06.06.2013
Bundesfinanzhof: Urteil vom 07.02.2013 – VIII R 8/10
Gründe
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I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin erzielte im Streitjahr 2002 Einkünfte aus selbständiger Arbeit als Arbeitsmedizinerin i.S. des § 3 des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG).
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Die arbeitsmedizinische Tätigkeit übte sie an verschiedenen Standorten (Kasernen und Betrieben) aus, wo ihr jeweils ein Raum zur Verfügung gestellt wurde. Die betriebsärztlichen Berichte, Empfehlungen und Gutachten erstellte sie in einem ausschließlich beruflich genutzten Raum im selbstbewohnten Wohnhaus.
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In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte sie auf das Arbeitszimmer entfallende Aufwendungen in Höhe von 10.602 € als Betriebsausgaben bei ihren Einkünften aus selbständiger Arbeit geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ließ demgegenüber im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr unter Verweis auf die Regelungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b des Einkommensteuergesetzes (EStG) nur einen Betrag in Höhe von 1.250 € zum Abzug zu, da es sich bei dem von der Klägerin genutzten Raum um ein häusliches Arbeitszimmer handele, das nicht den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bilde.
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Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 698 veröffentlichten Urteil ab.
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Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts und von Verfahrensrecht. Das FG habe keine umfassende Wertung der Tätigkeit der Klägerin vorgenommen, die nicht mit dem Berufsbild des Arztes vergleichbar sei, sondern sich an den Gesetzesbestimmungen des § 3 ASiG orientiere.
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Die Kläger beantragen sinngemäß,
das angefochtene Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 25. März 2009 2 K 1396/07 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2002 vom 15. Juli 2004 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20. Februar 2007 dahin zu ändern, dass bei der Ermittlung der Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit insgesamt Aufwendungen für den betrieblich genutzten Raum in Höhe von 8.929,25 € als weitere Betriebsausgaben abgezogen werden und die Einkommensteuer entsprechend herabgesetzt wird.
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Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Das FG habe festgestellt, dass die Tätigkeit der Klägerin als Arbeitsmedizinerin vielfältig und gestreut sei. Die aus dieser Feststellung getroffene Schlussfolgerung, dass die Betätigung keinem konkreten Mittelpunkt zugeordnet werden könne, sei möglich und verstoße nicht gegen Denkgesetze. Das FG sei nicht verpflichtet, den Sachverhalt solange zu ermitteln, bis ein Mittelpunkt der Erwerbstätigkeit festgestellt werden könne.
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II. Die Revision der Kläger ist begründet und führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
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1. Die tatsächlichen Feststellungen des FG tragen nicht seine Würdigung, dass der von der Klägerin ausschließlich beruflich genutzte Raum der Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG unterliege.
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a) Das FG hat angenommen, die geltend gemachten Aufwendungen beträfen ein häusliches Arbeitszimmer i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG. Dieses bilde jedoch nicht den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung der Klägerin, da deren Aufgabenbereich so vielfältig gestreut sei, dass die Betätigung keinem konkreten Mittelpunkt zugeordnet werden könne. Die ärztliche Tätigkeit könne grundsätzlich nur durch persönlichen Arbeitseinsatz erbracht werden und setze ein persönliches Vertrauensverhältnis zum Patienten voraus. Zwar sei die Tätigkeit der Klägerin als Arbeitsmedizinerin nicht ohne weiteres mit der eines Arztes für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen vergleichbar. Gleichwohl übe die Klägerin ihre Tätigkeit qualitativ nicht nur im häuslichen Arbeitszimmer aus. Insbesondere die persönliche Anamnese in den Kasernen und Betrieben, die jedenfalls die Regel sei, könne aufgrund des Berufsbildes des Arztes nicht auf einen mechanischen Akt im Rahmen einer unselbständigen Vorbereitungshandlung reduziert werden.
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b) Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand, weil das FG keine den Senat bindenden Feststellungen getroffen hat, die seine Beurteilung tragen, dass ein häusliches Arbeitszimmer vorliege.
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Unzureichende oder widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen im angefochtenen Urteil stellen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) einen materiell-rechtlichen Fehler dar, der auch ohne diesbezügliche Rüge zum Wegfall der Bindungswirkung des § 118 Abs. 2 FGO führt (BFH-Urteil vom 25. Juni 2003 X R 72/98, BFHE 202, 514, BStBl II 2004, 403, m.w.N.). Das ist u.a. dann der Fall, wenn es den Feststellungen an einer hinreichenden Grundlage fehlt, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt nachzuvollziehen, wie das FG zu der seine Entscheidung tragenden Überzeugung gelangt ist, oder das FG zu dem von ihm gefundenen Ergebnis der Beweiswürdigung überhaupt nicht kommen konnte, es also gleichsam ins Blaue hinein Feststellungen getroffen hat, die sich in Wahrheit als Mutmaßungen oder bloße Unterstellungen erweisen. Denn die vom FG getroffenen Feststellungen müssen zwar nicht aufgrund der dem FG vorliegenden Beweismittel zwingend sein. Sie müssen jedoch möglich sein. Dazu gehört nicht nur, dass sie nicht in sich widersprüchlich oder sonst mit den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen unvereinbar sind, sondern auch, dass sie auf einer nachvollziehbaren Anwendung von rational einsichtigen Grundsätzen der Beweiswürdigung beruhen (BFH-Urteil vom 17. Mai 2005 VII R 76/04, BFHE 210, 70, m.w.N).
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c) Der Annahme des FG, es liege im Streitfall ein häusliches Arbeitszimmer vor, das der Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG unterliege, da der Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Tätigkeit der Klägerin nicht bestimmbar sei, fehlt es an der Nachvollziehbarkeit in diesem Sinne. Das FG hat nicht dargelegt, welche Gründe im Einzelnen für seine Feststellung maßgebend waren, dass die Tätigkeit der Klägerin als Arbeitsmedizinerin mit dem Berufsbild eines Arztes vergleichbar sei. Dieses ist nach seiner Auffassung in besonderem Maße durch den persönlichen individuellen Dienst am Patienten geprägt. Konkrete Feststellungen, inwieweit dies auch auf die Tätigkeit der Klägerin zutrifft, fehlen. Dass die persönliche Anamnese in den Kasernen und Betrieben die Regel sei, wird vom FG lediglich behauptet, ohne dass dies durch tatsächliche Feststellungen über die konkrete Tätigkeit der Klägerin im Außendienst untermauert wird. Es fehlen jegliche Feststellungen dazu, inwieweit die Klägerin ihre Aufgaben als Arbeitsmedizinerin bei ihren Auftraggebern vor Ort persönlich zu erfüllen hatte und welche konkreten Aufgaben sie in ihrem beruflich genutzten Raum zu Hause erbringen konnte.
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2. Das Urteil des FG ist darüber hinaus wegen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) aufzuheben (§ 119 Nr. 3 FGO).
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a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör beinhaltet das Recht der Beteiligten, sich zur Sache zu äußern und für das Gericht die Pflicht, entscheidungserhebliches Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Allerdings bedeutet die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht, dass das Gericht sich den rechtlichen Ansichten des Klägers anschließen müsste. Vielmehr darf es Vorbringen der Beteiligten aus formellen und materiellen Gründen unbeachtet lassen (BFH-Beschluss vom 20. Juli 2007 VIII B 8/06, BFH/NV 2007, 2069, m.w.N.).
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b) Aus den Ausführungen des FG ergibt sich, dass es den entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin, es handele sich vorliegend um eine Arztpraxis, in der Publikumsverkehr stattfinde, und nicht um ein häusliches Arbeitszimmer i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG, nicht zur Kenntnis genommen hat, denn es hat in seinem Urteil ausgeführt, es sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die geltend gemachten Aufwendungen ein häusliches Arbeitszimmer im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung beträfen. Außerdem widerspricht die Darstellung des FG, die Klägerin habe im Einspruchsverfahren geltend gemacht, sie sei als Fachärztin für Arbeitsmedizin kurativ tätig, deren Vortrag im Einspruchs- und Klageverfahren, sie sei als Arbeitsmedizinerin gerade nicht kurativ tätig. Es hat damit entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin übergangen und deren Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
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3. Das Urteil des FG kann nach alledem keinen Bestand haben. Die Sache wird an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO), um diesem Gelegenheit für eine erneute Prüfung zu geben, ob eine Abzugsbegrenzung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG bereits deshalb ausscheidet, weil es sich nach den von der Rechtsprechung des BFH herausgearbeiteten Kriterien nicht um ein häusliches Arbeitszimmer, sondern um eine ärztliche Praxis handelt, die erkennbar besonders für die Untersuchung von Patienten eingerichtet und für jene leicht zugänglich war (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 16. April 2009 VIII B 222/08, BFH/NV 2009, 1421, m.w.N.). Sollte dies zu verneinen sein, wird das FG festzustellen haben, welche konkreten häuslichen und außerhäuslichen Tätigkeiten von der Klägerin als Arbeitsmedizinerin unter Berücksichtigung der gesetzlichen Aufgabendefinition des § 3 ASiG zu erbringen waren, und ob bei einer Gesamtbetrachtung das häusliche Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Tätigkeit der Klägerin bildete.