23.03.2012
Finanzgericht Rheinland-Pfalz: Urteil vom 08.02.2012 – 2 K 2259/10
Einkommensteuer-Vorauszahlungen sind gemäß § 37 Abs. 2 AO zu erstatten, wenn das Finanzamt einen Jahressteuerbescheid wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr erlassen kann.
Tatbestand
Streitig ist die Verpflichtung des beklagten Finanzamts, dem Kläger geleistete Einkommensteuer-Vorauszahlungen wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung des Steueranspruchs zu erstatten.
Für den in den Streitjahren 1999 und 2000 ledigen Kläger wurden Vorauszahlungen auf Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag 1999 und 2000 wie folgt festgesetzt:
Vorauszahlungen 1999:
ESt | SolZ | |
Bescheid v. 25. November 1998 | 2.052,00 DM | 97,00 DM |
Bescheid v. 18. März 1999 | 0,00 DM | 0,00 DM |
Bescheid v. 28. Juli 2000 | 10.100,00 DM | 507,00 DM |
12.152,00 DM | 604,00 DM | |
= 6.213,22 € | = 308,82 € |
Vorauszahlungen 2000:
Bescheid v. 28. Juli 2000 | 1.770,00 DM | 582,00 DM |
= 6.017,90 € | = 297,58 € |
Die Vorauszahlungen wurden vom Kläger vollständig entrichtet.
In der Folgezeit reichte der Kläger für die Jahre 1999 und 2000 keine Einkommensteuererklärungen beim Beklagten ein. Zur Begründung verwies er im Wesentlichen auf ein gegen ihn am 22. Februar 2001 eingeleitetes Steuerstrafverfahren wegen des Verdachts der Steuerverkürzung zugunsten seiner damaligen Lebensgefährtin und jetzigen Ehefrau und die damit im Zusammenhang stehende Beschlagnahme seiner Buchhaltungskonten und -belege.
Der Beklagte hat bis heute keine Jahresveranlagung zur Einkommensteuer 1999 und 2000 durchgeführt.
Mit Schreiben vom 24. April 2008 beantragte der Kläger, ihm die geleisteten Vorauszahlungen auf Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für die Jahre 1999 und 2000 zu erstatten. Der Beklagte legte das Schreiben als Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides nach § 218 Abs. 2 AO i.V. mit § 37 Abs. 2 AO aus und erließ unter dem 31. August 2009 einen Abrechnungsbescheid, wonach hinsichtlich der Vorauszahlungen auf Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für die Jahre 1999 und 2000 kein Erstattungsanspruch des Klägers bestehe.
Hiergegen legte der Kläger am 10. September 2009 Einspruch ein, zu dessen Begründung er im Wesentlichen sinngemäß vortrug, die zum 31. Dezember 2006 (ESt/SolZ 1999) bzw. zum 31. Dezember 2007 (ESt/SolZ 2000) eingetretene Festsetzungsverjährung habe dazu geführt, dass sich die Vorauszahlungsbescheide gemäß § 124 Abs. 2 AO „auf andere Weise” erledigt hätten und die geleisteten Vorauszahlungen daher wegen Wegfall ihres rechtlichen Grundes zu erstatten seien.
Mit Einspruchsentscheidung vom 20. August 2010 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Eine Zahlung ohne rechtlichen Grund nach § 37 Abs. 2 AO sei nicht gegeben. Die Vorauszahlungsbescheide seien nicht in einem Steuerbescheid aufgegangen und hätten sich somit nicht auf andere Weise erledigt. Sie seien daher weiterhin der Rechtsgrund für die geleisteten Zahlungen. Mit Ablauf der Festsetzungsverjährung werde der Vorauszahlungsbescheid nach § 164 Abs. 4 Satz 1 AO zu einem endgültigen Bescheid, der Grundlage für die Verwirklichung des Steueranspruchs sei.
Mit seiner hiergegen gerichteten und am 23. September 2010 bei Gericht eingegangenen Klage trägt der Kläger im Wesentlichen vor, die Vorauszahlungsbescheide hätten sich nach § 124 Abs. 2 AO „auf andere Weise” erledigt, da die Vorauszahlungen wegen der eingetretenen Festsetzungsverjährung nicht mehr auf die endgültige Steuerschuld angerechnet werden könnten. Insbesondere werde auf das Urteil des FG Hamburg vom 05. Dezember 1986 (EFG 1988, 577) verwiesen, wonach die bestandskräftigen Vorauszahlungsbescheide keinen Rechtsgrund für das endgültige Behaltendürfen der geleisteten Vorauszahlungen schafften.
Der Kläger beantragt sinngemäß und schriftsätzlich,
den Abrechnungsbescheid vom 31. August 2009 in der Fassung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 20. August 2010 dahingehend zu ändern, dass dem Kläger die geleisteten Vorauszahlungen auf Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für die Jahre 1999 und 2000 erstattet werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er nimmt zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung Bezug und trägt ergänzend vor, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei eine Erledigung von Vorauszahlungsbescheiden „auf andere Weise” im Sinne von § 124 Abs. 2 AO nur in Fällen angenommen worden, in denen die Finanzbehörde Jahressteuerbescheide erlassen habe, die wegen bereits eingetretener Festsetzungsverjährung später wieder aufgehoben worden seien.
Gründe
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Der Antrag des klägerischen Prozessbevollmächtigten, den Termin zur mündlichen Verhandlung am 08. Februar 2012 aufzuheben, war abzulehnen. Es wurden keine erheblichen Gründe i.S. von § 155 FGO i.V mit § 227 Abs. 1 ZPO vorgetragen bzw. glaubhaft gemacht. Die Verhinderung eines Prozessvertreters stellt keinen „erheblichen Grund” i.S. von § 227 Abs. 1 ZPO dar, wenn die Prozessvollmacht – wie hier (vgl. Bl. 45 d. PA) - einer Sozietät erteilt worden ist und der betreffende Termin durch ein anderes Mitglied der Sozietät sachgerecht wahrgenommen werden könnte (vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 22. Dezember 1997, X B 23/96, BFH/NV 1998, 726). Soweit der Unterzeichner des Terminsaufhebungsantrags vorträgt, er habe von dem Termin „soeben erst Kenntnis erlangt”, ist dies vor dem Hintergrund der bereits seit längerem bekannten schweren Erkrankung des Rechtsanwalts Dr. O nicht nachvollziehbar und wohl nur durch Mängel in der Büroorganisation zu erklären.
2. Entgegen der Ansicht des Beklagten haben sich die Vorauszahlungsbescheide mit dem Eintritt der Festsetzungsverjährung und dem dadurch bedingten Erlöschen des Steueranspruchs (§ 47 AO) „auf andere Weise” i.S. von § 124 Abs. 2 AO erledigt. Damit ist der rechtliche Grund für die Vorauszahlungen weggefallen; diese sind folglich zu erstatten (§ 37 Abs. 2 AO).
Soweit ein Teil des Schrifttums und der finanzgerichtlichen Rechtsprechung meint, ein Vorauszahlungsbescheid bleibe auch dann Rechtsgrundlage für die Erhebung der Vorauszahlungen, wenn wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist kein Jahressteuerbescheid mehr ergehen könne (vgl. Boeker, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 37, Rz. 49; Drenseck, in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 37, Rz. 1; Drüen, in Tipke/Kruse, AO, § 37, Rz. 45; Brockmeyer, in Klein, AO, 9. Auflage, § 37, Rz. 7; Stolterfoht, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 37, Rz. A 18; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 1995, 3 K 149/91, EFG 1995, 1039), kann dem wegen des vorläufigen Regelungscharakters von Vorauszahlungsbescheiden nicht gefolgt werden (a.A. auch Güroff, in Beermann/Gosch, AO, § 124, Rz. 14.2; Koops/Scharfenberg, DStR 1995, 552; Niedersächsisches FG, Urteil vom 20. Oktober 2009, 15 K 160/09, EFG 2010, 538; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 01. April 2003, 5 B 115/01, NVwZ-RR 2003, 588; FG Hamburg. Urteil vom 05. Dezember 1986, VI 354/85, EFG 1988, 577; offengelassen durch BFH, Urteil vom 13. Februar 2006, VII R 55/95, BFH/NV 1996, 454).
Im Vorauszahlungsbescheid werden Vorauszahlungen auf die für den laufenden Veranlagungszeitraum voraussichtlich geschuldete Steuerschuld festgesetzt (vgl. § 37 Abs. 1 EStG), die – soweit sie entrichtet worden sind – auf die Einkommensteuer angerechnet werden (§ 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG). Der Vorauszahlungsbescheid trifft damit lediglich eine vorläufige Regelung bis zur endgültigen Steuerfestsetzung. Die auf seiner Grundlage geleisteten Vorauszahlungen stehen unter dem Vorbehalt, dass später eine endgültige Steuer in dieser Höhe festgesetzt wird (so ausdrücklich BFH, Urteil vom 13. März 1979, III R 79/77, BStBl II 1979, 461 zu Vermögenssteuervorauszahlungen). Ergeht ein solcher Jahressteuerbescheid, ist der Vorauszahlungsbescheid unzweifelhaft i.S. von § 124 Abs. 2 AO „auf andere Weise” erledigt (vgl. BFH, Beschluss vom 03. Juli 1995, GrS 3/93, BStBl II 1995, 730). Gleiches muss nach Ansicht des Senats gelten, wenn ein Jahressteuerbescheid nicht mehr ergehen kann, weil der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung nach § 47 AO erloschen ist. Denn die Regelungswirkung eines Vorauszahlungsbescheids ist von vornherein sachlich und zeitlich begrenzt. Steht fest, dass es zu keiner endgültigen Festsetzung der Steuerschuld und damit auch zu keiner Anrechnung nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG mehr kommen kann, wird die in dem Vorauszahlungsbescheid enthaltene vorläufige Regelung gegenstandslos. Der Vorauszahlungsbescheid erledigt sich dann i.S. von § 124 Abs. 2 AO „auf andere Weise” mit der Folge, dass der Rechtsgrund für die Vorauszahlungen entfällt und diese gemäß § 37 Abs. 2 AO zu erstatten sind.
Entgegen der Ansicht von Stolterfoht (in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, aaO) bleibt auch die Vorauszahlungsschuld nicht weiterhin die causa für die erbrachten Vorauszahlungen. Denn die Vorauszahlungsschuld kann aufgrund ihres vorläufigen Charakters nicht fortbestehen, wenn die endgültige Steuerschuld bereits gemäß § 47 AO wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung erloschen ist. Anderenfalls würden dem Fiskus Einnahmen verschafft, die ihm wegen § 47 AO endgültig nicht geschuldet werden, was nicht dem Zweck von Vorauszahlungen entspricht (vgl. Niedersächsisches FG, aaO). Ziel der Erhebung von Vorauszahlungen ist es insbesondere nicht, die Finanzverwaltung des Risikos der rechtzeitigen Steuerfestsetzung zu entheben (Koops/Scharfenberg, aaO).
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass es sich bei der Festsetzung einer Vorauszahlung um eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung handelt (§ 164 Abs. 1 Satz 2 AO) und der Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 4 Satz 1 AO entfällt, wenn die Festsetzungsfrist abläuft. Soweit z.T. angenommen wird, der Vorauszahlungsbescheid werde mit Ablauf der Festsetzungsfrist zu einem „endgültigen” Bescheid mit der Folge, dass er Rechtsgrund für die geleisteten Vorauszahlungen bleibe (so Boeker, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, aaO; Brockmeyer, in Klein, aaO), wird übersehen, dass der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht zu einer Änderung des vorläufigen Regelungscharakters des Vorauszahlungsbescheids führt, sondern lediglich bewirkt, dass die Steuerfestsetzung nicht mehr nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO aufgehoben oder geändert werden kann (vgl. auch BFH, Urteil vom 13. Februar 1996, VII R 55/95, BFH/NV 1996, 454 unter Ziff. 2 b) a.E.).
Im Streitfall ist die Festsetzungsfrist gemäß §§ 169 Abs. 2 Nr. 1, 170 Abs. 2 Nr. 1 AO zum 31. Dezember 2006 (ESt/SolZ 1999) bzw. zum 31. Dezember 2007 (ESt/SolZ 2000) abgelaufen. Der Ablauf der Festsetzungfrist war insbesondere nicht nach § 171 Abs. 14 AO gehemmt. Zwar endet die Festsetzungsfrist für einen Steueranspruch gemäß § 171 Abs. 14 AO nicht, „soweit ein damit zusammenhängender Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 noch nicht verjährt ist (§ 228)”. Die Vorschrift ist aber nicht einschlägig (so auch Stolterfoht, in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, aaO; Sächsisches Oberverwaltungsgericht vom 01. April 2003, aaO; a.A. Banniza, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Vorbemerkung zu §§ 169 – 171; Rüsken, in Klein, AO, 9. Auflage, § 171, Rz. 120, der eine Erstattung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen allerdings gleichwohl ablehnt, wenn die Jahressteuer nicht mehr festgesetzt werden kann). Denn § 171 Abs. 14 AO soll verhindern, dass Steuerpflichtige Zahlungen, die sie bereits aufgrund eines Steuerbescheids geleistet haben, später mit der Behauptung zurückfordern können, der Steuerbescheid sei nicht wirksam bekannt gegeben worden, wenn das Finanzamt wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung die Steuerfestsetzung nicht durch wirksame Bekanntgabe des Steuerbescheids nachholen könnte (vgl. BT-Drucksache 10/1636, 44). Auf die vorliegende Fallgestaltung passt die Vorschrift hingegen nicht. Sie muss daher vor dem Hintergrund der Motive des Gesetzgebers eng ausgelegt werden. Ein mit dem Steueranspruch „zusammenhängender” Erstattungsanspruch i.S. von § 171 Abs. 14 AO liegt deshalb nicht vor, wenn dieser nicht die Erstattung von Zahlungen auf die (endgültige) Steuerschuld, sondern die Erstattung von Vorauszahlungen betrifft. Hierfür spricht auch, dass die Finanzverwaltung – anders als in dem o.g. Fall – nicht schutzwürdig ist, wenn sie den Steueranspruch aufgrund eigener Versäumnisse verjähren lässt. Im Übrigen ist zu beachten, dass der auf die geleisteten Vorauszahlungen gerichtete Erstattungsanspruch – nach hier vertretener Auffassung – mit Ablauf der Festsetzungsfrist entsteht und deshalb nicht zur Verlängerung eben dieser bereits abgelaufenen Festsetzungsfrist führen kann. Die gegenteilige Annahme beruht auf einer unzulässigen Umkehrung der Normaussage (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht vom 01. April 2003, aaO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit mit Abwendungsbefugnis auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V. mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache sowie zur Fortbildung des Rechts zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 1. Alt. FGO).