16.02.2006 · IWW-Abrufnummer 060536
Bundesfinanzhof: Urteil vom 19.10.2005 – XI R 64/04
1. Das Bestehen einer ungewissen Verbindlichkeit ist wahrscheinlich, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen. Ein gegen eine dritte Person in einer vergleichbaren Sache ergangenes erstinstanzliches Urteil genügt für sich allein noch nicht, um für das Bestehen einer entsprechenden Verbindlichkeit überwiegende Gründe annehmen zu können.
2. Eine Inanspruchnahme ist wahrscheinlich, wenn der Steuerpflichtige ernstlich damit rechnen musste, aus der Verpflichtung in Anspruch genommen zu werden. Er darf im Hinblick auf seine Inanspruchnahme nicht die pessimistischste Alternative wählen; auch für die Inanspruchnahme müssen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen.
3. Als "wertaufhellend" sind nur die Umstände zu berücksichtigen, die zum Bilanzstichtag bereits objektiv vorlagen und nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung lediglich bekannt oder erkennbar wurden. Der zu beurteilende Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung ist daher auf die am Bilanzstichtag --objektiv-- bestehenden Verhältnisse zu beziehen (Anschluss an BFH-Urteil vom 30. Januar 2002 I R 68/00, BFHE 197, 530, BStBl II 2002, 688).
Gründe:
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind miteinander verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Facharzt für Labormedizin; er ermittelt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. In dem Gebäude, in dem er seine Praxis betreibt, befindet sich auch das Labor einer ärztlichen Laborgemeinschaft, der mehrere im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Hessens (KVH) niedergelassene Vertragsärzte angeschlossen waren. Für ihn bestimmte Proben wurden auch durch den von der Gemeinschaft eingeschalteten Transportdienst (Kurierdienst, Taxi) mit befördert. Auch für diese Proben rechnete der Kläger die Versandkostenpauschale nach Nr. 7103 Bewertungsmaßstab Ärzte (BMÄ) bzw. Ersatzkassen-Gebührenordnung (E-GO) ab. In einem vergleichbaren Fall entschied das Sozialgericht (SG) Mainz durch Urteil vom 8. Oktober 1997 S 1 Ka 160/97 (juris Nr: KSRE076961018), dass die Versandkostenpauschale nur abrechenbar sei, wenn ein Nichtmitglied der Laborgemeinschaft die Durchführung überweisungsfähiger Leistungen veranlasst habe.
Wegen der möglichen Rückforderung dieser Gebühren durch die KVH bildete der Kläger in der Bilanz zum 31. Dezember 1996 eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten in Höhe von 3 081 016 DM. Da der dem Urteil des SG zugrunde liegende Sachverhalt der räumlichen Situation seiner Praxis vergleichbar sei, habe er damit rechnen müssen, dass die KVH auch ihn in Anspruch nehmen werde.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte die Bildung einer Rückstellung wegen nicht ausreichender Gefahr der Inanspruchnahme durch die KVH ab. Der Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 27. März 2002 zurückgewiesen. Das FA war der Auffassung, dass allein infolge des Vorliegens eines noch nicht rechtskräftigen Urteils im Zeitpunkt der Bilanzerstellung mit einer ernsthaften Inanspruchnahme durch die KVH noch nicht zu rechnen gewesen sei. Der Kläger habe keinerlei Schriftverkehr mit der KVH vorgelegt, aus dem sich eine etwaige Inanspruchnahme ergebe.
Dagegen erhoben die Kläger Klage. Die Voraussetzungen für eine Rückstellungsbildung seien im Zeitpunkt der Bilanzerstellung erfüllt gewesen. Dem stehe nicht entgegen, dass später weder das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz (Urteil vom 2. Dezember 1999 L 5 Ka 59/97, Neue Zeitschrift für Sozialrecht --NZS-- 2000, 417) noch das Bundessozialgericht --BSG-- (Urteil vom 31. Januar 2001 B 6 Ka 5/00 R, Medizinrecht --MedR-- 2001, 471) der Auffassung des SG Mainz gefolgt seien.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Entscheidung ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 1152. Zu Recht habe das FA die bilanzsteuerlichen Voraussetzungen zur Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten zum 31. Dezember 1996 verneint. Ein möglicher öffentlich-rechtlicher Rückforderungsanspruch der KVH gegen den Kläger sei zum Bilanzstichtag nicht ausreichend konkretisiert gewesen. Dazu hätte es neben dem Vorliegen einer Grundsatzentscheidung des BSG zu dem streitigen Honorarvergütungsproblem auch zumindest der Kenntnis dieser Entscheidung durch die KVH bedurft.
Selbst wenn aus der Sicht des Klägers nach Kenntniserlangung des erstinstanzlichen Urteils mehr für als gegen die Inanspruchnahme durch die KVH gesprochen habe, reiche dies nicht aus, da eine mögliche Rückforderung der KVH nicht ausreichend konkretisiert gewesen sei. Die mögliche Inanspruchnahme aufgrund der genannten öffentlich-rechtlichen Rückforderung hätte nur dann zur Rückstellungsbildung ausgereicht, wenn sie durch den Gläubiger der Forderung in ausreichender Form zur Kenntnis genommen worden wäre. Dies geschehe frühestens mit Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung bzw. der Kenntniserlangung einer letztinstanzlichen Entscheidung durch die KVH. Denn nach Auskunft der KVH überprüfe diese mögliche Rückforderungsansprüche --soweit sie als Folge von Auslegungsstreitigkeiten im Honorarbereich in Betracht kämen-- regelmäßig erst nach Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung. Da somit die KVH --unabhängig davon, ob sie im Einzelfall das Urteil kenne-- bei Vorliegen eines erstinstanzlichen noch nicht rechtskräftigen Urteils keinerlei Maßnahmen zur Rückforderungsüberprüfung unternehme, sei ein rechtlich nur mögliches Rückforderungsbegehren im Hinblick auf eine Rückstellungsbildung nicht ausreichend konkretisiert worden. Es könne offen bleiben, ob es zur weiteren Konkretisierung notwendig sei, dass die KVH ihre Mitglieder auf entsprechende Urteile hinweise oder sogar individuell anschreibe.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts; in materieller Hinsicht habe das FG § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) verletzt, in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung.
1. Die mögliche Rückforderung der Versandkostenpauschale sei vor dem Bilanzstichtag wirtschaftlich verursacht. Es bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Entstehung der Verbindlichkeit. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KÄV) seien bei sachlich-rechnerischer Unrichtigkeit zur Korrektur des Honorarbescheides berechtigt. Für den Kassenarzt bestünde keinerlei Vertrauensschutz auf die Bestandskraft eines Honorarbescheides. Unter Berücksichtigung der latenten Rückforderungssituation habe der Kläger durch die Kenntniserlangung von dem Urteil des SG Mainz von einer ausreichenden "Rückforderungswahrscheinlichkeit" ausgehen können. Wenn aber die Entstehungswahrscheinlichkeit zu bejahen sei, müsse konsequenterweise auch von einer wahrscheinlichen Inanspruchnahme ausgegangen werden. Das FA verkenne, dass es dem Kläger nicht möglich sei, zu erkennen, unter welchen Voraussetzungen die KVH eine Überprüfung der Honorarbescheide vornehme.
2. Das FG habe es versäumt, zu klären, ob das Urteil des SG Mainz zu einer Überprüfung von Honorarbescheiden seitens der KÄV geführt habe. Das FG habe selbst Ausnahmen für denkbar gehalten, dass nur nach Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung Rückforderungsansprüche geprüft würden. Das Urteil beruhe auf einer generalisierenden Feststellung, ohne den Einzelfall gewürdigt zu haben. Bei entsprechender Sachverhaltsfeststellung hätte sich ergeben können, dass die KÄV Überprüfungsmaßnahmen vorgenommen hätten. Der Vermerk über ein zweites Gespräch, das der Vorsitzende Richter des FG mit der Justitiarin der KVH geführt habe, hätte in das Verfahren eingeführt werden müssen. Die Feststellungen des FG, dass die Rückforderungsansprüche regelmäßig nicht vor Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung geprüft würden, stünden im Widerspruch zu der anderweitigen Feststellung, dass eine solche Überprüfung frühestens bei Vorliegen einer letztinstanzlichen Entscheidung stattfinde.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben und
2. unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 1996 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. März 2002 die Einkommensteuer auf 0 DM herabzusetzen,
3. den negativen Gesamtbetrag der Einkünfte gemäß § 10d EStG zum 31. Dezember 1996 auf 1 868 612 DM (= 955 406 ¤) festzustellen,
4. unter Änderung des Bescheides über den Gewerbesteuermessbetrag 1996 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. März 2002 den Gewerbesteuermessbetrag mit 0 DM festzusetzen,
5. unter Änderung des Bescheides über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes zum 31. Dezember 1996 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. März 2002 den vortragsfähigen Gewerbeverlust auf 3 057 587 DM (= 1 563 319 ¤) festzustellen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
1. Zum Bilanzstichtag sei ein Rückforderungsanspruch noch nicht ausreichend konkretisiert gewesen; es fehle an einer konkreten Verpflichtung. Das SG-Urteil vom 8. Oktober 1997 sei durch das LSG Rheinland-Pfalz aufgehoben worden; diese Entscheidung sei durch das BSG bestätigt worden. Die KVH warte bei Rückforderungsstreitigkeiten immer erst die maßgebliche Entscheidung des BSG ab.
2. Das angefochtene Urteil leide nicht an Verfahrensmängeln. Eine weitere Beweisaufnahme sei nach Verlesen des ersten Aktenvermerks vom 21. Februar 2003 nicht mehr erforderlich gewesen. Die Einführung des zweiten Aktenvermerks in das Verfahren hätte zu keinem anderen Ergebnis geführt. Die Einholung von Auskünften stelle keine Beweiserhebung i.S. des § 81 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dar. Das FG habe auch nicht gegen das Erfordernis der Einzelfallbeurteilung verstoßen.
II. Die Revision ist gemäß § 126 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückzuweisen; das angefochtene Urteil ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Die Verfahrensrügen der Kläger greifen nicht durch. Das FG war nicht verpflichtet, weiter aufzuklären, ob das Urteil des SG Mainz zu einer Überprüfung von Honorarbescheiden seitens anderer KÄV geführt hatte. Für das FG bestand keine Veranlassung, ohne konkrete Anhaltspunkte in diese Richtung weitere Ermittlungen anzustellen. Nach der Auskunft der KVH waren entsprechende Maßnahmen nicht vorgenommen worden. Im Übrigen hätten die Kläger die unterlassene Sachverhaltsaufklärung bereits im Verfahren vor dem FG rügen müssen. Waren die Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren sachkundig vertreten, erfordert die schlüssige Rüge, das FG habe gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verstoßen, die Darlegung, warum die Kläger nicht von sich aus die Erhebung weiterer Beweise oder die Vornahme bestimmter zusätzlicher Ermittlungen spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung beantragt hatten (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. Juni 2003 VIII B 273/02, juris Nr: STRE200350887, und vom 7. April 2005 IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354).
Der Umstand, dass der Vorsitzende des FG in der mündlichen Verhandlung nicht auch den Vermerk über ein zweites Gespräch mit der KVH den Beteiligten zur Kenntnis gegeben hat, hat nicht zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO) geführt; gemäß § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äu ßern konnten. Der Inhalt des in diesem Vermerk festgehaltenen Telefongesprächs mit der Justitiarin der KVH enthielt keine neuen Tatsachen, die für die Beteiligten von Interesse hätten sein können und die der Sache nach über den Inhalt des in dem ersten Vermerk festgehaltenen Gesprächs hinausgingen. Die Justitiarin teilte mit, dass ihr weder das Urteil des SG Mainz noch das des BSG bekannt seien. Auf die Frage, ob es im Ermessen der KÄV stehe, nach einer BSG-Entscheidung Rückforderungsansprüche zu prüfen, verwies sie auf eine nicht näher bezeichnete BSG-Entscheidung, die sie dem FG übermitteln wollte. Zurückgefordert würden in jedem Fall nur "offene" Fälle. Der Vermerk enthält damit keine entscheidungsrelevanten Tatsachen oder Beweisergebnisse, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten und auf die das FG seine Entscheidung gestützt hat.
Auch hat das FG keine sich widersprechenden Feststellungen getroffen. Die Feststellung des FG, dass die Rückforderungsansprüche regelmäßig nicht vor Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung geprüft würden, steht nicht im Widerspruch zu der anderweitigen allgemeinen Feststellung, dass eine solche Überprüfung frühestens bei Vorliegen einer letztinstanzlichen Entscheidung stattfinde. Das FG hat damit zum Ausdruck gebracht, dass eine Überprüfung generell frühestens bei Vorliegen einer letztinstanzlichen Entscheidung vorgenommen werde, dass aber Ausnahmen ("regelmäßig") nicht von vornherein ausgeschlossen sind.
2. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) sind in der Handelsbilanz für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Da diese Verpflichtung zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung gehört, gilt sie auch für die Steuerbilanz (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG). Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH eine betrieblich veranlasste und in der Vergangenheit wirtschaftlich verursachte, aber dem Grunde und/oder der Höhe nach ungewisse Verbindlichkeit gegenüber einem Dritten, sofern wahrscheinlich ist, dass die Verbindlichkeit besteht oder entstehen wird und der Steuerpflichtige in Anspruch genommen wird (ständige Rechtsprechung; z.B. BFH-Urteil vom 25. März 2004 IV R 35/02, BFHE 206, 25; Schmidt/Weber-Grellet, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 24. Aufl., § 5 Rz. 361).
3. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
a) Zum Bilanzstichtag am 31. Dezember 1996 war nicht wahrscheinlich, dass eine Verpflichtung zur Rückzahlung der Versandkostenpauschale bestand oder entstehen würde. Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteile vom 1. August 1984 I R 88/80, BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44, und vom 13. Mai 1998 VIII R 58/96, BFH/NV 1999, 27; vgl. auch Berger/M. Ring in Beck'scher Bilanzkommentar, 5. Aufl., § 249 HGB Anm. 33) ist das dann der Fall, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe für als gegen das Bestehen der Verbindlichkeit sprechen. Eine Verbindlichkeit, auch eine ungewisse Verbindlichkeit, muss bereits eine wirtschaftliche Belastung darstellen (vgl. BFH-Urteile vom 6. April 2000 IV R 31/99, BFHE 192, 64, BStBl II 2001, 536, und vom 19. November 2003 I R 77/01, BFHE 204, 135). Im Streitfall bestanden (zumindest) nicht mehr Gründe für die Verpflichtung zur Rückzahlung der Transportpauschale als dagegen; das gilt selbst dann, wenn man --wie die Kläger vortragen-- den vertragsärztlichen Honorarbescheid lediglich als vorläufige Leistungsbewilligung ansieht, die zudem einer besonderen Überwachung unterliegt, und wenn man von einem --so die Kläger-- "generellen Rückforderungsvorbehalt ohne Vertrauensschutz" ausgeht. Auch in diesem Fall müssen --wie auch bei vertraglichen Verpflichtungen-- gewisse objektiv greifbare Anhaltspunkte für das Bestehen der Rückzahlungspflicht vorliegen. Allein die Möglichkeit des Bestehens einer Rückzahlungspflicht (eine "latente Rückforderungssituation") genügt für sich allein ebenso wenig wie ein gegen eine dritte Person in einer vergleichbaren Sache ergangenes erstinstanzliches Urteil, um überwiegende Gründe für das Bestehen einer entsprechenden Verbindlichkeit annehmen zu können. Anders wäre der Fall möglicherweise zu beurteilen, wenn die KVH den Kläger persönlich in Anspruch genommen hätte (dazu vgl. BFH-Urteil vom 30. Januar 2002 I R 68/00, BFHE 197, 530, BStBl II 2002, 688) oder wenn aufgrund des ergangenen Urteils des SG Mainz der Kläger den Eindruck hätte gewinnen können, dass die KVH dieses Urteil zum Anlass einer generellen Rückforderung nehmen würde oder wenn andere konkrete Umstände dafür gesprochen hätten, dass auch der Kläger mit einer Rückforderung rechnen musste. Dafür bestanden aber keine Anhaltspunkte, so dass ein Bestehen dieser Verbindlichkeit noch nicht wahrscheinlich war.
b) Unabhängig vom Bestehen einer Verbindlichkeit war ebenfalls nicht wahrscheinlich, dass der Kläger ernstlich damit rechnen musste, aus dieser Verbindlichkeit in Anspruch genommen zu werden. Nach der Rechtsprechung des BFH (Beschluss vom 6. Mai 2003 VIII B 163/02, BFH/NV 2003, 1313) darf der Steuerpflichtige im Hinblick auf seine Inanspruchnahme nicht die pessimistischste Alternative wählen; auch für die Inanspruchnahme müssen mehr Gründe dafür als dagegen sprechen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44; BFH-Beschluss vom 22. April 1998 IV B 107/97, BFH/NV 1999, 162; BFH-Urteil in BFHE 197, 530, BStBl II 2002, 688; Berger/M. Ring, a.a.O., § 249 HGB Anm. 42 f.; Schmidt/Weber-Grellet, a.a.O., § 5 Rz. 376, m.w.N.). Erst wenn gewisse Anhaltspunkte für den Kläger bestanden hätten, dass er persönlich mit seiner Inanspruchnahme hätte rechnen müssen, wäre er zum Rückstellungsausweis verpflichtet gewesen. Es hätten also zumindest gewisse Anzeichen dafür sprechen müssen, dass die zuständige KVH die Absicht hatte, den Kläger aufgrund des ergangenen Urteils in Anspruch zu nehmen. Davon kann aber nach den Feststellungen des FG keine Rede sein; der Kläger brauchte noch nicht ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen.
c) Darüber hinaus muss die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme zum Bilanzstichtag gegeben sein (BFH-Urteil vom 28. März 2000 VIII R 77/96, BFHE 191, 339, BStBl II 2002, 227; Schmidt/Weber-Grellet, a.a.O., § 5 Rz. 376, 377). Wertaufhellende Tatsachen können noch in einem bestimmten zeitlichen Rahmen berücksichtigt werden, nicht aber neue Tatsachen. Als "wertaufhellend" sind nur die Umstände zu berücksichtigen, die zum Bilanzstichtag bereits objektiv vorlagen und nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung lediglich bekannt oder erkennbar wurden. Der zu beurteilende Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Bilanzerstellung ist daher auf die am Bilanzstichtag --objektiv-- bestehenden Verhältnisse zu beziehen (BFH-Urteil in BFHE 197, 530, BStBl II 2002, 688).
"Objektiv" bestand am Bilanzstichtag (dem 31. Dezember 1996) noch kein Anhaltspunkt, der auf eine mögliche Inanspruchnahme hätte hindeuten können. Das Urteil des SG Mainz ist erst am 8. Oktober 1997 getroffen worden. Besprochen wird das Urteil in einem in MedR 1999, 315 veröffentlichten Aufsatz (Zwingel, Auslegungssystematik vertragsärztlicher Pauschalerstattungsregelungen am Beispiel der Nr. 7013 EBM); dort wird das Urteil als "bisher nicht veröffentlicht" bezeichnet.