27.07.2017 · IWW-Abrufnummer 195400
Bundesfinanzhof: Urteil vom 15.03.2017 – III R 32/15
Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt —auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung— allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU benötigt der Unionsbürger gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen.
Tenor:
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. April 2015 12 K 12140/13 und die Einspruchsentscheidungen der Beklagten vom 7. Juni 2013 sowie ihre Ablehnungsbescheide vom 1. Februar 2013 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, Kindergeld für die Tochter des Klägers für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und den Sohn des Klägers für Januar 2011 bis April 2012 festzusetzen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Gründe
I.
1
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist bulgarischer Staatsbürger und wohnt seit dem 18. März 2010 mit seiner im Januar 2004 geborenen Tochter (T) in D, für die er im November 2010 bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) die Gewährung von Kindergeld beantragte. Im Antragsformular teilte er mit, er sei weder unselbständig noch selbständig erwerbstätig und auch nicht in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) sozialversichert. Die Familienkasse erbat daraufhin vom Kläger ohne Erfolg die Vorlage weiterer Unterlagen sowie die Auskunft, wovon er seit seiner Einreise seinen Lebensunterhalt bestreite.
2
Im Januar 2011 wurde der Sohn (S) des Klägers geboren, für den er im Februar 2011 ebenfalls Kindergeld beantragte. Auf eine erneute Nachfrage der Familienkasse teilte die Ehefrau des Klägers im März 2011 mit, dass ihre Schwiegermutter für den Unterhalt der Familie sorge. Die Schwiegermutter betreibe ein Gewerbe als Raumpflegerin. Der Kläger, sie —seine Ehefrau—, die beiden Kinder sowie die Mutter des Klägers wohnten zu fünft in einer Einzimmerwohnung mit ca. 37 qm Wohnfläche, deren Hauptmieterin die Mutter des Klägers sei.
3
Am 22. Mai 2012 erhielt der Kläger eine Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern a.F. (FreizügG/EU). Die Familienkasse setzte daraufhin für beide Kinder Kindergeld ab Mai 2012 fest und lehnte zugleich den Antrag für die Tochter für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für den Sohn von Januar 2011 bis April 2012 unter Hinweis auf die seinerzeit noch fehlende Freizügigkeitsbescheinigung ab.
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Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, ein etwaiges Recht auf Freizügigkeit bestehe unabhängig von der Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 FreizügG/EU (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2015, 1457). Die Bescheinigung wirke lediglich deklaratorisch, da sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebe. § 13 FreizügG/EU i.V.m. den besonderen Bedingungen in der Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2013 für Staatsbürger der beitretenden Staaten Bulgarien und Rumänien beschränke das Freizügigkeitsrecht nur für Arbeitnehmer ( § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ). Ein Freizügigkeitsrecht könne deshalb auch in der Übergangsphase auf einen der in § 2 Abs. 2 Nrn. 2 bis 7 FreizügG/EU genannten Tatbestände gestützt werden. Dazu habe der Kläger aber nichts vorgetragen und damit seine Mitwirkungspflicht verletzt. Als nicht erwerbstätiger Unionsbürger wäre er gemäß § 4 FreizügG/EU nur unter der weiteren Voraussetzung ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel freizügigkeitsberechtigt gewesen. Das Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgers könne im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch auch nicht ohne weiteres unterstellt werden.
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Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, das FG-Urteil widerspreche dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 B 4 AS 54/12 R (BSGE 113, 60), wonach sich bulgarische Unionsbürger in der Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2013 auf eine europarechtliche Freizügigkeitsvermutung stützen könnten, die fortbestehe, bis der Aufnahmestaat durch nationalen Rechtsakt festgestellt habe, dass Bedingungen i.S. von § 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht erfüllt seien.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil sowie die Ablehnungsbescheide vom 1. Februar 2013 und die Einspruchsentscheidungen vom 7. Juni 2013 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine Tochter T für den Zeitraum März 2010 bis April 2012 und für seinen Sohn S für Januar 2011 bis April 2012 festzusetzen.
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Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie trägt vor, bei Staatsangehörigen der Staaten der Europäischen Union (EU) sei grundsätzlich von der Freizügigkeitsberechtigung auszugehen. Bei Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung seien diese jedoch unabhängig davon zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die Freizügigkeit nach § 6 FreizügG/EU aberkannt habe.
II.
9
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage ( § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Kläger vor Erteilung der Freizügigkeitsbescheinigung als nicht freizügigkeitsberechtigt zu behandeln war und daher wegen § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Kindergeld beanspruchen kann.
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1. Der Kläger erfüllt —abgesehen von der Freizügigkeitsberechtigung— unstreitig die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld für seine beiden Kinder: Er hat mit seinen beiden Kindern einen gemeinsamen Wohnsitz im Inland ( § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 63 Abs. 1 EStG ) und er ist aufgrund der Zustimmung seiner Ehefrau der berechtigte Elternteil ( § 64 Abs. 2 EStG ).
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2. Der Kläger ist —entgegen der Auffassung des FG— auch freizügigkeitsberechtigter Ausländer und unterliegt deshalb nicht den Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG .
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a) Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger als bulgarischer Staatsbürger im Streitzeitraum innerhalb der EU freizügigkeitsberechtigt war. Es hat weiter zutreffend erkannt, dass die Bundesregierung in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 des Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien (Amtsblatt der Europäischen Union vom 21. Juni 2005, Nr. L 157, S. 11) und abweichend von den Art. 1 bis 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2013 eine Beschäftigung von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen nach § 284 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) von einer Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit abhängig gemacht hat. Dem trägt § 13 FreizügG/EU Rechnung, wonach das FreizügG/EU für diesen Zeitraum Anwendung finden soll, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 SGB III genehmigt wurde.
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b) Diese Einschränkung bewirkt aber nicht, dass ein Unionsbürger bei fehlender arbeitsrechtlicher Genehmigung als nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer zu behandeln ist. Denn jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
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Für Angehörige eines Mitgliedsstaates gilt gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV ein von der Arbeitnehmer-Freizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht ergibt. Dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht steht den Unionsbürgern, und zwar auch den Angehörigen der Beitrittsstaaten, die hinsichtlich des Zuganges zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterlagen, unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu (Senatsbeschluss vom 27. April 2015 III B 127/14 , BFHE 249, 519, BStBl II 2015, 901 [BFH 27.04.2015 - III B 127/14] ). Das Aufenthaltsrecht entfällt auch bei Angehörigen der zum 1. Januar 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien allein durch einen Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 5 , § 6 und § 7 FreizügG/EU (BSG-Urteil in BSGE 113, 60, Rz 20, betreffend Sozialhilfe für Schwangere; Siegers, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2015, 953; Hartmann, Der Ertrag-Steuer-Berater 2015, 358).
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Die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit besteht zudem auch nach deutschem Recht nicht nur für Arbeitnehmer, die einer Genehmigung bedürfen ( § 2 Abs. 2 Nr. 1 , § 13 FreizügG/EU i.V.m. § 284 SGB III ), sondern nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 ff. FreizügG/EU auch für niedergelassene selbständige Erwerbstätige, Empfänger von Dienstleistungen, Familienangehörige usw. Die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt dabei allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fände gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz Anwendung, so dass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz benötigt, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen ( § 62 Abs. 2 EStG ). An einer derartigen Entscheidung der Ausländerbehörde fehlte es hier.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 , § 135 Abs. 1 FGO .