14.09.2006 · IWW-Abrufnummer 062753
Bundesfinanzhof: Urteil vom 28.06.2006 – XI R 32/05
1. § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG verbietet zwar die nachträgliche Einschränkung (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 1999 XI R 121/96, BFHE 190, 320, BStBl II 2000, 218), nicht aber die betragsmäßige Erweiterung eines bereits vorliegenden begrenzten Antrags zum Realsplitting.
2. Der Antrag auf Erweiterung kann auch noch nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids gestellt werden.
3. Der erweiterte Antrag stellt in Verbindung mit der erweiterten Zustimmungserklärung ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 dar.
Gründe:
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) leistete in den Streitjahren 1995 bis 1998 an seine geschiedene Ehefrau Unterhaltszahlungen in Höhe von jeweils 27 000 DM jährlich. Er beantragte in den Einkommensteuererklärungen unter Verwendung der Anlage "U" den Abzug von Unterhaltszahlungen in Höhe von jeweils 12 000 DM als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) --sog. Realsplitting--. Dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) lag ab dem Kalenderjahr 1990 eine Zustimmungserklärung der geschiedenen Ehefrau zum Abzug der Unterhaltszahlungen in dieser Höhe als Sonderausgaben vor. Er berücksichtigte die Unterhaltszahlungen erklärungsgemäß in Höhe von jeweils 12 000 DM.
Mit Schreiben vom 20. Januar 2001 beantragte der Kläger, für die Streitjahre Unterhaltszahlungen in Höhe von jeweils 27 000 DM jährlich als Sonderausgaben abzuziehen. Das FA lehnte die Änderung der bestandskräftigen Bescheide ab und wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Während des Klageverfahrens reichte der Kläger geänderte Anlagen "U" mit einer entsprechenden Zustimmungserklärung seiner geschiedenen Ehefrau ab 1995 zum Abzug der Unterhaltsaufwendungen in Höhe von jeweils 27 000 DM als Sonderausgaben ein. Die Kläger beantragten, das FA zu verpflichten, die Einkommensteuer für die Streitjahre dahin gehend zu ändern, dass weitere Unterhaltszahlungen in Höhe von jeweils 15 000 DM jährlich als Sonderausgaben anerkannt werden.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es entschied, die nachträgliche Erweiterung des Antrags des Klägers auf Durchführung des Realsplittings mit Zustimmung der Unterhaltsempfängerin sei ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977); § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG stehe einer Erweiterung des Antrags nicht entgegen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1911 veröffentlicht.
Das FA stützt seine Revision auf eine Verletzung des § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG.
Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision des FA zurückzuweisen.
II.
Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Entscheidung des FG, der nach Bestandskraft der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1995 bis 1998 gestellte Antrag des Klägers, weitere Unterhaltszahlungen an seine geschiedene Ehefrau in Höhe von 15 000 DM jährlich als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen, sei zulässig und in Verbindung mit der erweiterten Zustimmungserklärung der geschiedenen Ehefrau ein r ückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977, ist nicht zu beanstanden.
1. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG in der für die Streitjahre gültigen Fassung können Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Ehegatten bis zu 27 000 DM im Kalenderjahr als Sonderausgaben abgezogen werden, wenn der Geber dies mit Zustimmung des Empfängers beantragt.
Es ist anerkannt, dass --wie zunächst im Streitfall geschehen-- der Antrag und die Zustimmung i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG auf einen bestimmten Betrag begrenzt werden können, der unterhalb des Höchstbetrags liegt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. November 2000 III R 23/98, BFHE 193, 383, BStBl II 2001, 338; vom 14. April 2005 XI R 33/03, BFHE 210, 235, BStBl II 2005, 825). Der Unterhaltsleistende ist an einen einmal gestellten Antrag insoweit gebunden, als er diesen nicht zurücknehmen kann. Denn nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG kann der Antrag jeweils nur für ein Kalenderjahr gestellt und nicht zurückgenommen werden.
§ 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG verbietet aber nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz nicht eine betragsmäßige Erweiterung eines bereits vorliegenden begrenzten Antrags (Nolde in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Anm. 27k; Blümich/Hutter, § 10 EStG Rz. 78; Steiner in Lademann, EStG, § 10 EStG Anm. 74). Denn in einer betragsmäßigen Erweiterung eines Antrags kann nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht dessen Rücknahme gesehen werden. Es sind auch keine sachlich einleuchtenden Gründe dafür erkennbar, die Vorschrift abweichend von ihrem Wortlaut einschränkend dahin auszulegen, dass sie eine Erweiterung eines einmal gestellten begrenzten Antrags verbietet. Für eine Absicht des Gesetzgebers, eine Antragserweiterung zu verbieten, geben weder die Entstehungsgeschichte des § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG (vgl. BTDrucks 8/2200; 9/1772) noch sonstige Umstände Anhaltspunkte. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit einer missbräuchlichen Verweigerung der Zustimmung durch den Empfänger und von Auseinandersetzungen oder sogar einer Klage vor den Zivilgerichten gesehen (BTDrucks 9/1772, S. 3 ff.). Er musste sich deshalb bei der tatbestandsmäßigen Koppelung von Antrag und Zustimmung in § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG im Klaren darüber sein, dass die erforderliche (uneingeschränkte) Zustimmung nicht immer rechtzeitig vor Ablauf der Abgabefrist für die Einkommensteuererklärung zu erlangen war. Insoweit ist für den Leistenden bezüglich des Betrags, für den eine Zustimmung erteilt worden ist, die Situation anders als bezüglich des Restbetrags. Auch diese unterschiedliche Interessenlage spricht gegen eine Auslegung der Vorschrift dahin, dass ein zunächst betragsmäßig begrenzter Antrag in der Weise bindet, dass seine Erweiterung nicht mehr zulässig ist.
2. Der danach grundsätzlich zulässige Antrag auf Erweiterung des Betrags der Unterhaltsleistungen, der als Sonderausgaben abziehbar ist, konnte nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz auch noch gestellt werden, nachdem der jeweilige Einkommensteuerbescheid bestandskräftig geworden war. Denn der erweiterte Antrag stellt in Verbindung mit der erweiterten Zustimmungserklärung der geschiedenen Ehefrau ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 dar.
Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein rückwirkendes Ereignis im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn sich nach Ergehen eines Steuerbescheids der rechtserhebliche Sachverhalt in der Weise ändert, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II.1.b der Gründe). Ob ein Ereignis ausnahmsweise in die Vergangenheit zurückwirkt, richtet sich nach den Normen des materiellen Steuerrechts (vgl. z.B. Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II.1.c der Gründe; BFH-Urteile vom 12. Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957; vom 3. März 2005 III R 22/02, BFHE 209, 454, BStBl II 2005, 690).
a) Nach dem BFH-Urteil in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957 ist ein Einkommensteuerbescheid gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern, wenn erst nach Eintritt der Bestandskraft sowohl die Zustimmung zur Anwendung des Realsplitting erteilt als auch der Antrag nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG gestellt wird. Zur Begründung führt der X. Senat aus, der Antrag i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG sei nicht nur Verfahrenshandlung, sondern --in sachlich untrennbarem Zusammenhang mit der Zustimmung des Unterhaltsempfängers-- selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands. Er wirke rechtsgestaltend auf die Steuerschuld ein, weil er die einkommensteuerrechtliche Qualifikation der Unterhaltsleistungen verändere; Unterhaltsleistungen, die nach § 12 Nr. 2 EStG --vom Ausnahmefall der §§ 33a, 33 EStG abgesehen-- unbeachtlich seien, würden bis zu der in § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG genannten Höchstgrenze zu abziehbaren Sonderausgaben. Der Antrag wirke nachträglich auf die Steuerschuld ein, weil er der objektiven Tatbestandsverwirklichung --der Leistungsbewirkung an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten-- zeitlich notwendigerweise nachfolge. Die Rückwirkung des rechtsgestaltenden Antrags nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG in die Vergangenheit ergebe sich aus der Erwägung, dass die in dieser Vorschrift geforderte Zustimmung des Leistungsempfängers in typischen Fällen wie dem vorliegenden erst nachträglich erteilt werde. Das Gesetz sehe für den Antrag keine Frist vor und eine solche ergebe sich auch nicht aus allgemeinen Grundsätzen. Da sich die Erlangung der für die Tatbestandsverwirklichung erforderlichen Zustimmung schwierig gestalten könne, würde es eine unzumutbare Schwächung der Position der Unterhaltsleistenden bedeuten, wenn man ihn zur Wahrung der Abzugsmöglichkeit darauf verweisen wollte, einen nicht zurücknehmbaren Antrag (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) beim FA zu stellen, ohne dass die Zustimmung des Empfängers vorliege. Es reiche nicht aus, den Steuerpflichtigen zur Wahrung seiner Rechte darauf zu verweisen, eine teilweise vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 AO 1977) zu beantragen.
b) Die wesentlichen Gesichtspunkte, die die Rechtsprechung dazu veranlasst haben, einen erstmaligen Antrag nebst Zustimmungserklärung i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG nach Bestandskraft des Steuerbescheids als rückwirkendes Ereignis zu qualifizieren, sprechen auch dafür, die nachträgliche betragsmäßige Erweiterung eines solchen Antrags in Verbindung mit der geänderten Zustimmungserklärung als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 anzusehen (vgl. auch Blümich/ Hutter, a.a.O., Rz. 78).
Zwar sind bereits durch den ursprünglichen betragsmäßig begrenzten Antrag des Unterhaltsleistenden die gesamten, also auch die den Antrag übersteigenden Unterhaltszahlungen zu Sonderausgaben umqualifiziert worden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 193, 383, BStBl II 2001, 338). Doch bewirkt die Begrenzung des Antrags und der Zustimmung auf einen unterhalb des Höchstbetrags des § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG liegenden Betrag nur einen eingeschränkten Abzug beim Geber und auch der Empfänger muss nur den eingeschränkten Betrag nach § 22 Nr. 1a EStG versteuern; der verbleibende Teil der Unterhaltsleistungen kann weder als Sonderausgaben noch als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht werden (vgl. BFH-Urteile vom 22. September 1999 XI R 121/96, BFHE 190, 320, BStBl II 2000, 218, und in BFHE 210, 235, BStBl II 2005, 825).
Insoweit kommt der nachträglichen Erweiterung des Antrags zwar keine rechtsgestaltende, d.h. den Charakter der Unterhaltszahlungen ändernde, Wirkung mehr zu. Der Senat hält für die Entscheidung, ob die Antragserweiterung ein rückwirkendes Ereignis ist, jedoch für ausschlaggebend, dass sich die rechtsgestaltende Wirkung des ursprünglichen Antrags in Verbindung mit der Zustimmungserklärung steuerlich nicht in vollem Umfang auswirken konnte, wenn und soweit die Zustimmungserklärung und der Antrag betragsmäßig begrenzt und niedriger als der gesetzliche Höchstbetrag waren. Erst die geänderte Zustimmungserklärung ermöglicht dem Unterhaltsleistenden die Erweiterung des Antrags, da das Wahlrecht auf den Sonderausgabenabzug auch der Höhe nach einvernehmlich ausgeübt werden muss (BFH-Urteil in BFHE 210, 235, BStBl II 2005, 825). Liegt bei der Abgabe der Steuererklärung lediglich eine betragsmäßig begrenzte Zustimmungserklärung des Empfängers vor, ist die Situation für den Leistenden bei der Antragserweiterung mit derjenigen bei einer erstmaligen Antragstellung vergleichbar. Es wird für ihn in tatsächlicher Hinsicht in aller Regel ebenso schwierig sein, eine Erweiterung der Zustimmung zu erlangen, wie es kompliziert sein kann, eine erstmalige Zustimmung zu bekommen (vgl. zu den Schwierigkeiten einer Verständigung auch BTDrucks 9/1772, S. 3 ff.). Auch das vom X. Senat in dem Urteil in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957 angeführte Argument, der Unterhaltsleistende könne nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, beim FA einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO 1977 anzuregen (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 10. November 2004 II R 24/03, BFHE 207, 364, BStBl II 2005, 182), trifft für die Erweiterung des Antrags in gleicher Weise zu wie für einen erstmaligen Antrag.
3. Die Rechtsprechung des X. Senats in seinem Urteil in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, wonach ein nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids gestellter Antrag auf Sonderausgabenabzug ein rückwirkendes Ereignis ist, ist auch nicht durch die Neuregelung des § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG durch das Gesetz zur steuerlichen Förderung des Wohnungsbaus und zur Ergänzung des Steuerreformgesetzes 1990 (Wohnungsbauförderungsgesetz) vom 22. Dezember 1989 (BGBl I 1989, 2408, BStBl I 1989, 505) überholt. Durch dieses Gesetz wurde in § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG geregelt, dass die Zustimmung des Empfängers --mit Ausnahme der nach § 894 Abs. 1 der Zivilprozessordnung als erteilt geltenden-- bis auf Widerruf wirksam ist. Nach Satz 4 ist der Widerruf vor Beginn des Kalenderjahrs, für das die Zustimmung erstmals nicht gelten soll, gegenüber dem FA zu erklären. Zwar hat der Gesetzgeber durch diese Gesetzesänderung die bisherige Stellung des Unterhaltsleistenden verbessert, soweit bereits eine Zustimmungserklärung vorliegt. Denn er muss sich nicht mehr jedes Jahr erneut um eine Zustimmung bemühen (vgl. dazu BTDrucks 10/3350, S. 3; 11/5970, S. 39). Jedoch ist die Situation des Leistenden, der noch keine Zustimmungserklärung erhalten hat, durch die Gesetzesänderung nicht berührt worden.
Der hier vorliegende Fall, dass die Zustimmungserklärung betragsmäßig begrenzt war und der Leistende eine Erweiterung der Zustimmung erstrebt, ist durch die Gesetzesänderung ebenfalls nicht tangiert worden. Denn eine einmal erteilte Zustimmung bindet den Empfänger im Falle einer betragsmäßigen Begrenzung nur im Umfang desjenigen Betrags, der in der Zustimmungserklärung genannt ist (vgl. Senatsurteil in BFHE 210, 235, BStBl II 2005, 825). Wegen des darüber hinausgehenden Betrags besteht die Vergleichbarkeit der Situationen bei der Erlangung einer erstmaligen Zustimmung zum Realsplitting einerseits und der Erweiterung einer bereits vorliegenden Zustimmung andererseits fort.