28.06.2013
Finanzgericht München: Urteil vom 26.10.2012 – 8 K 636/10
Der Erlass oder die Änderung eines Folgebescheides ist solange möglich, als der Grundlagenbescheid nicht zutreffend ausgewertet
ist.
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
In der Streitsache
hat der 8. Senat des Finanzgerichts München durch … sowie die ehrenamtlichen Richter … und … auf Grund der mündlichen Verhandlung
vom 26. Oktober 2012 für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Streitig ist, ob die fehlerhafte Auswertung eines Verlustfeststellungsbescheides vom FA berichtigt werden durfte.
Die Kläger werden für das Streitjahr 2006 als Eheleute beim Beklagten – dem Finanzamt (FA) – zusammen veranlagt.
Mit Bescheid vom 13. Juni 2007 stellte das FA Bad Homburg v. d. Höhe den verbleibenden Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften
zur Einkommensteuer (ESt) zum 31. Dezember 2005 mit 52.150 EUR gesondert fest.
Am 23. Januar 2008 ging beim beklagten FA die ESt-Erklärung für das Streitjahr ein, die das FA im Wesentlichen wie erklärt
veranlagte. Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zog das FA einen Betrag von 52.150 EUR „Verlustvortrag” ab.
Die daraufhin ermittelte Steuer setzte es mit Bescheid vom 27. März 2008 (ohne Vorbehalt der Nachprüfung) auf 782.474 EUR
fest. Gleichzeitig stellte es den verbleibenden Verlustvortrag zum 31. Dezember 2006 mit 2.281 EUR fest. Dieser berechnet
sich lt. Bescheid aus einem Verbrauch des zum Schluss des Vorjahres festgestellten Verlusts von 52.150 EUR und einem neu im
Jahr 2006 nicht ausgeglichenen Verlust von 2.281 EUR.
Im Mai 2009 bemerkte das FA, dass der Verlust im Datenspeicher falsch gespeichert worden war und änderte die ESt-Veranlagung
für das Streitjahr nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) dahingehend, dass es bei der Ermittlung des zu versteuernden
Einkommens den Verlust nicht mehr berücksichtigte (ESt-Änderungsbescheid vom 10. Juni 2009). Entsprechend berichtigte es den
Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrages zum 31. Dezember 2006 und setzte mit Bescheid
vom gleichen Tag den verbleibenden Verlustvortrag für die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften auf 54.431 EUR fest.
Gegen den ESt-Änderungsbescheid wandten sich die Kläger mit ihrem Einspruch und nach dessen Erfolglosigkeit in der Einspruchsentscheidung
(EE) vom 14. Januar 2010 mit ihrer Klage. Sie machen geltend, dass eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nur zulässig
sei, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Diese Voraussetzung sei im Streitfall nicht gegeben.
Eine Änderungsmöglichkeit aufgrund nachträglicher Erkenntnis eines Rechtsirrtums sehe das Gesetz nicht vor.
Die Kläger beantragen,
unter Abänderung der Einkommensteuerbescheide für 2006 vom 10. Juni und 04. Dezember 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 14. Januar 2010 die Einkommensteuer für 2006 unter erneuter Berücksichtigung des mit Bescheid vom 13. Juni 2007 festgestellten
Verlustvortrages in Höhe von 52.150,- EUR niedriger festzusetzen,
hilfsweise die Zulassung der Revision.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es verweist im Wesentlichen auf die EE.
Auf die EE und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2012 wird verwiesen.
II.
1. Die Klage ist nicht begründet.
Das FA war zu einer Änderung des ESt-Bescheides berechtigt und verpflichtet.
a. Nach § 10d Abs. 2 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) in der für das Streitjahr maßgebenden Fassung (a.F.) sind nicht ausgeglichene
negative Einkünfte, die nicht nach § 10d Abs. 1 EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte des vorangegangenen Veranlagungszeitraums
abgezogen worden sind, in den folgenden Veranlagungszeiträumen vom Gesamtbetrag der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben,
außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugbeträgen abzuziehen (Verlustvortrag). Gemäß § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG a.F.
ist der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustvortrag getrennt nach Einkunftsarten gesondert festzustellen.
Dieser Feststellungsbescheid ist nach § 182 Abs. 1 Satz 1 AO für die Einkommensteuerfestsetzung des Folgejahres bindend (Urteil
des Bundesfinanzhofs vom 12. Juni 2002 XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl. II 2002, 681). Soweit ein Bescheid nach § 10d Abs.
2 Satz 1 EStG erlassen, aufgehoben oder geändert wird, ist der für das Folgejahr erlassene Einkommensteuerbescheid daher entsprechend
anzupassen (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO).
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO begründet eine „absolute Anpassungsverpflichtung”. Die Vorschrift stellt die Anpassung des Folgebescheids
nicht in das Ermessen der Finanzbehörden. Sie bezweckt die Ermittlung und Festsetzung der zutreffenden Steuer, wobei sie der
materiellen Richtigkeit des Folgebescheids den Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits ergangenen Folgebescheids einräumt
(z.B. BFH-Urteil vom 24. September 2009 III R 19/06, BFH/NV 2010, 164). Vorausgesetzt wird lediglich, dass der Grundlagenbescheid
– wie im Streitfall unstreitig – wirksam ist.
Die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheids wird nach der Rspr. nicht beseitigt, wenn das für den Erlass des Folgebescheids
zuständige FA einen ihm bereits bekannt gegebenen Grundlagenbescheid übersehen hat (vgl. BFH-Urteil vom 29. Juni 2005 X R
31/04, BFH/NV 2005, 1749, m.w.N.). Solange die im Grundlagenbescheid gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen vom FA
im Folgebescheid nicht berücksichtigt sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt. Das bedeutet,
dass auch Fehler, die bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen sind, nachträglich richtigzustellen
sind (BFH-Urteil vom 4. September 1996 XI R 50/96, BFHE 181, 388, BStBl II 1997, 261). Die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides
beschränkt sich nicht auf eine bloße mechanische Übernahme seines Inhalts in den Folgebescheid. Sie steht vielmehr – weitergehend
– jedem Ansatz der gesondert festzustellenden Besteuerungsgrundlage im Folgebescheid entgegen, der dem Inhalt des Grundlagenbescheides
widersprechen würde (BFH-Urteil vom 15. Februar 2001 IV R 9/00, BFH/NV 2001, 1007).
b. Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze war das FA im Streitfall berechtigt und verpflichtet, den Änderungsbescheid zu erlassen,
um ihn an den Grundlagenbescheid anzupassen.
Die Kennzeichnung als „Verlust aus privaten Veräußerungsgeschäften” im Grundlagenbescheid steht einer Berücksichtigung als
allgemeiner „Verlustvortrag” im Folgebescheid entgegen. Dies gilt nicht nur dann, wenn – wie nach dem Akteninhalt (Bl. 50
der ESt-Akte) im Streitfall naheliegend – lediglich ein Verwechslungsfehler bei der Eingabe der Daten des Grundlagenbescheides
in das Computersystem unterlaufen ist und daher insoweit eine offenbare Unrichtigkeit vorläge. Vielmehr umfasst der Grundsatz
des Vorranges der materiellen Richtigkeit des Folgebescheides auch den Fall, dass der für den Erstbescheid zeichnende Beamte
die rechtliche Fehlvorstellung gehabt hätte, dass Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften auch mit anderen Einkünften
verrechenbar wären (zu einem vergleichbaren Fehler: BFH-Urteil vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988,
711, Rz. 26). Die Bestandskraft des Folgebescheides steht insoweit nach der oben zitierten Rspr. stets unter dem Vorbehalt
der materiell richtigen Auswertung des Grundlagenbescheides.
2. Die Revision wird nicht zugelassen, da kein Revisionsgrund ersichtlich ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.