprüfern sei vor allem moniert worden, dass dem Antrag auf Eigenheimzulage der Entwurf einer Teilungserklärung beigefügt gewesen sei. Daraus habe auf die Absicht der Alleinnutzung der Dachgeschosswohnung durch die Klägerin geschlossen werden müssen. Die Klägerin hält dem entgegen, auch dieser Umstand hätte allenfalls zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben, zumal die Aufteilung nicht vollzogen worden sei. Dies habe ein Vertreter des FA im Strafverfahren gegen ihren Lebensgefährten auch eingeräumt. Zum Beweis dafür hat sie sich auf das Zeugnis des Rechtsanwalts R und ihres Lebensgefährten berufen.
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Das Finanzgericht (FG) hat den Zeugen R unter Angabe des Beweisthemas zum Termin geladen. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ergibt sich nicht, ob der Zeuge zum Termin erschienen war oder fehlte. Das Protokoll endet mit der Verkündung des die Klage abweisenden Urteils. Auf das Protokoll wird im Übrigen Bezug genommen.
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II. Die Beschwerde, mit der die Klägerin u.a. die Nichterhebung des Zeugenbeweises rügt, ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) .
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1. Der von der Klägerin ordnungsgemäß ( § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO ) geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat Verfahrensrechte der Klägerin verletzt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es nicht mehr beabsichtige, den Zeugen R zu vernehmen.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 2002 X B 26/02 , BFH/NV 2003, 343; vom 27. August 2010 III B 113/09 , BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10 , BFH/NV 2012, 958; vom 19. Dezember 2012 XI B 84/12 , BFH/NV 2013, 745; vom 2. August 2013 XI B 97/12 , BFH/NV 2013, 1791).
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b) Gleiches gilt, wenn kein Beweisbeschluss ergangen ist, sondern ein Zeuge gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 FGO zur mündlichen Verhandlung geladen wurde. Auch in einem solchen Fall können die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Gericht die Zeugenvernehmung als erforderlich ansieht (vgl. BFH-Beschluss vom 12. Juni 2012 V B 128/11 , BFH/NV 2012, 1804) und kein Urteil erlässt, bevor diese durchgeführt worden ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 1791). Will das Gericht von der Vernehmung eines geladenen (und z.B. zum Termin nicht erschienenen) Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen ( BFH-Beschluss vom 17. Oktober 2013 II B 31/13 , BFH/NV 2014, 68), es sei denn, das Gericht kann aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen, dass sich die Beweisaufnahme auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt hat, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe (BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 1791).
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c) Der Hinweis kann schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung mündlich erteilt werden. Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen ( § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--).
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d) Unterbleibt der Hinweis, verletzt das Gericht nach der überwiegenden Ansicht der BFH-Senate den Anspruch auf rechtliches Gehör ( § 96 Abs. 2 FGO ; Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--). Der Hinweis dient nach diesem Verständnis der Vermeidung einer Überraschungsentscheidung (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2003, 343; in BFH/NV 2010, 2292; in BFH/NV 2013, 745; in BFH/NV 2013, 1791; in BFH/NV 2014, 68). Nach anderer Ansicht liegt darin ein Verstoß gegen die Pflicht des FG, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen ( § 76 Abs. 1 FGO ) und die erforderlichen Beweise zu erheben ( § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO ; BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 1804 [BFH 12.06.2012 - V B 128/11] ). Der beschließende Senat neigt dazu, die Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vor Erlass der Entscheidung auf eine Änderung seiner ihnen gegenüber erklärten Auffassung hinzuweisen, dem aus Art. 2 Abs. 1 , Art. 19 Abs. 4 , Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Anspruch auf ein faires Verfahren zu entnehmen. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da ihre Beantwortung für die Entscheidung nicht erheblich ist.
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e) Nach diesen Maßstäben liegt der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel vor. Das FG hat den Zeugen R unter Angabe des Beweisthemas zur mündlichen Verhandlung geladen. Die Klägerin durfte deshalb davon ausgehen, dass das FG vor der Vernehmung des Zeugen kein Urteil erlassen werde. Das FG hat das Urteil erlassen, ohne den Zeugen zu vernehmen und ohne die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass es die Vernehmung des Zeugen nicht mehr für erforderlich halte. Ein schriftlicher Hinweis findet sich nicht in den Akten; ein mündlich erteilter Hinweis ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. Das Original des Sitzungsprotokolls erbringt insofern auch den negativen Beweis ( § 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO ), dass der Hinweis unterblieben ist. Besondere Umstände, die einen Hinweis ausnahmsweise entbehrlich machen können, liegen nicht vor.
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f) Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil beruhen ( § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ). Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergibt sich dies unmittelbar aus § 119 Nr. 3 FGO . Der Sonderfall einer Gehörsverletzung, die sich nicht auf das gesamte Ergebnis, sondern allenfalls auf nicht entscheidungserhebliche Einzelfragen ausgewirkt hat (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 11), ist nicht gegeben. Aber auch, wenn § 119 Nr. 3 FGO nicht anwendbar wäre, ist das Beruhen zu bejahen. Hätte das FG die Beteiligten von seiner (geänderten) Absicht, den Zeugen nicht mehr zu vernehmen, vor Erlass des Urteils in der gebotenen Weise in Kenntnis gesetzt und ihnen hierzu Gelegenheit zur Äußerung gegeben, ist nicht auszuschließen, dass die Vernehmung des Zeugen durchgeführt worden wäre. Insofern genügt für die Annahme des Beruhens die Möglichkeit, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 229, m.w.N.).
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g) Die Klägerin kann sich auf den Verfahrensmangel auch berufen. Ein Rügeverzicht (entsprechend § 295 ZPO ) kommt in der vorliegenden Fallgruppe nicht in Betracht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Beteiligten ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts mit einem Wechsel in der erklärten Auffassung des Gerichts nicht zu rechnen brauchen. Deshalb sind insofern auch keine Darlegungen erforderlich. Zur Geltendmachung des Mangels genügt die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben ( § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO ). Da sich die Tatsachen aus den Gerichtsakten (Ladung des Zeugen), insbesondere aus dem Sitzungsprotokoll (keine Vernehmung des Zeugen, fehlender Hinweis) ergeben, genügt für die Geltendmachung des Verfahrensmangels die schlichte Rüge der Nichtvernehmung des Zeugen (vgl. BFH-Beschluss vom 2. Oktober 2013 III B 56/13 , BFH/NV 2014, 62). Auch Darlegungen zum Beruhen sind nicht erforderlich.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .