27.05.2021 · IWW-Abrufnummer 222603
Bundesfinanzhof: Urteil vom 18.02.2021 – III R 35/19
NV: Ein Kind unter 25 Jahren, das wegen einer Erkrankung keine Berufsausbildung beginnen kann, ist nur dann als ausbildungsplatzsuchendes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen, wenn das Ende der Erkrankung absehbar ist. Ist dieses nicht absehbar, reicht der Wille des Kindes, sich nach dem Ende der Erkrankung um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, nicht aus. In solchen Fällen ist zu prüfen, ob eine Berücksichtigung als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG möglich ist.
Tenor:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 26.04.2019 ‒ 7 K 1093/18 Kg aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Düsseldorf zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Gründe
I.
1
Streitig ist die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum November 2016 bis Juli 2017.
2
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog Kindergeld für ihren im September 1996 geborenen Sohn T. T befand sich zunächst in einer Schulausbildung, die bis Juli 2017 dauern sollte. Er begann allerdings zum 01.08.2016 eine andere Ausbildung, die bereits zum 31.10.2016 durch Kündigung seitens des Arbeitgebers beendet wurde. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob durch Bescheid vom 29.06.2017 die Festsetzung des Kindergeldes ab August 2017 auf, da sie der Ansicht war, die Schulausbildung dauere noch bis Juli 2017 an. In einer auf einem Vordruck abgegebenen Erklärung vom 10.07.2017 zu den Verhältnissen von T gab die Klägerin an, dass T chronisch krank sei und sie im Augenblick nicht wisse, ob und wann er eine Ausbildung beginnen könne. Unter dem 12.09.2017 gab T gegenüber der Familienkasse auf einem Vordruck eine Erklärung ab, wonach er beabsichtige, zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach dem Ende der Erkrankung eine Ausbildung aufzunehmen. Der Arzt, der T behandelte, gab auf einem Vordruck am 12.09.2017 an, dass das Ende der Erkrankung des T im Hinblick darauf, eine Ausbildung aufzunehmen, nicht absehbar sei. Zuvor hatte ein anderer Arzt am 29.06.2017 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt, der zufolge T seit 14.09.2016 arbeitsunfähig war und es voraussichtlich bis 16.07.2017 bleiben werde. Durch Bescheid vom 02.10.2017 lehnte die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld ab August 2017 ab, weil das Ende der Erkrankung nicht absehbar sei.
3
Mit Bescheid vom 21.11.2017 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab November 2016 auf und forderte einen Betrag von 1.778 € für die Zeit von November 2016 bis Juli 2017 zurück. Sie verwies auf den Abbruch der Berufsausbildung, zudem sei das Ende der Erkrankung nicht absehbar. Dagegen wandte sich die Klägerin mit Einspruch. Die Familienkasse setzte durch Bescheid vom 08.03.2018 Kindergeld für die Monate September 2017 bis Januar 2018 fest. Im weiteren Verlauf des Rechtsbehelfsverfahrens legte die Klägerin eine auf einem Vordruck abgegebene Erklärung des behandelnden Arztes vom 04.12.2017 vor, der zufolge die Erkrankung voraussichtlich Ende des Jahres 2017 enden werde. In der Einspruchsentscheidung vom 27.03.2018 wird zwar im Betreff die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab November 2016 genannt, inhaltlich befasst sich die Entscheidung allerdings mit der Ablehnung einer Festsetzung von Kindergeld ab Februar 2018.
4
Mit der anschließend erhobenen Klage wandte sich die Klägerin gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum November 2016 bis Juli 2017. Das Finanzgericht (FG) behandelte die Klage als Untätigkeitsklage und gab ihr statt. Es war der Ansicht, T habe im fraglichen Zeitraum wegen einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung keine Ausbildung aufnehmen können. Er sei in diesem Zeitraum ausbildungswillig gewesen, wie aus seiner Erklärung vom 12.09.2017 zu ersehen sei. Entgegen der Rechtsansicht der Familienkasse sei die Erklärung des T auch für die Zeit vor September 2017 von Bedeutung.
5
Gegen das Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Revision. Zur Begründung trägt sie vor, die Ausbildungsbereitschaft eines Kindes sei glaubhaft zu machen, pauschale Angaben genügten nicht. Sei nicht absehbar, ob der Gesundheitszustand eines Kindes eine Ausbildung in näherer Zukunft erlaube, ähnele die Konstellation der eines behinderten Kindes, für das nur unter den engen Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Kindergeld zu gewähren sei. Auch genügten pauschale Angaben zur Ausbildungswilligkeit des Kindes nicht. Die von T im September 2017 abgegebene Erklärung über seine Absicht, nach dem Ende der Erkrankung eine Ausbildung beginnen zu wollen, wirke nicht auf den Streitzeitraum zurück.
6
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
8
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
9
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung ( § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, für T sei Kindergeld zu gewähren, weil er einen Ausbildungsplatz gesucht habe.
10
1. Kindergeld wird nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG für ein Kind gewährt, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann.
11
a) Kinder, die einen Ausbildungsplatz suchen, sollen mit denen, die bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben, gleichgestellt werden. Dies setzt voraus, dass der Beginn der Ausbildung nicht an anderen Umständen als dem Mangel eines Ausbildungsplatzes scheitert ( Senatsurteile vom 07.04.2011 ‒ III R 24/08 , BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210, sowie vom 13.06.2013 ‒ III R 58/12 , BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834). Dabei ist zwar grundsätzlich jeder Ausbildungswunsch des Kindes zu berücksichtigen; seine Verwirklichung darf jedoch nicht an den persönlichen Verhältnissen des Kindes scheitern (Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 15.07.2003 ‒ VIII R 71/99 , BFH/NV 2004, 473). Das Kind muss die Ausbildungsstelle im Falle des Erfolgs seiner Bemühungen antreten können ( BFH-Urteil vom 15.07.2003 ‒ VIII R 79/99 , BFHE 203, 94, BStBl II 2003, 843; Senatsurteile vom 27.09.2012 ‒ III R 70/11 , BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, sowie vom 18.01.2018 ‒ III R 16/17 , BFHE 260, 481, BStBl II 2018, 402).
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b) In der Person des Kindes liegende Gründe, welche der Aufnahme einer Berufsausbildung entgegenstehen, liegen z.B. vor, wenn ein Kind nicht die Voraussetzungen für den angestrebten Studiengang erfüllt (BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 473 [BFH 15.07.2003 - VIII R 71/99] ) oder wenn ausländerrechtliche Gründe einer Berufsausbildung entgegenstehen (Senatsurteil in BFHE 233, 44, BStBl II 2012, 210 [BFH 07.04.2011 - III R 24/08] ). Ein Kind ist auch dann nicht zu berücksichtigen, wenn es eine Ausbildung wegen Übergewichts nicht antreten könnte ( BFH-Beschluss vom 08.11.1999 ‒ VI B 322/98 , BFH/NV 2000, 432). Für den Bezug von Kindergeld ist es ausnahmsweise unschädlich, wenn das Kind wegen der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) an der Aufnahme einer Berufsausbildung gehindert ist (Senatsurteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834 [BFH 13.06.2013 - III R 58/12] ).
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c) Fälle, in denen ein Kind aus Gesundheitsgründen dauerhaft gehindert ist, eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen und deshalb unterhaltsberechtigt ist, werden durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gesetzlich typisiert. Hiernach ist ein Kind zu berücksichtigen, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Der Begriff der Behinderung orientiert sich an § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch —SGB IX— ( Senatsurteil vom 19.01.2017 ‒ III R 44/14 , BFH/NV 2017, 735, m.w.N.). Nach der derzeitigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.d.F. des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz) vom 23.12.2016 (BGBl I 2016, 3234) sind Menschen behindert, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs‒ und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach der vorherigen Definition des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach beiden Fassungen ist somit Voraussetzung für die Annahme einer Behinderung, dass eine Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert. Ist das Ende einer der in § 2 Abs. 1 SGB IX aufgezählten Beeinträchtigungen, die ein Kind daran hindert, sich um eine Berufsausbildung zu bemühen, nicht absehbar, so sind in der Regel die Voraussetzungen einer Behinderung in zeitlicher Hinsicht erfüllt.
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d) Entgegen der Rechtsauffassung des FG reicht in Fällen, in denen ein Kind aus Krankheitsgründen gehindert ist, einen Ausbildungsplatz zu suchen oder in denen derartige Bemühungen angesichts der Erkrankung sinnlos wären, die allgemeine Ausbildungswilligkeit, die auf eine in der Zukunft zu beginnende Berufsausbildung gerichtet ist, nicht aus. Vielmehr muss das Ende der Erkrankung absehbar sein. Dementsprechend hat der Senat in der Entscheidung zur Unterbrechung der Ausbildungsplatzsuche im Urteil in BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834 [BFH 13.06.2013 - III R 58/12] auf die regelmäßig auf 14 Wochen beschränkten Fristen nach dem MuSchG hingewiesen; die Frage, ab welcher Zeitdauer die Erkrankung eines Kindes dessen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ausschließt, hat er offengelassen.
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2. Im Streitfall war die Aufnahme einer künftigen Berufsausbildung innerhalb des Streitzeitraums nicht absehbar. Noch im September 2017 erklärte der behandelnde Arzt, dass das Ende der Erkrankung nicht absehbar sei. In gleichem Sinne hatte sich die Klägerin im Juli 2017 gegenüber der Familienkasse geäußert. Die zur Vorlage bei einem Arbeitgeber ausgestellte ärztliche Bescheinigung vom 29.06.2017, in der Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 14.09.2016 bis voraussichtlich 16.07.2017 angegeben ist, trifft keine Aussage dazu, wann es T in gesundheitlicher Hinsicht möglich sein werde, eine Ausbildung zu beginnen. Eine Berücksichtigung des T nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG scheidet damit aus. Ob eine Berücksichtigung auch daran scheitert, dass —wie die Familienkasse meint— die auf dem Vordruck abgegebene Erklärung vom 12.09.2017 des T über seine Absicht, sich unmittelbar nach dem Ende der Erkrankung um eine Berufsausbildung bemühen zu wollen, nicht auf den Streitzeitraum zurückwirkt, kann daher offenbleiben (vgl. A 17.2 Abs. 1 Satz 4 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG Stand 2020 vom 27.08.2020, BStBl I 2020, 703).
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3. Die Streitsache ist nicht spruchreif und geht an das FG zurück, das zu prüfen haben wird, ob T als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .