29.08.2005 · IWW-Abrufnummer 052474
Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 26.05.2005 – C-465/03
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
26. Mai 2005(*)
?Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ? Leistungen gegen Entgelt ? Ausgabe von Aktien ? Börseneinführung eines Unternehmens ? Abzugsfähigkeit der Vorsteuer?
In der Rechtssache C‑465/03
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Unabhängigen Finanzsenat, Außenstelle Linz (Österreich), mit Entscheidung vom 20. Oktober 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2003, in dem Verfahren
Kretztechnik AG
gegen
Finanzamt Linz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter K. Lenaerts (Berichterstatter), J. N. Cunha Rodrigues, M. Ile?iè und E. Levits,
Generalanwalt: F. G. Jacobs,
Kanzler: M.‑F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Dezember 2004,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
? der Kretztechnik AG, vertreten durch P. Farmer, Barrister, im Beistand von J. Kajus und Professor B. Terra,
? des Finanzamts Linz, vertreten durch W. Ritirc als Bevollmächtigten,
? der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten,
? der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,
? der deutschen Regierung, vertreten durch F. Huschens, M. Lumma und A. Tiemann als Bevollmächtigte,
? der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
? der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Bethell als Bevollmächtigten im Beistand von M. Hall, Barrister,
? der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Triantafyllou und K. Gross als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Februar 2005
folgendes
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 2 und 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ? Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Kretztechnik AG (im Folgenden: Kretztechnik) und dem Finanzamt Linz wegen dessen Weigerung, den Abzug von Vorsteuern zuzulassen, die Kretztechnik auf Leistungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von Aktien aus Anlass ihrer Einführung an der Frankfurter Börse (Deutschland) entrichtet hatte.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Artikel 2 Absatz 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301) bestimmt: ?Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.?
Nach Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen ?Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt?, der Mehrwertsteuer.
Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie lautet:
?(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst.?
Gemäß Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt als Lieferung eines Gegenstands ?die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen?.
Nach Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt als Dienstleistung ?jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands ? ist?.
Nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 der Sechsten Richtlinie befreien die Mitgliedstaaten ?die Umsätze ? einschließlich der Vermittlung, jedoch mit Ausnahme der Verwahrung und der Verwaltung ? die sich auf Aktien, Anteile an Gesellschaften und Vereinigungen, Schuldverschreibungen oder sonstige Wertpapiere beziehen, ?? von der Steuer.
In Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie heißt es:
?(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
??
Artikel 17 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie betrifft die Abzugsfähigkeit der Mehrwertsteuer in den Fällen, in denen Gegenstände oder Dienstleistungen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht. In solchen Fällen ist gemäß Unterabsatz 1 dieser Vorschrift ?der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt?.
Nationale Vorschriften
Die Sechste Richtlinie wurde durch das Umsatzsteuergesetz 1994, BGBl. 1994/663 (in der Fassung BGBl. 1999/106), in österreichisches Recht umgesetzt.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Kretztechnik ist eine in Österreich ansässige Aktiengesellschaft mit dem Geschäftsgegenstand Entwicklung und Vertrieb von elektromedizinischen Geräten. Mit Beschluss ihrer Hauptversammlung vom 18. Januar 2000 wurde das Grundkapital der Gesellschaft von 10 Mio. Euro auf 12,5 Mio. Euro erhöht. Um das für diese Erhöhung erforderliche Kapital zu beschaffen, beantragte sie ihre Notierung an der Frankfurter Börse.
Die Gesellschaft wurde im März 2000 zur Frankfurter Börse zugelassen. Die Kapitalerhöhung erfolgte durch die Ausgabe von auf den Inhaber lautenden Aktien.
In dem Bescheid des Finanzamts Linz vom 5. Juli 2002 betreffend die Umsatzsteuer 2000 wurden von Kretztechnik entrichtete Vorsteuern für die Leistungen, die im Zusammenhang mit ihrer Börseneinführung standen, nicht zum Abzug zugelassen. Da es sich bei der Ausgabe von Aktien um einen Umsatz handele, der aufgrund einer Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 der Sechsten Richtlinie entsprechenden nationalen Rechtsvorschrift in Österreich von der Mehrwertsteuer befreit sei, bestehe für die Gesellschaft kein Recht auf Vorsteuerabzug.
Kretztechnik legte gegen den Steuerbescheid einen Rechtsbehelf beim Unabhängigen Finanzsenat, Au ßenstelle Linz, ein, der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:
1. Erbringt eine Aktiengesellschaft bei Durchführung eines Börsengangs und der damit zusammenhängenden Ausgabe von Aktien an neue Aktionäre gegen Zahlung eines Ausgabepreises eine Leistung gegen Entgelt im Sinne des Artikels 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie?
2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Sind Artikel 2 Nummer 1 und Artikel 17 der Sechsten Richtlinie so auszulegen, dass im Zusammenhang mit einem Börsengang bezogene Dienstleistungen zur Gänze einem steuerbefreiten Umsatz zuzurechnen sind und aus diesem Grund ein Vorsteuerabzug nicht zusteht?
3. Falls Frage 1 zu verneinen ist: Steht nach Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie ein Recht auf Vorsteuerabzug zu, weil die sonstigen Leistungen (Werbung, Anwaltskosten, rechtliche und technische Beratung), die den Vorsteuerabzug begründen sollen, für Zwecke der besteuerten Ums ätze des Unternehmens verwendet werden?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Kretztechnik, die dänische und die italienische Regierung sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften sind der Auffassung, dass ein Unternehmen keine Leistung gegen Entgelt im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie erbringe, wenn es aus Anlass seiner Börseneinführung neue Aktien ausgebe. Kretztechnik führe den Börsengang zur Finanzierung ihrer satzungsmäßigen Geschäftstätigkeit und nicht im Rahmen eines gewerbsmäßigen Wertpapierhandels durch.
Demgegenüber führen das Finanzamt Linz, die österreichische und die deutsche Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs aus, auch wenn der bloße Erwerb und das bloße Halten von Aktien nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden könnten (vgl. Urteile vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C‑60/90, Polysar Investments Netherlands, Slg. 1991, I‑3111, vom 6. Februar 1997 in der Rechtssache C‑80/95, Harnas & Helm, Slg. 1997, I‑745, und vom 26. Juni 2003 in der Rechtssache C‑442/01, KapHag, Slg. 2003, I‑6851), stelle die Ausgabe von Aktien durch einen Steuerpflichtigen mit dem Ziel, sein Kapital zu erhöhen, um seine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, einen steuerbaren Umsatz im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie dar. Diese Auslegung werde durch Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 der Sechsten Richtlinie bestätigt, der das Vorliegen eines grundsätzlich steuerbaren Umsatzes voraussetze.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie, der den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer festlegt, nur diejenigen im Inland ausgeführten Tätigkeiten dieser Steuer unterliegen, die wirtschaftlicher Natur sind. Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten umschließt gemäß Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden, insbesondere auch Leistungen, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfassen (Urteil KapHag, Randnr. 36).
Nach ständiger Rechtsprechung können der bloße Erwerb und das bloße Halten von Aktien nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie angesehen werden. Der bloße Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen stellt nämlich keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dar, weil eine etwaige Dividende als Ergebnis dieser Beteiligung auf dem bloßen Eigentum an dem Gegenstand beruht und keine Gegenleistung für eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Richtlinie ist (vgl. Urteile Harnas & Helm, Randnr. 15, KapHag, Randnr. 38, und vom 21. Oktober 2004 in der Rechtssache C‑08/03, BBL, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38). Stellt der Erwerb von Beteiligungen an Unternehmen als solcher keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie dar, so muss dasselbe auch für die Veräußerung solcher Beteiligungen gelten (vgl. Urteil vom 20. Juni 1996 in der Rechtssache C‑155/94, Wellcome Trust, Slg. 1996, I‑3013, Randnr. 33, sowie Urteile KapHag, Randnr. 40, und BBL, Randnr. 38).
Dagegen fallen Umsätze, bei denen es um die nachhaltige Erzielung von Einnahmen aus Tätigkeiten geht, die über den bloßen Erwerb und den bloßen Verkauf von Wertpapieren hinausgehen, wie etwa Umsätze bei einem Wertpapiergeschäft im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit, in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie; sie sind allerdings nach ihrem Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 von der Mehrwertsteuer befreit (vgl. Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑77/01, EDM, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 59, und Urteil BBL, Randnr. 41).
Zu der Frage, ob die Ausgabe von Aktien durch ein Unternehmen als eine wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden kann, die in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie fällt, ist zum einen festzustellen, dass es für das Wesen des betreffenden Umsatzes keinen Unterschied macht, ob er von einem Unternehmen im Rahmen seiner Börseneinführung oder von einem nicht börsennotierten Unternehmen ausgeführt wird.
Zum anderen setzt gemäß Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie die Lieferung eines Gegenstands die Übertragung der Befähigung voraus, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Die Ausgabe neuer Aktien ? bei denen es sich um Wertpapiere handelt, die einen nichtkörperlichen Gegenstand repräsentieren ? kann daher nicht als Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie angesehen werden.
Ob es sich bei der Ausgabe von Aktien um einen steuerbaren Umsatz handelt, hängt deshalb davon ab, ob dieser Umsatz eine Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie darstellt.
Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Personengesellschaft bei der Aufnahme eines Gesellschafters gegen Zahlung einer Bareinlage an diesen keine Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne des Artikels 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie erbringt (Urteil KapHag, Randnr. 43).
Dasselbe muss für die Ausgabe von Aktien zur Aufbringung von Kapital gelten.
Wie nämlich der Generalanwalt in den Nummern 59 und 60 seiner Schlussanträge zu Recht ausführt, will eine Gesellschaft, die neue Aktien ausgibt, ihr Vermögen durch die Beschaffung zusätzlichen Kapitals vergrößern, wobei sie jedoch den neuen Anteilseignern ein Eigentumsrecht an einem Teil des auf diese Weise erhöhten Kapitals einräumt. Vom Standpunkt der ausgebenden Gesellschaft aus besteht das Ziel im Erwerb von Kapital und nicht in der Erbringung einer Dienstleistung. Aus der Sicht des Anteilseigners stellt die Zahlung der zur Kapitalerhöhung erforderlichen Beträge keine Gegenleistung dar, sondern eine Investition oder Kapitalanlage.
Folglich handelt es sich bei einer Ausgabe von Aktien weder um eine Lieferung von Gegenständen noch um eine Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie. Somit fällt ein solcher Umsatz unabhängig davon, ob er aus Anlass der Börseneinführung der betreffenden Gesellschaft ausgeführt wird oder nicht, nicht in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie.
Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Ausgabe neuer Aktien keinen Umsatz darstellt, der in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie fällt.
Zur zweiten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob nach Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie ein Recht auf Abzug der Vorsteuer besteht, die auf die Leistungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von Aktien entrichtet worden ist.
Das Finanzamt Linz sowie die österreichische, die dänische, die deutsche und die italienische Regierung vertreten die Ansicht, da die Ausgabe von Aktien im Rahmen eines Börsengangs keinen steuerbaren Umsatz im Sinne von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie darstelle, bestehe kein Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer, mit der die Leistungen belastet gewesen seien, die zum Zweck der Ausgabe der betreffenden Aktien gegen Entgelt bezogen worden seien. Im Gegensatz zu dem Fall, in dem das Urteil vom 22. Februar 2001 in der Rechtssache C‑408/98 (Abbey National, Slg. 2001, I‑1361) ergangen sei, seien die von Kretztechnik bezogenen, mehrwertsteuerpflichtigen Vorleistungen kein Bestandteil ihrer gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit, der als solcher in den Preis der von ihr vertriebenen Produkte eingehe. Die für diese Leistungen angefallenen Kosten stünden lediglich mit dem Börsengang der betreffenden Gesellschaft in Zusammenhang und hätten nichts mit ihrer allgemeinen, steuerpflichtigen Tätigkeit zu tun
Kretztechnik, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission sind dagegen der Auffassung, selbst wenn die mehrwertsteuerpflichtigen Vorleistungen nicht mit spezifischen steuerpflichtigen Umsätzen, sondern mit Aufwendungen verbunden seien, die mit dem Börsengang zusammenhingen, könnten sie zu den allgemeinen Kosten von Kretztechnik gerechnet werden und in den Preis der von ihr vertriebenen Produkte eingehen. Unter diesen Umständen sei Kretztechnik zum Abzug der Vorsteuer berechtigt, die sie auf die Leistungen im Zusammenhang mit ihrer Börseneinführung entrichtet habe (vgl. Urteile vom 6. April 1995 in der Rechtssache C‑4/94, BLP Group, Sgl. 1995, I‑983, Randnr. 25, vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑98/98, Midland Bank, Slg. 2000, I‑4177, Randnr. 31, und Abbey National, Randnrn. 34 bis 36).
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das in den Artikeln 17 bis 20 der Sechsten Richtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug fester Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. insbesondere Urteile vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C‑62/93, BP Soupergaz, Slg. 1995, I‑1883, Randnr. 18, und vom 21. März 2000 in den Rechtssachen C‑110/98 bis C‑147/98, Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I‑1577, Randnr. 43).
Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83, Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 19, und vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C‑37/95, Ghent Coal Terminal, Slg. 1998, I‑1, Randnr. 15, sowie Urteile Gabalfrisa u. a., Randnr. 44, Midland Bank, Randnr. 19, und Abbey National, Randnr. 24).
Aus der zuletzt genannten Voraussetzung ergibt sich, dass die Mehrwertsteuer nur abgezogen werden kann, wenn die Eingangsumsätze direkt und unmittelbar mit zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsätzen zusammenhängen. Das Recht auf Abzug der für den Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer ist nur gegeben, wenn die hierfür getätigten Aufwendungen zu den Kostenelementen der versteuerten, zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsätze gehören (vgl. Urteile Midland Bank, Randnr. 30, und Abbey National, Randnr. 28, sowie Urteil vom 27. September 2001 in der Rechtssache C‑16/00, Cibo Participations, Slg. 2001, I‑6663, Randnr. 31).
Im Ausgangsverfahren ist angesichts dessen, dass es sich bei der Ausgabe von Aktien um einen Umsatz handelt, der nicht in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie fällt, und dass dieser Umsatz von Kretztechnik ausgeführt wurde, um ihr Kapital zugunsten ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit im Allgemeinen zu stärken, festzustellen, dass die Kosten der Dienstleistungen, die sie im Rahmen des betreffenden Umsatzes bezogen hat, Teil ihrer allgemeinen Kosten sind und damit zu den Preiselementen ihrer Produkte gehören. Solche Dienstleistungen hängen nämlich direkt und unmittelbar mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zusammen (vgl. Urteile BLP Group, Randnr. 25, Midland Bank, Randnr. 31, Abbey National, Randnrn. 35 und 36, und Cibo Participations, Randnr. 33).
Folglich hat Kretztechnik nach Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie ein Recht auf Abzug der gesamten Vorsteuer, die ihre Aufwendungen für die verschiedenen Leistungen belastet hat, die sie im Rahmen ihrer Ausgabe von Aktien bezogen hat, sofern es sich bei sämtlichen Umsätzen, die sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ausführt, um besteuerte Umsätze handelt. Führt ein Steuerpflichtiger sowohl Umsätze aus, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, kann er nämlich gemäß Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Sechsten Richtlinie den Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer vornehmen, der dem Betrag der erstgenannten Umsätze entspricht (Urteile Abbey National, Randnr. 37, und Cibo Participations, Randnr. 34).
Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass nach Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie ein Recht auf Abzug der gesamten Vorsteuer besteht, die die Aufwendungen eines Steuerpflichtigen für die verschiedenen Leistungen belastet, die er im Rahmen einer Ausgabe von Aktien bezogen hat, sofern es sich bei sämtlichen Umsätzen, die dieser Steuerpflichtige im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit vornimmt, um besteuerte Umsätze handelt.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Ausgabe neuer Aktien stellt keinen Umsatz dar, der in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ? Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung fällt.
2. Nach Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung besteht ein Recht auf Abzug der gesamten Vorsteuer, die die Aufwendungen eines Steuerpflichtigen für die verschiedenen Leistungen belastet, die er im Rahmen einer Ausgabe von Aktien bezogen hat, sofern es sich bei sämtlichen Umsätzen, die dieser Steuerpflichtige im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit vornimmt, um besteuerte Umsätze handelt.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg