25.09.2013
Finanzgericht Köln: Urteil vom 20.06.2013 – 6 K 2552/10
Die Änderung eines Feststellungsbescheides, in dem ein Verlust aus Spekulationsgeschäften erhöht wird, führt nicht dazu, die
fehlerhaft unterbliebene Verrechnung des ursprünglich festgestellten Verlusts aus Spekulationsgeschäften nachträglich zu korrigieren.
Eine Änderung des Folgebescheides zur Einkommensteuer kann in diesem Fall nur im Umfang der Verlusterhöhung erfolgen.
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat der 6. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht
… ehrenamtliche Richterin … ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 20.06.2013 für Recht
erkannt:
Tatbestand
Die Kläger sind Eheleute und wurden im Streitjahr 1992 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin erzielte in diesem
Jahr Einkünfte aus verschiedenen Beteiligungen, unter anderem als Gesellschafterin der D Vermögensverwaltungs GbR. Für diese
GbR wurde durch das zuständige Finanzamt A am 08.12.1994 ein Feststellungsbescheid für 1992 erlassen, durch den der Klägerin
neben Einnahmen und Werbungskosten aus Kapitalvermögen ein Verlust aus Spekulationsgeschäften in Höhe von 583.967 DM zugewiesen
wurde. Sonstige Verluste aus Spekulationsgeschäften erzielten die Kläger im Streitjahr nicht. Im Rahmen ihrer am 24.11.1994
eingereichten Einkommensteuererklärung setzten die Kläger sowohl die festgestellten Einnahmen und Werbungskosten aus der GbR
als Einkünfte aus Kapitalvermögen an als auch in der Rubrik Spekulationsgeschäfte (Zeile 50 der Anlage KSO) einen Betrag in
Höhe von -583.967 DM mit dem maschinenschriftlichen Zusatz „D Vermögensverw. GbR”.
In dem daraufhin ergangenen erstmaligen Einkommensteuerbescheid vom 20.03.1995 blieb der Spekulationsverlust unberücksichtigt.
In den Erläuterungen zum Bescheid wird hierzu ausgeführt: „Der Spekulationsverlust konnte nicht zum Ansatz kommen, da dieser
nur mit einem im gleichen Jahr erzielten Spekulationsgewinn ausgeglichen werden kann (vgl. § 23 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes
– EStG –).” Dieser Bescheid wurde bestandskräftig, ebenso wie die zahlreichen in der Folgezeit ergangenen Änderungsbescheide,
in denen der Spekulationsverlust nicht mehr erwähnt wurde, zuletzt der Bescheid vom 20.11.2000.
Am 27.10.2000 erließ das Finanzamt A für die GbR einen (u.a. für 1992) geänderten Feststellungsbescheid, durch den der Klägerin
neben geänderten Einnahmen aus Kapitalvermögen Einkünfte aus Spekulationsgeschäften in Höhe von nunmehr -588.378 DM zugewiesen
wurden. Diesen Änderungsbescheid wertete der Beklagte aus, indem er am 01.03.2001 einen geänderten Einkommensteuerbescheid
erließ, der gegenüber dem Vorbescheid zu einer Herabsetzung des festgesetzten Steuer führte, in dem aber der Spekulationsverlust
weiterhin unberücksichtigt blieb. Gegen diesen Bescheid legten die Kläger durch Schreiben vom 03.04.2001 Einspruch ein und
machten geltend, dass die Einschränkung der Verlustverrechnung von Spekulationsverlusten nach § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG (vormals:
§ 23 Abs. 4 Satz 3 EStG) verfassungswidrig sei. Dieses Einspruchsverfahren ruhte zunächst.
Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) in der Folgezeit in verfassungskonformer Auslegung entschieden hatte, dass Spekulationsverluste
aus den Jahren vor 1999 grundsätzlich uneingeschränkt ausgleichsfähig sind (etwa Urteil vom 01.06.2004 IX R 35/01, BStBl II
2005, 26), erließ der Beklagte am 02.07.2010 einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem er einen Spekulationsverlust
in Höhe von 4.413 DM berücksichtigte. Hierbei handelte es sich um den Betrag, um den der Spekulationsverlust durch den geänderten
Feststellungsbescheid vom 27.10.2000 gegenüber dem ursprünglichen Feststellungsbescheid erhöht wurde. In Höhe des ursprünglich
festgestellten Verlustes sei, so der Beklagte, angesichts der Bestandskraft der vorhergehenden Einkommensteuerbescheide keine
Änderung möglich. Er wies daher durch Einspruchsentscheidung vom 22.07.2010 den Einspruch der Kläger im Übrigen als unbegründet
zurück.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Kläger geltend machen, dass der Ansatz des gesamten Spekulationsverlustes
nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geboten sei. Die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides verpflichte
das Finanzamt für den Folgebescheid, die zutreffenden Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen; sie begründe eine
„absolute Anpassungsverpflichtung”. Dies gelte insbesondere auch dann, wenn im Rahmen der Umsetzung früherer Feststellungsbescheide
materiell-rechtliche Fehler gemacht worden seien und zwar unabhängig davon, ob der materiell-rechtlich fehlerhafte Folgebescheid
angefochten worden sei oder nicht. Maßstab für die Änderung des Folgebescheides sei in derartigen Konstellationen der vorausgegangene
(nicht vollständig ausgewertete) Grundlagenbescheid, nicht aber der vorausgegangene (und wegen unvollständiger bzw. unzutreffender
Auswertung des Grundlagenbescheides unrichtige) Folgebescheid. Da vorliegend die Spekulationsverluste auf Ebene der D Vermögensverwaltungs
GbR angefallen und auch dort durch Feststellungsbescheid festgestellt worden seien, hätten die Kläger Anspruch auf rechtlich
einwandfreie vollständige Auswertung des entsprechenden Feststellungsbescheides.
Der ursprüngliche Feststellungsbescheid sei seinerzeit nicht vollständig ausgewertet worden. Es sei zumindest für die Kläger
nicht erkennbar gewesen, dass just der Spekulationsverlust aus der D Verwaltungs GbR mit Absicht unberücksichtigt geblieben
sei.
Die Kläger beantragen,
unter Abänderung des Bescheids für 1992 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer vom 01.03.2001, geändert
durch Bescheid vom 02.07.2010, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.07.2010 die Einkommensteuer für 1992 unter Berücksichtigung
von Spekulationsverlusten in Höhe von insgesamt 588.378 DM festzusetzen,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Er vertritt auch unter Bezugnahme auf seine Schreiben im Einspruchsverfahren die Ansicht, dass die Frage, ob ein festgestellter
Spekulationsverlust ausgleichs- bzw. verrechnungsfähig sei, zum Regelungsinhalt des Einkommensteuerbescheides und nicht des
Grundlagenbescheides gehöre und damit nicht der Bindungswirkung nach § 182 Abs. 1 AO und der Anpassungsverpflichtung nach
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO unterliege. Die geänderte Rechtsauffassung zur Ausgleichsfähigkeit von Verlusten aus Einkünften
nach § 23 EStG nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts könne sich daher nur im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung
niederschlagen. Da im Rahmen der ursprünglichen Einkommensteuerfestsetzung der damals festgesetzte Spekulationsverlust aus
der D Vermögensverwaltungs GbR erkennbar wegen der damals gültigen Regelung in § 23 Abs. 4 EStG unberücksichtigt geblieben
sei, sei der ursprüngliche Feststellungsbescheid seinerzeit vollständig ausgewertet worden. Eine Anpassungsverpflichtung an
den geänderten Feststellungsbescheid nach § 175 AO bestehe daher nur insoweit, als ein höherer Verlust festgestellt worden
sei. Im Übrigen scheitere ein höherer Ansatz an der Bestandskraft des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides sowie an der
Anfechtungsbeschränkung des § 351 Abs. 1 AO.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Der Beklagte hat zu Recht die Berücksichtigung eines den Betrag von 4.413 DM übersteigenden Spekulationsverlustes abgelehnt.
Die insoweit allein in Frage kommende Änderungsvorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vermag das Änderungsbegehren der
Kläger nicht zu tragen.
Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid,
dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, aufgehoben oder geändert wird. Diese Bindungswirkung (vgl. § 171 Abs.
10, § 182 Abs. 1 AO) verpflichtet das für den Erlass eines Folgebescheids zuständige Finanzamt, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid
zu ziehen. Sie beschränkt sich mithin nicht auf die bloße mechanische Übernahme von Zahlen, sondern fordert, dass der Folgebescheid
zutreffend und vollständig an den Regelungsinhalt angepasst wird.
Diese Grundsätze gelten auch, wenn ein zunächst nicht oder fehlerhaft ausgewerteter Grundlagenbescheid später geändert wird
und das Finanzamt aus dem Änderungsbescheid die gebotenen Konsequenzen zieht (BFH-Urteile vom 14.04.1988 IV R 219/85, BStBl
II 1988, 711; vom 29.06.2005 X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749, m.w.N.).
Die Aufgabe, den Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen, rechtfertigt allerdings keine Wiederaufrollung der gesamten
Steuerveranlagung; sie reicht nur so weit, wie es die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids verlangt. Der Erlass, die Änderung
oder die Aufhebung eines Grundlagenbescheids darf deshalb nicht zum Anlass genommen werden, für den Folgebescheid bedeutsame
Besteuerungsgrundlagen zu ändern, wegzulassen oder erstmals aufzunehmen, die weder Gegenstand des Grundlagenbescheids sind
noch durch seinen Regelungsinhalt beeinflusst werden (BFH-Beschluss vom 24.09.2008 I B 28/08, BFH/NV 2009, 117).
Nach diesen Grundsätzen kommt eine Berücksichtigung des gesamten Spekulationsverlustes in Höhe von 588.378 DM nicht in Betracht.
Denn der ursprüngliche Feststellungsbescheid vom 08.12.1994, der einen Verlust in Höhe von 583.967 DM festgestellt hatte,
wurde vom Beklagten im Rahmen des Einkommensteuerbescheides vom 20.03.1995 im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vollständig
und zutreffend ausgewertet. Denn in diesem Bescheid wurde der festgestellte und auch von den Klägern in ihrer Einkommensteuererklärung
ausdrücklich erklärte Spekulationsverlust aus der D Vermögensverwaltungs GbR in Höhe von 583.967 DM in der Kennziffer 63 der
Anlage KSO tatsächlich erfasst.
Dass sich dieser Verlust – für die Kläger, wie der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, erkennbar
– wegen der damals geltenden Regelung des § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG nicht auswirkte, steht dem nicht entgegen. Denn die Frage,
ob und in welchem Umfang der festgestellte Spekulationsverlust im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung verrechnet werden
kann, war weder Gegenstand noch Regelungsinhalt des Feststellungsbescheides.
Dementsprechend hat der Erlass des geänderten Feststellungsbescheides nur Bedeutung hinsichtlich der Verlusterhöhung. Der
geänderte Bescheid kann nicht dazu führen, die unterbliebene Verrechnung des ursprünglich festgestellten Verlustes, die sich
angesichts der mittlerweile ergangenen BFH-Rechtsprechung als materiell-rechtlich fehlerhaft erwiesen hat, nachträglich zu
korrigieren. Denn die Frage der Verrechnungsmöglichkeit ist, wie dargelegt, von der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids
nicht umfasst.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird zugelassen gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.