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  • 14.11.2000 · IWW-Abrufnummer 001344

    Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 19.09.2000 – C-454/98

    1.Hat der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt, so verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, ohne dass eine solche Berichtigung vom guten Glauben des Ausstellers der betreffenden Rechnung abhängig gemacht werden darf.


    2.Es ist Sache der Mitgliedstaaten, das Verfahren festzulegen, in dem zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, wobei diese Berichtigung nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen darf.


    URTEIL DES GERICHTSHOFES

    19. September 2000 (1)

    Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Möglichkeit einer Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer vorzusehen - Voraussetzungen - Guter Glaube des Ausstellers der Rechnung

    In der Rechtssache C-454/98
    betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom Bundesfinanzhof (Deutschland) in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten

    XXX

    vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 21 Nummer 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1)
    erlässt

    DER GERICHTSHOF
    unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida (Berichterstatter) und L. Sevón sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet, P. Jann, H. Ragnemalm, M. Wathelet und V. Skouris,
    Generalanwalt: N. Fennelly

    Kanzler: R. Grass
    unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
    -der Schmeink & Cofreth AG & Co. KG, vertreten durch die Steuerberater J. Hartmann und A. Schiller,
    -der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat W.-D. Plessing und Regierungsdirektor C.-D. Quassowski, beide Bundesministerium der Finanzen, als Bevollmächtigte,
    -der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater E. Traversa und durch A. Buschmann, zum Juristischen Dienst abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
    aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. April 2000,
    folgendes
    Urteil

    1.

    Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 15. Oktober 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 21 Nummer 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im Folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

    2.

    Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Schmeink & Cofreth AG & Co. KG (im Folgenden: Klägerin) und dem Finanzamt Borken sowie zwischen Herrn Strobel (im Folgenden: Kläger) und dem Finanzamt Esslingen, in denen es um die Weigerung der Finanzämter geht, den Klägern als Billigkeitsmaßnahme die Zahlung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer zu erlassen.
    Die Sechste Richtlinie

    3.

    In Artikel 21 der Sechsten Richtlinie heißt es:
    Die Mehrwertsteuer schuldet

    1.im inneren Anwendungsbereich
    ...
    c)jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder einem ähnlichen Dokument ausweist;
    ...
    Das nationale Mehrwertsteuerrecht

    4.
    § 14 Absatz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1991, der die Festsetzung der Mehrwertsteuer bei unrichtigem Steuerausweis in der Rechnung betrifft, lautet:
    Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er auch den Mehrbetrag. Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, so ist § 17 Absatz 1 entsprechend anzuwenden.

    5.
    Ferner heißt es in § 14 Absatz 3 UStG zur Festsetzung der Mehrwertsteuer bei unberechtigtem Steuerausweis in der Rechnung:
    Wer in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist, schuldet den ausgewiesenen Betrag. Das Gleiche gilt, wenn jemand in einer anderen Urkunde, mit der er wie ein leistender Unternehmer abrechnet, einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er nicht Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt.

    6.
    § 17 Absatz 1 UStG sieht Folgendes vor:
    Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummern 1 bis 3 geändert, so haben
    1.der Unternehmer, der den Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag und
    2.der Unternehmer, an den dieser Umsatz ausgeführt worden ist, den dafür in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug
    entsprechend zu berichtigen ...

    7.
    In Abschnitt 190 Absatz 3 der Umsatzsteuer-Richtlinien heißt es:
    Im Gegensatz zu § 14 Absatz 2 UStG sieht § 14 Absatz 3 UStG die Möglichkeit einer Rechnungsberichtigung nicht vor. Führt jedoch die Erhebung der zu Unrecht ausgewiesenen Steuer zu einer sachlichen Härte, so wird aus Billigkeitsgründen zugelassen, dass der Aussteller die Rechnung in entsprechender Anwendung des § 14 Absatz 2 UStG berichtigt ... Eine sachliche Härte ist z. B. anzunehmen, wenn die Leistung, über die in der Rechnung abgerechnet wird, vom Aussteller ausgeführt worden ist und glaubhaft gemacht wird, dass nur irrtümlich ein unzutreffender Leistungsempfänger oder eine unrichtige Leistungsbezeichnung angegeben wurde.

    8.
    § 227 der Abgabenordnung (AO) bestimmt:
    Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.
    Die Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen
    Rechtssache XXX

    9.
    Die Klägerin erwarb 50 % der Anteile an einer GmbH zum Kaufpreis von 3 781 220 DM. In Höhe dieses Betrages erstellte sie der GmbH mit Datum vom 31.Dezember 1991 eine Abrechnung über Beratungsleistungen, die sie jedoch nie erbrachte. In dieser Abrechnung wies die Klägerin einen Mehrwertsteuerbetrag von 529 370,80 DM offen aus.

    10.
    Diese Pro-Forma-Rechnung verwendete die GmbH als Bestandteil eines Antrags auf Investitionszulage.

    11.
    Nach einer im März 1993 durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung setzte das Finanzamt Borken die von der Klägerin geschuldete Mehrwertsteuer mit Änderungsbescheid vom 14. April 1993 in Höhe des in der Abrechnung gesondert ausgewiesenen Betrages fest.

    12.
    Die GmbH machte aus der Abrechnung keinen Vorsteuerabzug geltend und gab sie am 19. Juli 1993 an die Klägerin zurück.

    13.
    Am 1. Juli 1994 stellte die Klägerin beim Finanzamt Borken einen Antrag nach § 227 AO auf Erlass der Mehrwertsteuer aus Billigkeitsgründen.

    14.
    Mit Bescheid vom 12. September 1994 lehnte das Finanzamt Borken diesen Antrag ab.

    15.
    Das daraufhin von der Klägerin angerufene Finanzgericht Münster bestätigte mit Urteil vom 23. November 1995 den Bescheid des Finanzamts Borken.

    16.
    Am 24. März 1997 legte die Klägerin beim Bundesfinanzhof Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts ein.
    Rechtssache XXX

    17.
    Der Kläger stellte in den Jahren 1992 und 1993, in denen er einen Büromaschinenhandel betrieb, verschiedenen Leasingunternehmen Rechnungen über Lieferungen aus, die nie ausgeführt wurden.

    18.
    Mit diesen fingierten Rechnungen wollte er Verluste einer seiner Filialen verschleiern und eine bessere Ertragslage vortäuschen. Die Rechnungen wurden von den Leasingunternehmen bezahlt. Anschließend erstattete der Kläger den betreffenden Unternehmen die ihm gezahlten Beträge.

    19.
    Der Kläger unterwarf die fraglichen Beträge der Mehrwertsteuer. Die Leasingunternehmen zogen die in den Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuer als Vorsteuer ab.

    20.
    1994 erstattete der Kläger sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch beim Finanzamt Esslingen Selbstanzeige und unterrichtete sie damit über die fingierten Rechnungen und die Rechnungsempfänger. Das Finanzamt Esslingen übermittelte die Angaben den fürdie Rechnungsempfänger zuständigen Finanzämtern, damit diese den Vorsteuerabzug bei den Rechnungsempfängern berichtigten.

    21.
    Nach der Selbstanzeige des Klägers nahmen die Finanzbehörden eine Außenprüfung vor, und im Anschluss daran setzte das Finanzamt Esslingen gegen den Kläger Mehrwertsteuer in Höhe der auf den Rechnungen gesondert ausgewiesenen Beträge von 519 346,36 DM für 1992 und 653 156,51 DM für 1993 fest.

    22.
    Am 24. August 1995 stellte der Kläger nach § 227 AO einen Antrag auf Erlass der Mehrwertsteuer aus Billigkeitsgründen.

    23.
    Mit Bescheid vom 15. November 1995 lehnte das Finanzamt Esslingen diesen Antrag ab.

    24.
    Das daraufhin vom Kläger angerufene Finanzgericht Baden-Württemberg bestätigte mit Urteil vom 9. Juli 1997 den Bescheid des Finanzamts Esslingen.

    25.
    Am 19. August 1997 legte der Kläger beim Bundesfinanzhof Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts ein.

    26.
    Der Bundesfinanzhof hat beide Verfahren verbunden. Er führt aus, die Festsetzung der Mehrwertsteuer sei gemäß § 14 Absatz 3 Satz 2 2. Alternative UStG gerechtfertigt, da die Kläger Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer ausgestellt und den Rechnungsadressaten übergeben hätten, ohne die darin bezeichneten Leistungen ausgeführt zu haben.

    27.
    Zweck des § 14 Absatz 3 UStG sei es, Missbräuche durch Ausstellung von Rechnungen mit offenem Steuerausweis zu verhindern, wenn Umsätze überhaupt nicht ausgeführt würden. Anders als in § 14 Absatz 2 UStG habe der Gesetzgeber in § 14 Absatz 3 UStG keine Berichtigungsmöglichkeit vorgesehen, um die mit dieser Vorschrift angestrebte Abschreckungswirkung nicht zu entkräften.

    28.
    Nach einem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 21. Februar 1980 (BStBl II 1980 S. 283) sei eine Billigkeitsmaßnahme in den Fällen geboten, in denen der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt habe. In solchen Fällen und namentlich dann, wenn es dem Rechnungsaussteller gelinge, die von ihm ausgestellten Rechnungen vor ihrer Verwendung durch den Adressaten wieder in die Hand zu bekommen und zu vernichten, oder wenn der Aussteller zwar die Rechnung nicht wieder zurückerlangen könne, die Gefährdungslage aber durch rechtzeitige andere Maßnahmen, insbesondere durch eine Anzeige bei seinem oder bei dem für den Rechnungsadressaten zuständigen Finanzamt, beseitige, entfalte § 14 Absatz 3 UStG nämlich keine Abschreckungswirkung.

    29.
    Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-342/87 (Genius Holding, Slg. 1989, 4227, Randnr. 18) sei es jedoch Sache der Mitgliedstaaten, die Geltung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuerdadurch zu gewährleisten, dass sie in ihrem innerstaatlichen Recht vorsähen, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden könne, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweise; dieses Gebot sei nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23. November 1995, IX ZR 225/94 (NJW 1996, S. 842), im Hinblick darauf, dass § 14 Absatz 3 UStG keine Berichtigungsmöglichkeit vorsehe, durch einen Erlass der festgesetzten Steuer gemäß § 227 AO zu befolgen.

    30.
    Das Erfordernis des guten Glaubens für die Berichtigungsmöglichkeit könne der Systematik des § 14 Absatz 3 UStG nicht entnommen werden. Ein solches Erfordernis, das sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergebe, folge nicht aus dem Neutralitätsgrundsatz. Eine Begrenzung der Berichtigungsmöglichkeit für den Rechnungsaussteller auf Fälle des guten Glaubens sei weder ausreichend noch mit dem Mehrwertsteuersystem konform. Als Kriterium für den Ausschluss von der Berichtigung des Steuerbetrags in der Rechnung böte sich vielmehr an, ob der entsprechende Vorsteuerabzug beim Rechnungsempfänger tatsächlich stattgefunden habe. Wenn sich herausstelle, dass eine Rückabwicklung eines gewährten Vorsteuerabzugs beim Rechnungsempfänger nicht mehr möglich sei, träfe den Rechnungsaussteller eine Ausfallhaftung zur Herstellung der Steuerneutralität.

    31.
    Würde die Berichtigungsmöglichkeit vom Nachweis des guten Glaubens des Rechnungsausstellers abhängig gemacht, so würde Artikel 21 Nummer 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie in die Nähe einer Strafvorschrift gerückt. Die endgültige Belastung mit der ausgewiesenen Steuer hinge dann ausschließlich von einem vorwerfbaren Verhalten, d. h. von bösgläubigem Handeln, ab. Dies stoße auf verfassungsrechtliche Bedenken.

    32.
    Der Bundesfinanzhof hat deshalb beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.Gebietet es das Gemeinschaftsrecht, die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten Steuer bereits im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens zu ermöglichen, oder reicht es aus, wenn die Mitgliedstaaten eine Berichtigung erst in einem anschließenden Billigkeitsverfahren (aus so genannten sachlichen Gründen) zulassen?

    2.Setzt die Berichtigung einer zu Unrecht in Rechnung gestellten Steuer zwingend voraus, dass der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist, oder ist eine Rechnungsberichtigung auch in anderen Fällen (gegebenenfalls welchen) zulässig?

    3.Unter welchen Voraussetzungen handelt ein Rechnungsaussteller in gutem Glauben?

    Zur Zulässigkeit

    33.
    Die deutsche Regierung hält die erste und die dritte Frage für unzulässig, da eine Beantwortung dieser Fragen nichts zur Entscheidung der Ausgangsverfahren beitragen könne.

    34.
    Zur ersten Frage führt die deutsche Regierung aus, in den Ausgangsfällen sei das Steuerfestsetzungsverfahren abgeschlossen und die Steuerbescheide könnten nicht mehr Gegenstand einer Klage sein, sodass eine Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Beträge im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens nicht mehr möglich sei. Gegenstand der Ausgangsverfahren seien allein die Ablehnungen der Anträge auf Erlass der festgesetzten Mehrwertsteuerbeträge aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO, nicht jedoch die Steuerbescheide gemäß § 14 Absatz 3 Satz 2 2. Alternative UStG.

    35.
    Was die dritte Frage anbelange, so bestehe im vorliegenden Fall kein Anlass zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des guten Glaubens. Die Ausstellung der Rechnungen sei missbräuchlich und nicht irrtümlich erfolgt, da die Kläger gewusst hätten, dass sie nicht zum gesonderten Ausweis der Mehrwertsteuer in den Rechnungen berechtigt gewesen seien.

    36.
    Das Verfahren gemäß Artikel 177 des Vertrages ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mittels dessen der Gerichtshof den nationalen Gerichten die Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand geben kann, die sie für die Entscheidung über den Rechtsstreit benötigen, mit dem sie befasst sind (vgl. u. a. Beschluss vom 25. Mai 1998 in der Rechtssache C-361/97, Nour, Slg. 1998, I-3101, Randnr. 10).

    37.
    Nach ständiger Rechtsprechung ist es zudem allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu verantworten hat, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteile vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 59, vom 1. Dezember 1998 in der Rechtssache C-200/97, Ecotrade, Slg. 1998, I-7907, Randnr. 25, und vom 13. Januar 2000 in der Rechtssache C-254/98, TK-Heimdienst, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 13).

    38.
    In der vorliegenden Rechtssache fehlt nicht offenkundig jeder Zusammenhang zwischen der vom vorlegenden Gericht mit seiner ersten Frage begehrten Auslegung des Gemeinschaftsrechts und dem Gegenstand der Ausgangsverfahren.

    39.
    Sollte das Gemeinschaftsrecht nämlich dahin auszulegen sein, dass es den Mitgliedstaaten vorschreibt, in ihrem nationalen Recht die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer zu ermöglichen, so könnte eine solcheBerichtigung u. a. im Rahmen eines anschließenden Billigkeitsverfahrens erfolgen, wie es § 227 AO vorsieht.

    40.
    Zudem betrifft der Einwand der deutschen Regierung, der unterstellt, dass eine solche Berichtigung nicht im Rahmen eines anschließenden Billigkeitsverfahrens vorgenommen werden kann, sondern im Rahmen des Steuerfestsetzungsverfahrens hätte erfolgen müssen, nicht die Zulässigkeit, sondern den sachlichen Gehalt der ersten Frage.

    41.
    Auch das Vorbringen der deutschen Regierung zur dritten Frage, wonach im vorliegenden Fall kein Anlass zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des guten Glaubens bestehe, da die Ausstellung von Rechnungen durch Steuerpflichtige, die wie in den Ausgangsverfahren wüssten, dass sie nicht zum gesonderten Ausweis der Mehrwertsteuer berechtigt seien, missbräuchlich sei, betrifft bereits die Bedeutung des Begriffes der Gutgläubigkeit und damit ebenfalls den sachlichen Gehalt dieser Frage.

    42.
    Folglich sind die erste und die dritte Frage zulässig.
    Zu den gestellten Fragen
    Zur zweiten Frage

    43.
    Mit seiner zweiten Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer vom guten Glauben des Ausstellers der Rechnung abhängt.

    44.
    Die deutsche Regierung trägt vor, mangels einschlägiger Gemeinschaftsvorschriften sei es Sache der Mitgliedstaaten, die Art und Weise einer Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer zu regeln.

    45.
    Die für den gutgläubigen Aussteller einer Rechnung, der einen entschuldbaren Irrtum begangen habe, nach deutschem Recht bestehende Möglichkeit, aus sachlichen Gründen die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer im Wege einer Billigkeitsmaßnahme zu berichtigen, stehe im Einklang mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts, wie sie sich aus dem Urteil Genius Holding ergäben.

    46.
    Wenn der Aussteller der Rechnung die Mehrwertsteuer nicht gutgläubig, sondern missbräuchlich zu Unrecht ausgewiesen habe, weil er entweder wisse, dass er nicht steuerpflichtig sei, oder weil die Lieferung oder Dienstleistung, auf die sich die Rechnung beziehe, nicht ausgeführt worden sei, verlange der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht, dass eine Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer ermöglicht werde. In solchen Fällen habe die Vorschrift des nationalen Rechts, wonach derjenige, der in einer Rechnung einen Mehrwertsteuerbetrag gesondert ausweise, diesen Betrag schulde, Sanktions- und Abschreckungsfunktion.

    47.
    Nach Artikel 21 Nummer 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie schuldet im inneren Anwendungsbereich jede Person die Mehrwertsteuer, die diese in einer Rechnung oder einem ähnlichen Dokument ausweist.

    48.
    Die Sechste Richtlinie enthält keine Bestimmung über die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Aussteller der Rechnung. In Artikel 20 der Sechsten Richtlinie ist lediglich geregelt, unter welchen Voraussetzungen der Vorsteuerabzug beim Empfänger der Lieferung oder Dienstleistung berichtigt werden kann.

    49.
    Unter diesen Umständen ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann.

    50.
    Das vorlegende Gericht hat ausgeführt, nach dem Urteil Genius Holding sei die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Aussteller einer Rechnung nur dann zulässig, wenn er seinen guten Glauben nachweise.

    51.
    In der Rechtssache Genius Holding hatte die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Mehrwertsteuer abgezogen, die ihr von zwei Subunternehmern in Rechnung gestellt worden war, obwohl die Mehrwertsteuer nach dem einschlägigen nationalen Recht nicht von den Subunternehmern für die dem Unternehmer erbrachten Leistungen geschuldet, sondern ausschließlich vom Unternehmer auf den Betrag zu entrichten war, den er dem Auftraggeber in Rechnung stellte. Die Finanzverwaltung vertrat die Ansicht, dass der Klägerin die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt worden sei und dass sie diese daher nicht abziehen dürfe. Gegen die Klägerin erging deshalb ein Nacherhebungsbescheid.

    52.
    Da die Klägerin geltend machte, dass nach Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie jede in der Rechnung ausgewiesene Steuer abgezogen werden dürfe, beschloss das nationale Gericht, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob Artikel 17 Absatz 2 dahin gehend auszulegen sei.

    53.
    In Beantwortung dieser Frage entschied der Gerichtshof im Urteil Genius Holding, dass sich das in der Sechsten Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug nicht auf eine Steuer erstreckt, die ausschließlich deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist. In Randnummer 13 dieses Urteils stellte der Gerichtshof klar, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nur für diejenigen Steuern besteht, die geschuldet werden - d. h. mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen - oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden.

    54.
    Wie der Gerichtshof in Randnummer 17 des Urteils Genius Holding ausgeführt hat, würden Steuerhinterziehungen erleichtert, falls jede in Rechnung gestellte Steuer abgezogen werden könnte, auch wenn sie nicht der gesetzlich geschuldeten Steuer entspricht.

    55.
    In der Rechtssache Genius Holding musste der von der Klägerin ursprünglich vorgenommene Vorsteuerabzug folglich gemäß Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie berichtigt werden.

    56.
    In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in Randnummer 18 des Urteils Genius Holding festgestellt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die Geltung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer dadurch zu gewährleisten, dass sie in ihrem innerstaatlichen Recht vorsehen, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist.

    57.
    In den Ausgangsverfahren wurde die Gefährdung des Steueraufkommens anders als in der Rechtssache Genius Holding rechtzeitig und vollständig beseitigt, da der Aussteller der Rechnung diese vor ihrer Verwendung durch den Adressaten wiedererlangte und vernichtete bzw. den in der verwendeten Rechnung gesondert ausgewiesenen Betrag entrichtete.

    58.
    Unter solchen Umständen, d. h., wenn der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat, verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, ohne dass die Mitgliedstaaten eine solche Berichtigung vom guten Glauben des Ausstellers der betreffenden Rechnung abhängig machen dürfen.

    59.
    Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie erlassen dürfen, um die genaue Erhebung der Steuer zu gewährleisten und Steuerhinterziehungen zu verhindern, dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 21. März 2000 in den Rechtssachen C-110/98 bis C-147/98, Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I-0000, Randnr. 52). Sie dürfen daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Gemeinschaftsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt.

    60.
    Hat der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt, so ist es zur Gewährleistung der Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen nicht erforderlich, dass er seinen guten Glauben nachweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C-361/96, Grandes sources d'eaux minérales françaises, Slg. 1998, I-3495, Randnrn. 29 und 30).

    61.
    Wurde dagegen, wie in der Rechtssache Genius Holding, die Gefährdung des Steueraufkommens nicht vollständig beseitigt, so können die Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer davon abhängig machen, dass der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, kommt nämlich, wenn sich herausstellt,dass die Rückabwicklung eines gewährten Vorsteuerabzugs beim Rechnungsempfänger nicht mehr möglich ist, zur Herstellung der Steuerneutralität eine Ausfallhaftung des Ausstellers der Rechnung in Betracht.

    62.
    Wie die Kommission zutreffend vorgetragen hat, hindert schließlich das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran, die Ausstellung fingierter Rechnungen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, als versuchte Steuerhinterziehung zu behandeln und in einem solchen Fall die nach ihrem nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen wie Geldstrafe oder Geldbuße zu verhängen.

    63.
    Auf die zweite Frage ist daher wie folgt zu antworten: Hat der Aussteller der Rechnung die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt, so verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, ohne dass eine solche Berichtigung vom guten Glauben des Ausstellers der betreffenden Rechnung abhängig gemacht werden darf.

    Zur ersten Frage

    64.
    Mit seiner ersten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, in welchem Verfahren die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer vorgenommen werden muss.

    65.
    Wie aus den Randnummern 47 bis 49 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann.

    66.
    Die Mitgliedstaaten können deshalb auch darüber entscheiden, ob eine solche Berichtigung im Steuerfestsetzungsverfahren oder in einem anschließenden Verfahren vorgenommen wird.

    67.
    Wie der Generalanwalt in Nummer 20 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann ein Mitgliedstaat den Standpunkt einnehmen, dass die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer in einem anschließenden Verfahren vorgenommen werden muss, damit die Finanzverwaltung insbesondere dann, wenn die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer abgezogen wurde, prüfen kann, ob jede Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen ist.

    68.
    Ist eine solche Gefährdung ausgeschlossen, so darf die Berichtigung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer jedoch nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen.

    69.
    Wie aus der Antwort auf die zweite Frage hervorgeht, verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in einem solchen Fall, dass die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann.

    70.
    Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, das Verfahren festzulegen, in dem zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, wobei diese Berichtigung nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen darf.

    Zur dritten Frage

    71.
    In Anbetracht der Antworten auf die erste und die zweite Frage braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

    Kosten

    72.
    Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

    Aus diesen Gründen
    hat
    DER GERICHTSHOF
    auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 15. Oktober 1998 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
    Rodríguez Iglesias, Moitinho de Almeida Sevón, Kapteyn Puissochet Jann, Ragnemalm Wathelet Skouris
    Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. September 2000.

    Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

    RechtsgebieteUStG, Sechste Richtlinie 77/388/EWGVorschriften§ 14 Abs. 3 UStG