07.05.2013
Finanzgericht Münster: Urteil vom 22.03.2013 – 4 K 3386/12 E
Ungeachtet der noch ungeklärten Frage, ob ein Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG auch noch nach Unanfechtbarkeit
der Steuerfestsetzung zulässig ist, kann eine Besteuerung der Kapitaleinkünfte mit dem individuellen Steuersatz jedenfalls
noch in den Grenzen des Änderungsrahmens des § 351 AO erfolgen.
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat der 4. Senat in der Besetzung: Präsident des Finanzgerichts … Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Ehrenamtliche
Richterin … Ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 22.03.2013 für Recht erkannt:
Tatbestand:
Streitig ist, bis zu welchem Zeitpunkt ein Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) gestellt werden kann. Zudem ist darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 129 der Abgabenordnung
(AO) vorliegen.
Die Kläger sind Eheleute und werden für das Streitjahr 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie sind kirchensteuerpflichtig.
In ihrer im Mai 2011 abgegebenen Einkommensteuererklärung für das Jahr 2010 erklärten die Kläger jeweils Einkünfte aus nichtselbständiger
Arbeit, die Klägerin zudem solche aus Gewerbebetrieb. Eine Anlage KAP reichten die Kläger nicht ein.
Der Beklagte folgte den Erklärungen der Kläger und setzte mit Bescheid vom 06.07.2011 die Einkommensteuer, den Solidaritätszuschlag
und die Kirchensteuer für das Streitjahr 2010 auf jeweils EUR Null fest. Nach Anrechnung von Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer,
Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer sowie von Vorauszahlungen ergab sich für die Kläger ein Erstattungsbetrag in Höhe von
insgesamt EUR 2.473,16.
Der Bescheid über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für 2010 vom 06.07.2011 wurde bestandskräftig.
Im Mai 2012 reichte der Kläger eine Steuerbescheinigung der V1-Versicherung ein, aus der sich ergibt, dass ihm am 01.08.2010
eine Lebensversicherung ausgezahlt wurde und hierbei gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 6 Satz 1 EStG steuerpflichtige Zinsen in Höhe von
EUR 27.670,76 angefallen waren. Die abgeführte Kapitalertragsteuer betrug EUR 6.517,19, der Solidaritätszuschlag EUR 358,45.
Der Kläger legte gegenüber dem Beklagten dar, dass ihm die Steuerbescheinigung bei „privaten Aufräumarbeiten” in die Hände
gefallen sei und er es versäumt habe, die Kapitalerträge in seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2010 anzugeben. Er
beantragte sinngemäß eine nachträgliche Änderung des Steuerbescheides für das Jahr 2010.
Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19.06.2012 ab. Er verwies darauf, dass der Antrag auf Günstigerprüfung nach
§ 32d Abs. 6 EStG fristgebunden sei und nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheides gestellt werden könne.
Änderungsmöglichkeiten nach der Abgabenordnung lägen nicht vor. In dem Ablehnungsbescheid kündigte der Beklagte zudem an,
dass alsbald der „Einkommensteuerbescheid für 2010” insofern geändert würde, als in Bezug auf die nacherklärten Kapitalerträge
evangelische Kirchensteuer nacherhoben würde. Hierdurch änderten sich gleichzeitig auch die Einkommensteuerfestsetzung und
der Solidaritätszuschlag (§ 32d Abs. 1 Satz 3 EStG).
Unter dem Datum des 27.06.2012 erließ der Beklagte eine nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderte Festsetzung über Einkommensteuer,
Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für 2010. Hierin setzte er hinsichtlich der nacherklärten Kapitalerträge (EUR 27.670
./. Sparer-Pauschbetrag in Höhe von EUR 1.602) nach Maßgabe von § 32d Abs. 1 EStG Einkommensteuer in Höhe von EUR 6.373 und
Kirchensteuer in Höhe von EUR 553,57 sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von EUR 350,51 fest. Im Anrechnungsteil des geänderten
Steuerbescheides berücksichtigte der Beklagte die einbehaltene Kapitalertragsteuer in Höhe von EUR 6.518 sowie den diesbezüglich
einbehaltenen Solidaritätszuschlag in Höhe von EUR 358,45. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Bescheid
Bezug genommen.
Der Kläger erhob sowohl gegen den Bescheid über die Ablehnung der Günstigerprüfung als auch gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid
für 2010 vom 27.06.2012 Einspruch. Zur Begründung führte er an, § 32d Abs. 6 EStG enthalte keine Frist zur Ausübung des Antragswahlrechts.
Der Beklagte wies beide Einsprüche in einer gemeinsamen Einspruchsentscheidung vom 06.09.2012 zurück, und zwar gegenüber beiden
Klägern. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an:
Durch die Einführung der Abgeltungsteuer zum 01.01.2009 seien Kapitalerträge, die dem abgeltenden Kapitalertragsteuerabzug
unterlägen, grundsätzlich nicht mehr erklärungspflichtig. Nach § 32d Abs. 6 EStG könnten Steuerbürger als Gläubiger der Kapitalerträge
allerdings einen Antrag stellen, durch den die Kapitalerträge, die der Abgeltungsteuer unterlägen, in die Einkommensteuerveranlagung
einzubeziehen und -sofern dies günstiger sei – der tariflichen Einkommensteuer zu unterwerfen seien. Nach dem Willen des Gesetzgebers
sei dieser Antrag allerdings nur bis zum Eintritt der Bestandskraft möglich (Hinweis auf BT-Drs. 16/4841, Seite 61).
Änderungsmöglichkeiten lägen nicht vor. Die nachträgliche Ausübung eines Wahlrechts sei keine neue Tatsache im Sinne von §
173 AO, sondern eine Verfahrenshandlung. Zwar könne es bei der nachträglichen Ausübung eines nicht fristgebundenen Antrags
zu einer Änderung nach § 173 AO kommen, sofern hierdurch Tatsachen im Sinne der Vorschrift nachträglich bekannt würden. Dies
gelte allerdings nicht für fristgebundene Anträge, da hierdurch die Tatsachen nicht nachträglich bekannt würden, sondern erst
durch die Antragstellung einträten. Zudem seien die Tatsachen durch eine verspätete Antragstellung nicht rechtserheblich,
sodass eine Änderung nach § 173 AO ausscheide.
Die Kläger haben gegen die Einspruchsentscheidung Klage erhoben. Sie vertreten die Auffassung, dass ein Antrag auf Günstigerprüfung
nach § 32d Abs. 6 EStG innerhalb der Grenzen der Festsetzungsfrist erfolgen könne. Erst durch die nachträgliche Deklaration
der Kapitaleinkünfte sei vorliegend überhaupt eine Korrekturmöglichkeit eröffnet worden. Zudem spreche auch die Korrekturveranlagung
vom 27.06.2012 für ein „Wiederaufleben” des Wahlrechts.
Nachdem der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 22.03.2013 die geänderte Einkommensteuerfestsetzung vom
27.06.2012 nach § 129 AO berichtigt und hierdurch die Einkommensteuer für 2010 auf EUR Null herabgesetzt hat, beantragen die
Kläger,
den in der mündlichen Verhandlung erlassenen Berichtigungsbescheid des Beklagten aufzuheben;
den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 27.06.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahingehend zu ändern, dass für das
Streitjahr 2010 die tarifliche Einkommensteuer festgesetzt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung vom 06.09.2012.
Der Senat hat in dieser Sache am 22.03.2013 mündlich verhandelt. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des Beklagten
die Einkommensteuerfestsetzung für 2010 vom 27.06.2012 nach § 129 AO berichtigt und die Einkommensteuer auf EUR Null herabgesetzt.
Er hat hierbei die Auffassung vertreten, dass bei Erlass des geänderten Bescheides über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag
und Kirchensteuer vom 27.06.2012 insoweit eine offenbare Unrichtigkeit unterlaufen sei, als lediglich die Kirchensteuer, die
auf die nacherklärten Kapitalerträge entfiele, hätte nacherhoben werden sollen; eine Heraufsetzung der Einkommensteuer sei
nicht beabsichtigt gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 22.03.2013 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die Klage ist zulässig. Beide Kläger sind klagebefugt. Zwar stellte nur der Kläger den Antrag auf Günstigerprüfung nach
§ 32d Abs. 6 Satz 1 EStG, und auch nur er erhob sowohl gegen den Ablehnungsbescheid als auch gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid
vom 27.06.2012 Einspruch. Die Klagebefugnis der Klägerin ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass der Beklagte die Einspruchsentscheidung
vom 06.09.2012 gegen beide Kläger richtete.
2. Die Klage ist begründet.
Die Ablehnung des Beklagten auf Durchführung einer Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG ist ebenso rechtswidrig
wie die durch den geänderten Einkommensteuerbescheid vom 27.06.2012 vollzogene Einbeziehung der nacherklärten Kapitalerträge
zum pauschalen Abgeltungsteuersatz von 25 % gemäß § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG. Die Kläger haben einen Anspruch auf Besteuerung
der Kapitalerträge zum tariflichen Einkommensteuersatz gemäß § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG i.V.m. § 32a Abs. 1 und Abs. 5 EStG.
Rechtswidrig ist ebenfalls der in der mündlichen Verhandlung am 22.03.2013 erlassene und bekannt gegebene Änderungsbescheid,
durch den der Beklagte die Einkommensteuer 2010 auf EUR Null berichtigte; die Voraussetzungen für eine Berichtigung der Steuerfestsetzung
nach § 129 AO lagen nicht vor.
a. Der berichtigte Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 22.03.2013, der nach § 68 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum
Gegenstand des Verfahrens wurde, ist im Hinblick darauf, dass bei Erlass des geänderten Einkommensteuerbescheides vom 27.06.2012
dem Beklagten keine offenbare Unrichtigkeit i.S. von § 129 AO unterlief, rechtswidrig. Hierdurch wurden die Kläger trotz Herabsetzung
der Einkommensteuer auf EUR Null deshalb in ihren Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), da ihnen – als negative Folgewirkung
– die Möglichkeit genommen würde, die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer auf die festgesetzte Einkommensteuer
anzurechnen (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG).
aa. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim
Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Von der Vorschrift erfasst werden nur solche Fälle,
in denen der bekannt gegebene Inhalt des Verwaltungsakts aus Versehen vom offensichtlich gewollten materiellen Regelungsinhalt
abweicht und die Möglichkeit eines Tatsachenoder Rechtsirrtums, eines Denkfehlers oder unvollständiger Sachverhaltsaufklärung
in Bezug auf den Fehler ausgeschlossen werden kann. „Offenbar” ist eine Unrichtigkeit nur dann, wenn der Fehler bei Offenlegung
des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und eindeutig als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist (vgl. zuletzt
BFH-Urteil vom 06.11.2012 VIII R 15/10, veröffentlicht bei juris; Brockmeyer/-Ratschow in Klein, AO, 11. Aufl., § 129 AO Rdnr.
2 ff.).
bb. Im Streitfall konnte sich der Senat nicht davon überzeugen, dass die geänderte Einkommensteuerfestsetzung für 2010 vom
27.06.2012 durch eine offenbare Unrichtigkeit des Bearbeiters des Veranlagungsbezirks veranlasst war, insbesondere ein rechtlicher
Irrtum ausgeschlossen war. Zwar ist dem Schreiben des Beklagten vom 19.06.2012 zu entnehmen, dass die Nacherklärung der Kapitalerträge
(nur) zu einer „Nacherhebung” der Kirchensteuer führen sollte und deshalb alsbald ein „geänderter Einkommensteuerbescheid”
erlassen würde. Dem Beklagten ist auch zuzugeben, dass sich die Erläuterungstexte auf Seite 3 des geänderten Bescheides über
Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer vom 27.06.2012 auf die „nachträgliche Festsetzung der Kirchensteuer
auf die Kapitalerträge” beschränken. Die insoweit dokumentierte Absicht rechtfertigt zur Überzeugung des Senats allerdings
nicht die Annahme eines für die Anwendung von § 129 AO erforderlichen mechanischen Versehens. Denn hierbei bliebe unberücksichtigt,
dass Bemessungsgrundlage für die Kirchensteuer die festgesetzte Einkommensteuer ist und es daher nicht ausgeschlossen ist,
dass nach der rechtlichen Einschätzung des Veranlagungssachbearbeiters die Festsetzung von Einkommensteuer zwecks der eigentlich
beabsichtigten „Nacherhebung” der Kirchensteuer zumindest programmtechnisch erforderlich war.
Aber selbst wenn die Erhöhung der Einkommensteuer auf EUR 6.373 rein versehentlich erfolgt wäre, fehlte es an der Offenbarkeit
jenes Versehens. Hiergegen spricht zum einen, dass die seit dem Jahr 2009 geltende grundsätzliche steuerliche Abgeltung der
Kapitalerträge mit einem Pauschalsteuersatz in Höhe von 25 % sowohl für die Steuerpflichtigen als auch für die Angehörigen
der steuerberatenden Berufe und die Bediensteten der Finanzverwaltung zu erheblichem Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand
in materiell-rechtlicher und auch verfahrensrechtlicher Hinsicht führte. Diesbezügliche Rechtsirrtümer waren insbesondere
in den ersten Veranlagungszeiträumen, in denen die Abgeltungsteuer Anwendung fand, nicht ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere
für die verfahrensrechtliche und auch programmtechnische Umsetzung der Optionsmöglichkeiten nach § 32d Abs. 4 und Abs. 6 EStG.
Zum anderen indiziert auch der Umstand, dass das vom Beklagten angeführte Versehen von den Beteiligten nicht bereits im außergerichtlichen
Verfahren, sondern erst im Zuge der gerichtlichen Aufarbeitung des Streitfalls durch Hinweis des Berichterstatters erkannt
wurde, die fehlende Offenbarkeit.
b. Der geänderte Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 27.06.2012 und die hierauf ergangene Einspruchsentscheidung vom 06.09.2012,
die durch die Aufhebung des Berichtigungsbescheides vom 22.03.2013 verfahrensrechtlich wieder „aufleben”, sind insoweit rechtswidrig,
als darin die nacherklärten Kapitalerträge nicht zum tariflichen Einkommensteuersatz der Kläger nach § 32a Abs. 1 und 5 EStG,
sondern zum Abgeltungsteuersatz von 25 % (§ 32d Abs. 1 Satz 1 EStG) besteuert wurden. Der Kläger hat hinsichtlich der im Jahr
2010 bezogenen Kapitalerträge – wenn auch nachträglich – wirksam einen Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz
1 EStG gestellt. Insoweit sind die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
aa. Der Kläger bezog durch die im Jahr 2010 vereinnahmten Zinsen in Höhe von EUR 27.670,76 aus der fällig gewordenen Lebensversicherung
nach § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG steuerbare und steuerpflichtige Einnahmen aus Kapitalvermögen, die dem 25 %-igen Kapitalertragsteuerabzug
unterlagen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG). Dieser Steuerabzug hat für Kapitalerträge, die – wie im Streitfall – nach dem
31.12.2008 zufließen, grundsätzlich abgeltende Wirkung (§ 43 Abs. 5 Satz 1 EStG).
Für den Steuerpflichtigen besteht nach § 32d Abs. 4 EStG aber zum einen die Möglichkeit, „mit der Einkommensteuererklärung”
die dem Steuerabzug unterlegenen Kapitalerträge mit in die Einkommensteuerfestsetzung einfließen zu lassen, z.B. in Fällen
eines nicht vollständig ausgeschöpften Sparer-Pauschbetrags oder zwecks Überprüfung des Steuereinbehalts dem Grund oder der
Höhe nach. In diesem Fall beträgt der Steuersatz auf die Kapitalerträge ebenfalls 25 % (§ 32d Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 2
EStG). Zum anderen werden „auf Antrag des Steuerpflichtigen” die Kapitalerträge in die Ermittlung der Summe der Einkünfte
einbezogen und abweichend von § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG der tariflichen Einkommensteuer unterworfen, wenn dies zu einer niedrigeren
Einkommensteuer einschließlich Zuschlagsteuern führt, sog. Günstigerprüfung (§ 32d Abs. 6 Satz 1 EStG).
Rechtlich noch nicht abschließend geklärt ist allerdings, bis zu welchem Zeitpunkt ein Antrag auf Günstigerprüfung nach §
32d Abs. 6 Satz 1 EStG wirksam gestellt werden kann. Das Gesetz regelt dies nicht. In den Erläuterungen zum Entwurf eines
Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 27.03.2007 heißt es hierzu schlicht, dass der Steuerpflichtige den Antrag „im Rahmen
seiner Veranlagung” geltend zu machen habe (BT-Drs. 16/4841, Seite 62). Auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage teilte
das Bundesfinanzministerium am 15.04.2011 mit, dass das Antragswahlrecht zwar nicht fristgebunden sei und daher grundsätzlich
bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist ausgeübt werden könne, allerdings durch die Bestandskraft des betroffenen Steuerbescheides
beschränkt sei. Nachträglich könne das Wahlrecht somit nur noch dann (erstmals) ausgeübt werden, soweit die Steuerfestsetzung
nach der Abgabenordnung bzw. entsprechender Regelungen der Einzelsteuergesetze noch geändert werden könne (BT-Drs. 17/5568,
Seite 10 f.). Im Ergebnis dieselbe Auffassung vertritt das Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen in seinem Erlass
vom 24.01.2011 (S 0351, u.a. veröffentlicht bei juris). Dagegen wird im steuerlichen Schrifttum – insbesondere unter Hinweis
auf den nicht eindeutigen Gesetzeswortlaut – die Ansicht favorisiert, dass das Antragswahlrecht fristungebunden bis zum Ablauf
der Festsetzungsfrist ausgeübt werden könne (vgl. Sikorski, NWB 2011, Heft 13, Seite 1064, 1067 ff.; Hechtner, NWB 2011, Heft
21, Seite 1769, 1770 f.).
bb. Im Streitfall war der Beklagte verpflichtet, dem Antrag des Klägers auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG
nachzukommen und die nacherklärten Kapitalerträge dem tariflichen Einkommensteuersatz zu unterwerfen.
(1.) Der Kläger stellte seinen Antrag auf Günstigerprüfung zwar erst am 07.05.2012 und somit deutlich nach Eintritt der Bestandskraft
der Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2010 vom 06.07.2011. Allerdings muss der Antrag nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG
nach Auffassung des Senats nicht zwingend im Zuge der Abgabe der Einkommensteuererklärung, sondern kann auch noch später wirksam
gestellt werden.
Wird der Antrag – wie im Streitfall – nach Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung gestellt, ist entscheidend, dass
diese verfahrensrechtlich noch änderbar ist, da der Vorschrift des § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG selbst nicht der Charakter einer
Änderungsnorm zukommt. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – erstrebt wird im Hinblick auf die Anrechnungsmöglichkeit
der Kapitalertragsteuer gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG eine höhere Steuerfestsetzung – steht der Umstand entgegen, dass zwar
die nacherklärten Kapitalerträge nachträglich bekannt gewordene Tatsachen darstellen, nicht aber die nachträgliche Antragstellung
nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG; eine solche ist nur Verfahrenshandlung (vgl. BFH-Urteil vom 28.09.1984 VI R 48/82, BStBl II
1985, 117). Zudem kommt eine Änderung nach § 173 AO – ebenso wie eine solche nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO – nur in
Betracht, wenn die bisherige Steuerfestsetzung rechtswidrig ist. Im Hinblick darauf, dass die abgeltende Besteuerung der Kapitalerträge
mit einem Pauschalsteuersatz von 25 % seit dem Jahr 2009 den gesetzlichen Regelfall darstellt, fehlt es auch hieran.
(2.) Im Streitfall war der Beklagte dennoch – auch nachträglich – zur Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG verpflichtet.
Denn er eröffnete durch seine Änderungsfestsetzung vom 27.06.2012, gegen die der Kläger fristgemäß Einspruch erhob, das „Tor”
zur nachträglichen Günstigerprüfung. Mit jenem Bescheid reagierte der Beklagte auf das Schreiben des Klägers vom 07.05.2012,
änderte die Einkommensteuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und erhöhte die für das Jahr 2010 festzusetzende Einkommensteuer
von EUR Null auf EUR 6.373. Insofern setzte der Beklagte auf die Kapitalerträge – abzüglich des Sparer-Freibetrags von EUR
1.602 (§ 20 Abs. 9 EStG) und abzüglich der auf die Kapitalerträge entfallenden Kirchensteuer (§ 32d Abs. 1 Satz 3 EStG) –
den besonderen Steuertarif von 25 % gemäß § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG fest, rechnete zugleich aber die abgeführte Kapitalertragsteuer
in Höhe von EUR 6.517,19 an. Hierdurch „brach” der Beklagte die Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr
2010 in Höhe eines Betrages von EUR 6.373 auf. In dieser Höhe lebte das Wahlrecht der Kläger, einen Antrag auf Günstigerprüfung
der Besteuerung der Kapitalerträge nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG zu stellen, (wieder) auf. In dieser Höhe besteht infolge
des Einspruchs ein Änderungsrahmen zu Gunsten der Kläger (§ 351 Abs. 1 AO). Dies ist auch deshalb konsequent, da der Beklagte
im Rahmen der Änderungsfestsetzung vom 27.06.2012 die Kapitalerträge in das Besteuerungsergebnis aufnahm – und zwar zum Steuersatz
von 25 %. Er verhielt sich sowohl im Festsetzungs- als auch im Anrechnungsteil des geänderten Einkommensteuerbescheides so,
als habe er eine Steuerfestsetzung nach § 32d Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 EStG vorgenommen. Unerheblich ist, dass der Beklagte
womöglich nicht beabsichtigte, neben einer nachträglichen Festsetzung von Kirchensteuer auch Einkommensteuer auf die nacherklärten
Kapitalerträge festzusetzen. Entscheidend ist die formelle Bescheidlage, mit der er im Änderungsbescheid vom 27.06.2012 eine
Einkommensteuer in Höhe von EUR 6.373 tenorierte.
(3.) Die von den Klägern beanspruchte Herabsetzung der Einkommensteuer für 2010 auf den tariflichen Einkommensteuersatz (§
32a Abs. 1 und 5 EStG) vollzieht sich in den Grenzen des § 351 Abs. 1 AO.
3. Die Übertragung der Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer auf den Beklagten ergibt sich aus § 100 Abs. 2 Satz
2 FGO.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der
Zivilprozessordnung.
6. Die Revision war nicht zuzulassen. Zulassungsgründe i.S. von § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Zwar ist bislang ungeklärt,
bis zu welchem Zeitpunkt ein Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG wirksam gestellt werden kann. Streitiger
Zeitraum ist insoweit allerdings nur derjenige ab Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung. Offensichtlich lässt es auch die
Finanzverwaltung genügen, dass die Antragstellung innerhalb der Einspruchsfrist erfolgt (vgl. Finanzministerium des Landes
Nordrhein-Westfalen, Erlass vom 24.01.2011 S 0351, veröffentlicht bei juris). Insofern kann es unter Beachtung der Grenzen
des § 351 Abs. 1 AO keine Rolle spielen, ob es sich um einen Einspruch gegen den Ursprungsbescheid oder gegen einen geänderten
Bescheid handelt.