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  • 02.11.2010

    Finanzgericht München: Urteil vom 27.04.2010 – 6 K 3192/09

    1. Die Zustellungsfiktion eines öffentlich zugestellten Verwaltungsakts ist verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Die öffentliche Zustellung ist nur als „letztes Mittel” der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln.

    2. Eine andere Form der Zustellung des Haftungsbescheids in die Schweiz war nicht möglich, da die dortigen Behörden keine Amts- oder Rechtshilfe bei der Zustellung in Steuersachen leisten.


    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    In der Streitsache

    hat der 6. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung des Richters am Finanzgericht NN als Vorsitzender, des Richters am Finanzgericht NN und der Richterin am Finanzgericht NN sowie der ehrenamtlichen Richter NN und NN aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2010

    für Recht erkannt:

    1. Die Klage wird abgewiesen.

    2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

    3. Die Revision wird zugelassen.

    Gründe

    I.

    Streitig ist, ob der Kläger für Abgabenschulden der Firma XY S.A. (Firma) haftet. Der Kläger ist in der Schweiz ansässig und war Vorstand und gesetzlicher Vertreter der Firma. Er hatte im Inland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Die Anschrift der Firma und die des, als Rechtsanwalt tätigen, Klägers sind identisch.

    Im Zusammenhang mit Darlehenszinsen ergingen im Jahr 2003 Steuerbescheide gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 c) aa) Einkommensteuergesetz (EStG) wegen erhaltener Darlehenszinsen gegen die Firma. Die Einsprüche dagegen wurden mit Einspruchsentscheidung vom 19. April 2010 als unzulässig und unbegründet zurückgewiesen.

    Mit Haftungsbescheid vom 2. April 2004 wurde der Kläger für Abgabenschulden der Firma in Haftung genommen. Der Gesamtbetrag der Haftungsschulden belief sich auf 591.998,72 EUR. Wegen der Details wird auf diesen Bescheid Bezug genommen.

    Mit Schreiben vom 29. Januar 2004 – dessen Zugang der Kläger bestreitet – hat das FA einen Haftungsbescheid angekündigt und den Kläger aufgefordert, einen inländischen Empfangsbevollmächtigten zu benennen. Eine solche Benennung ist nicht erfolgt. Der Haftungsbescheid wurde im April 2004 öffentlich zugestellt.

    Nach einer Zahlungsaufforderung durch das FA vom 19. März 2009 über 844.573,92 EUR legte der Kläger mit Schreiben vom 31. März 2009 Einspruch gegen den Haftungsbescheid ein, der mit Einspruchsentscheidung vom 4. September 2009 als unzulässig, weil verfristet, verworfen wurde.

    Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage vom 7. Oktober 2009:

    Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung des Haftungsbescheids lägen nicht vor. Die öffentliche Zustellung sei damit unwirksam. Der oberste Grundsatz, dass jedem rechtliches Gehör und Rechtsmittel gegen staatliche Maßnahmen zustehen müssen sei verletzt. Das FA sei verpflichtet sich telefonisch oder über elektronische Medien zu versichern, ob Schriftstücke zugegangen sind, bzw. den Empfänger über den Versand zu informieren.

    Der Haftungsbescheid sei rechtswidrig. Dem deutschen Fiskus sei kein Schaden entstanden, weil die Betriebsausgaben auf der einen Seite nicht anerkannt worden seien. Damit hätten auf der anderen Seite auch keine steuerlichen Einnahmen zu entstehen.

    Auf den Klageschriftsatz und die ergänzenden Schreiben vom 15. Februar 2010 und vom

    20. April 2010 wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

    Ein gerichtlicher Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (6 V 3193/09) wurde mit Beschluss des Senats vom 10. Dezember 2009 als unbegründet abgelehnt.

    Der Kläger beantragt,

    den Haftungsbescheid vom 2. April 2004 und die Einspruchsentscheidung vom 4. September 2009 aufzuheben,

    hilfsweise die Revision zuzulassen.

    Das FA beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Eine Verpflichtung des FA, sich telefonisch oder über elektronische Medien zu versichern, ob Schriftstücke zugegangen sind, bzw. den Empfänger über den Versand zu informieren, bestehe nicht.

    Da die deutschen Auslandsvertretungen in der Schweiz weder Zustellungen in Fiskalsachen an eigene noch an fremde Staatsangehörige oder an Staatenlose bewirken dürften und die Schweiz auch gegen eine postalische Bekanntgabe Bedenken erhoben habe, müsse sich der Kläger das Verhalten seines Wohnsitzstaates zurechnen lassen.

    Am 27. April 2010 fand der Termin der mündlichen Verhandlung statt. Auf die Niederschrift wird Bezug genommen.

    II.

    1. Die Klage ist unbegründet.

    a) Zutreffend hat das FA die Auffassung vertreten, dass der Kläger den Einspruch verspätet eingelegt hat, weil der Haftungsbescheid wirksam zugestellt wurde und die Rechtsbehelfsfrist im April 2004 zu laufen begonnen hatte.

    Das FA hat für die Zustellung die Form der öffentlichen Bekanntmachung gewählt, da der Kläger in der Schweiz wohnte. Die vom FA angeordnete öffentliche Zustellung des Haftungsbescheides vom 2. April 2004 ist nach § 15 Verwaltungszustellungsgesetz a.F (VwZG) i.V.m. § 122 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) wirksam. Ein Schriftstück kann durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt werden, wenn die Zustellung außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes erfolgen müsste, aber unausführbar ist oder keinen Erfolg verspricht (§ 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG a.F.). Ob diese Voraussetzung der öffentlichen Zustellung vorliegt, ist im Einzelfall zu prüfen.

    Hierfür ist erforderlich, dass alle anderen Möglichkeiten, das Schriftstück dem Empfänger zu übermitteln, erschöpft sind, denn die Zustellungsvorschriften dienen auch der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Sie sollen gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Der Erfüllung der Zustellungsvoraussetzungen des § 15 VwZG a.F. kommt insbesondere deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil das öffentlich ausgehängte Schriftstück nach dem Ablauf einer bestimmten Frist als zugestellt „gilt” oder „anzusehen” ist (§ 15 Abs. 3 Satz 1 und 2 VwZG a.F.), dem Empfänger also nicht übergeben und regelmäßig auch inhaltlich nicht bekannt wird. Die Zustellungsfiktion ist verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Sie ist nur als „letztes Mittel” der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl. Beschluss des BFH vom 16. Mai 2002 VII S 22/01, BFH/NV 2002, 1167 und Urteil des BFH vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, Haufe-Index 2320106).

    Eine Zustellung gemäß § 14 Abs. 1 VwZG a.F. in die Schweiz versprach keinen Erfolg. Sie war nicht möglich, da die dortigen Behörden keine Amts- oder Rechtshilfe bei der Zustellung in Steuersachen leisten.

    Alle anderen Möglichkeiten, das Schriftstück dem Empfänger zu übermitteln, waren erschöpft. Insbesondere hatte das FA den Kläger mit dem Schreiben vom 29. Januar 2004 aufgefordert, einen Zustellungsbevollmächtigten in der Bundesrepublik Deutschland zu bestellen (vgl. Urteil des BFH vom 13. März 1973 VII R 53/70 BStBl II 1973, 644). Die Zustellung der Aufforderung in die Schweiz z.B. mit Einschreiben/Rückschein war völkerrechtlich nicht zulässig. Das FA hat daher zutreffend das Schreiben mit einfachem Brief übermittelt. Ein Absendevermerk befindet sich auf der Aktenausfertigung des Schreibens, das korrekt adressiert war. Anhaltspunkte dafür, dass das Schreiben durch das FA nicht ordnungsgemäß abgesandt worden wäre, sind nicht ersichtlich. Bei der vom FA verwendeten Adresse handelt es sich um die berufliche/betriebliche Anschrift des Klägers, sie ist identisch mit der der Firma. Da völkerrechtlich das FA die Aufforderung, einen Zustellbevollmächtigten zu benennen, in der Schweiz nicht zustellen durfte, hatte es keine Möglichkeit, Sorge dafür zu tragen, einen Zugang des Schreibens vom 29. Januar 2004 nachzuweisen zu können. Da die Anforderungen an die Behörde, das Erforderliche getan zu haben, nicht überspannt werden dürfen (vgl. Urteil des BFH vom 13. Januar 2005 V R 44/03, BFH/NV 2005, 998), hat das FA durch den Versuch einen Zustellungsbevollmächtigten benennen zu lassen, seine Pflicht erfüllt.

    Die formellen Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung nach § 15 VwZG a.F. sind erfüllt. Der Haftungsbescheid wurde aufgrund der Anordnung vom 25. März 2004 an der Stelle, die von dem FA hierfür allgemein bestimmt war, am 6. April 2004 angeheftet und am 23. April 2004 abgenommen.

    b) Unschädlich ist, dass das FA dem Kläger nicht formlos die öffentliche Zustellung und den Inhalt des Schriftstückes mitteilte (§ 15 Abs. 5 S. 2 VwZG a.F.). Nach § 15 Abs. 5 S. 3 VwZG a.F. ist die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung allein von der Beachtung der Absätze 2 und 3 abhängig.

    c) Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Einspruchsfrist nach § 110 AO ist nicht möglich. Die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung hängt nicht davon ab, ob der Betroffene von dem entsprechenden Bescheid Kenntnis hat, d.h. die grundsätzlichen Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten – liegen nicht vor. Im Übrigen wäre eine Wiedereinsetzung durch Zeitablauf ausgeschlossen (§ 110 Abs. 3 AO). Der Wiedereinsetzungsantrag oder die versäumte Handlung wären spätestens im Jahr 2005 erforderlich gewesen.

    2. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

    3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO.

    VorschriftenVwZG § 14, VwZG § 15, AO § 122 Abs. 5, GG Art. 103 Abs. 1