05.07.2013
Finanzgericht Münster: Urteil vom 25.04.2013 – 3 K 3754/11 E
1) Einem Steuerpflichtigen, der die einfachgesetzlichen Voraussetzungen des § 3 Nr. 12 EStG nicht erfüllt, können auch aus
Gleichbehandlungsgründen keine pauschalen Werbungskosten oder Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung
nach § 12 AbgG gewährt werden (Anschluss an BFH v. 11.9.2008 - VI R 13/06, BStBl. II 2008, 928 und VI R 63/04, BFH/NV 2008,
2018 sowie BVerfG v. 26.7.2010 - 2 BvR 2227/08 und 2 BvR 2228/08, BVerfGK 17, 438).
2) Europäischer Gerichtshof i.S.v. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ist nicht der EGMR mit Sitz in Straßburg, sondern nur der EuGH mit
Sitz in Luxemburg (Abschluss an BFH v. 10.5.2012 - X B 183/11, BFH/NV 2012, 1570). Ein Einbezug des EGMR in den Anwendungsbereich
der Vorschrift aufgrund erweiternder Auslegung oder Analogie kommt nicht in Betracht.
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat der 3. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … Richter … Ehrenamtliche
Richterin … Ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 25.04.2013 für Recht erkannt:
Tatbestand
Der Kläger ist verheiratet und wurde im Streitjahr 2010 getrennt zur Einkommensteuer veranlagt. Er erzielte Einkünfte aus
Gewerbebetrieb sowie aus nichtselbständiger Arbeit.
Nach Abgabe der Einkommensteuererklärung setzte der Beklagte die Einkommensteuer gegen den Kläger mit Bescheid vom 12.09.2011
auf 57.654 Euro fest.
Hiergegen wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch vom 16.09.2011 mit dem Hinweis, dass wegen der Nichtberücksichtigung
pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über
die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (AbgG) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
zwei Verfahren anhängig seien (Az. 7258/11 und 7227/11). Es bestünden Rechtmäßigkeitsbedenken, weil „normale” Steuerpflichtige
diese nicht erhielten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) (Urteil vom 14.10.2004 2 BvR 1481/04,
BVerfGE 111, 307, NJW 2004, 3407) und nach Art. 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe die Pflicht der
deutschen Gerichtsbarkeit und der Behörden zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR. Damit seien die anhängigen Verfahren
für alle gleichgelagerten Fälle von Bedeutung. Der Kläger erklärte sich mit dem Ruhen des Verfahrens aus Zweckmäßigkeitsgründen
nach § 363 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) einverstanden. Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit verwies er auf einen Beitrag
von Nebe, Stbg 2010, 293.
Nach Ergehen eines Änderungsbescheides vom 21.09.2011 wegen hier nicht mehr streitgegenständlicher Punkte wies der Beklagte
den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 23.09.2011 als unbegründet zurück.
Die Voraussetzungen des § 3 Nr. 12 des Einkommensteuergesetzes (EStG) lägen beim Kläger nicht vor. Er gehöre nicht zum begünstigten
Personenkreis nach § 12 AbgG. Im Übrigen scheitere die Erweiterung der steuerfreien Kostenpauschale auf andere Berufsgruppen
daran, dass die beruflich veranlassten Aufwendungen anderer Berufsgruppen als Abgeordneten im Gegensatz zu den besonderen,
mandatsbezogenen Aufwendungen der Abgeordneten nicht durch eine Einheitspauschale mit Abgeltungswirkung erfasst würden.
Eine Ausweitung der Regelung durch den Gesetzgeber käme allenfalls auf vergleichbare Berufsgruppen in Betracht, sodass weder
verfassungsrechtliche Bedenken in Bezug auf die Besteuerung des Klägers bestünden noch Entscheidungserheblichkeit gegeben
sei. Auch der Bundesfinanzhof (BFH) habe entschieden, dass eine Ausdehnung auf andere Berufsgruppen nicht in Betracht komme
(Urteile vom 11.09.2008 VI R 13/06, BStBl II 2008, 928 und VI R 63/04, BFH/NV 2008, 2018). Das BVerfG habe die hiergegen gerichteten
Verfassungsbeschwerden wegen fehlender Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 26.07.2010 2 BvR
2227/08 und 2 BvR 2228/08, BVerfGK 17, 438), da eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht erkennbar sei.
Das Ruhen des Verfahrens sei abzulehnen. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO seien nicht erfüllt.
Die sog. Zwangsruhe trete nur ein, wenn ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), BVerfG oder einem obersten
Bundesgericht anhängig sei. Der EGMR werde nicht genannt.
Auch ein Ruhen aus Zweckmäßigkeitsgründen nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO scheide nach pflichtgemäßem Ermessen des Beklagten aus,
weil keine gewichtigen Gründe vorlägen, die ein Ruhen rechtfertigen würden. Es würden weder Arbeitsaufwand noch eine widersprüchliche
Entscheidung vermieden. Das bloße Interesse des Klägers, die Festsetzung offenzuhalten, rechtfertige ein Ruhen nicht. Aus
seiner Sicht sei die Rechtslage aufgrund der genannten Rechtsprechung des BFH und des BVerfG eindeutig geklärt.
Mit der am 21.10.2011 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er verweist hierzu auf die Einspruchsbegründung
und stellt den Antrag, das Verfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO aus Zweckmäßigkeitsgründen zum Ruhen zu bringen, bis die
Entscheidung des EGMR gefallen sei.
Der Beklagte verkenne, dass mittlerweile nicht nur vor dem BVerfG über steuerliche Fragen gestritten werde sondern auch vor
dem EGMR. Die Begründung der Finanzverwaltung, wegen der mangelnden kassatorischen Wirkung der Entscheidung des EGMR und der
fehlenden Nennung in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO sei ein Ruhen des Verfahrens nicht möglich, gehe fehl. Dies ergebe sich aus Art.
46 EMRK und der bereits zitierten Rechtsprechung des BVerfG. Es komme auch ein Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz
2 AO in Betracht, da der Gesetzestext dort nicht sauber formuliert sei: Einen „Europäischen Gerichtshof” gebe es nicht. Vielmehr
gebe es den „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft”, das „Gericht der Europäischen Union” und den „Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte”. Hieraus ergebe sich, dass bei Musterprozessen ein Ruhen des Verfahrens zu gewähren sei. Ergänzend verweist
er auf den Beitrag von Nebe, NWB 2012, 12.
Des Weiteren weist der Kläger auf zwei anhängige Nichtzulassungsbeschwerden beim BFH (XI B 99/12 und XI B 101/12) hin, die
gegen die Urteile des Finanzgerichts (FG) Köln vom 09.05.2012 (5 K 3607/11 und 5 K 3528/11) eingelegt worden seien. Damit
seien die Voraussetzungen der Zwangsruhe und der Zweckmäßigkeitsruhe erfüllt. Hierzu verweist er auf den Beitrag von Nebe,
NWB 2012, 2902 und bezieht sich auf die dort bezeichneten Musterverfahren.
Der Kläger weist ferner darauf hin, dass der Beklagte nunmehr Einspruchsverfahren wegen des hier anhängigen Verfahrens zum
Ruhen bringe.
Der Kläger beantragt,
das vorliegende Verfahren gem. § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen oder gem. § 251 der Zivilprozessordnung (ZPO)
in Verbindung mit § 155 FGO ruhen zu lassen bis zur Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7258/11 und 7227/11,
hilfsweise, die angefochtenen Einkommensteuerbescheide zu ändern und einen pauschalen Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzug
zu gewähren,
hilfsweise, den Beklagten unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 23.09.2011 zu verpflichten, das Einspruchsverfahren
bis zu einer Entscheidung des EGMR in den Verfahren 7258/11 und 7227/11 ruhen zu lassen,
äußerst hilfsweise, im Fall des Unterliegens die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an seiner Auffassung aus der Einspruchsentscheidung fest und führt erneut aus, dass die Klage aus den dort
bereits dargelegten Gründen keinen Erfolg haben könne.
Hinsichtlich der Bezugnahme des Klägers auf laufende Einspruchsverfahren, die nunmehr zum Ruhen gebracht worden seien, trägt
der Beklagte vor, dass diesbezüglich die Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO vorlägen, da die Kläger das Rechtsbehelfsverfahren
in eigener Sache über dieselbe Streitfrage für ein anderes Jahr führen würden.
Einem Ruhen des finanzgerichtlichen Verfahrens werde nicht zugestimmt.
Der Senat hat am 25.04.2013 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist in Haupt- und Hilfsantrag unbegründet.
1.
Der angefochtene Einkommensteuerbescheid vom 12.09.2011 und die Einspruchsentscheidung vom 23.09.2011 sind nicht rechtswidrig
und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 FGO.
Wie der Beklagte in der Einspruchsentscheidung zutreffend ausführt, ist die steuerfreie Kostenpauschale für Abgeordnete dem
Kläger nicht zu gewähren, da er die einfachgesetzlichen Voraussetzung nicht erfüllt und eine Erweiterung aus Gleichheitsgründen
(Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) nicht in Betracht kommt (vgl. BFH-Urteile vom 11.09.2008 VI R 13/06, BStBl II 2008, 928
und VI 63/04, BFH/NV 2008, 2018, sowie BVerfG-Beschluss vom 26.07.2010 2 BvR 2227/08 und 2 BvR 2228/08, BVerfGK 17, 438).
Insoweit folgt der Senat der Einspruchsentscheidung und sieht von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gem. §
105 Abs. 5 FGO ab.
Es besteht auch kein Anspruch des Klägers, den Beklagten unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung zum Ruhen des Verfahrens
zu verpflichten, § 101 FGO.
Ein Fall der sog. Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO liegt nicht vor und der Beklagte hat es darüber hinaus ermessensfehlerfrei
abgelehnt, eine Verfahrensruhe aus Zweckmäßigkeitsgründen nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO anzuordnen.
a.
Die Voraussetzung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO liegen nicht vor.
Ist wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Europäischen Gerichtshof,
dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht anhängig und wird der Einspruch hierauf gestützt, ruht gem.
§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO das Einspruchsverfahren insoweit. Europäischer Gerichtshof im Sinne dieser Vorschrift ist nicht der
EGMR mit Sitz in Straßburg sondern der EuGH mit Sitz in Luxemburg (BFH-Beschluss vom 10.05.2012 X B 183/11, BFH/NV 2012, 1570).
Der Senat schließt sich dieser Auslegung an, die auch den Entscheidungen des FG Köln (in EFG 2012, 2254) sowie des Niedersächsischen
FG (Urteil vom 16.11.2011 3 K 269/11, EFG 2012, 294) entspricht. Schon der Wortlaut des Gesetzes „dem Europäischen Gerichtshof”
erfasst eindeutig nur einen Europäischen Gerichtshof und damit nicht den EGMR. Die Wortlautgrenze ist bei der Auslegung nicht
zu überschreiten, sodass eine erweiternde Auslegung nach Auffassung des Senates nicht in Betracht kommt (so auch Niedersächsisches
FG in EFG 2012, 294). Aber selbst wenn man den Begriff als nicht eindeutig ansähe, wäre der EGMR nicht hierunter zu fassen,
da ihm die Aufgabe der Wahrung der EMRK zukommt und er – anders als der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen (vgl. Art.
267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) – nicht unmittelbar in den Besteuerungsprozess einbezogen
ist.
Aus diesem Grund ist auch die im BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 2254 offengelassene Frage einer Analogie mangels vergleichbarer
Lage zu verneinen. Es bestehen signifikante Unterschiede der im Gesetz genannten Verfahren zu den Verfahren vor dem EGMR (vgl.
dazu F. Kirchhof, NJW 2011, 3681). Aus einer Entscheidung des EGMR folgen keine unmittelbaren Einwirkungen auf die nationale
Rechtsordnung. Zwar sind die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in besonderer Weise auch von Behörden und Gerichten zu berücksichtigen.
Die EMRK hat allerdings den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Wird ein Konventionsverstoß festgestellt (vgl. Art. 41 EMRK,
keine Kassationsentscheidung), betrifft dies zunächst nur die res iudicata. Die Entscheidung ist von staatlichen Stellen im
Rahmen der Auslegung des einfachen Rechts zu berücksichtigen und die Mitgliedstaaten müssen selbst entscheiden, auf welche
Weise sie den Verstoß beheben wollen (vgl. BVerfG-Urteile vom 14.10.2004 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 und vom 04.05.2011
2 BvR 2333/09 (u. a.), BVerfGE 128, 326, NJW 2011, 1931). Dies unterscheidet die Judikate des EGMR von den übrigen in § 363
Abs. 2 Satz 2 AO genannten Gerichten. Die genannten Bundesgerichte legen Bundesrecht aus und wirken so unmittelbar auf das
Rechtsverständnis des einschlägigen einfachen Rechts ein. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben Gesetzesrang
und die Grundrechte gehen dem einfachen Recht vor, sodass auch insofern ein unmittelbarer Einfluss auf das einfache Gesetzesrecht
besteht. Unmittelbaren Einfluss haben auch die Entscheidungen des EuGH, dessen Auslegung des Unionsrechts sich über den unionsrechtlichen
Anwendungsvorrang ebenfalls unmittelbar in einer Veränderung des einfachen Rechts niederschlägt. Soweit der Kläger ausführt,
dass den Entscheidungen des EGMR eine rechtskraftdurchbrechende Wirkung zukommt, betrifft dies insbesondere die Frage der
prozessualen Durchsetzung gegenüber vorherigen Entscheidungen des BVerfG, die ansonsten einem zulässigen Verfahren als Prozesshindernis
entgegenstünden. Insofern können Entscheidung des EGMR einer rechtserheblichen Änderung der Sach- und Rechtslage gleichstehen
(BVerfG in NJW 2011, 1931).
Darüber hinaus ist eine Analogie mangels planwidriger Regelungslücke auch aus systematischen Gründen abzulehnen. § 363 Abs.
2 Satz 2 AO enthält eine enumerative Aufzählung an Gründen für eine Zwangsruhe, während Satz 1 das Ruhen aus Zweckmäßigkeitsgründen
an die Zustimmung des Einspruchsführers knüpft und in das Ermessen der Finanzbehörde stellt. Dieses Regelungssystem führt
nach Auffassung des Senates dazu, dass alle nicht ausdrücklich von Satz 2 erfassten Fällen nach der gesetzgeberischen Intention
Satz 1 unterfallen sollen. Dieses vom Gesetzgeber angeordnete Verhältnis der Ruhensgründe offenbart keine planwidrige Lücke.
Vielmehr wäre der Gesetzgeber selbst berufen, den Katalog des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zu erweitern.
Da der Kläger sich in Bezug auf die steuerfreie Aufwandsentschädigung für Abgeordnete auf Verfahren vor dem EGMR bezieht,
liegen die Voraussetzungen der Zwangsruhe nicht vor und die Einspruchsentscheidung ist nicht aus diesem Grund rechtswidrig.
b.
Die Ablehnung der Anordnung der Zweckmäßigkeitsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO war nicht ermessensfehlerhaft.
Die Finanzbehörde kann das Verfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO mit Zustimmung des Einspruchsführers ruhen lassen, wenn das
aus wichtigen Gründen zweckmäßig erscheint.
Der Senat sieht die Ablehnung des Ruhensantrags des Klägers durch den Beklagten nicht als ermessensfehlerhaft an. Der erkennende
Senat kann eine Ermessensentscheidung des Beklagten nach § 102 Satz 1 FGO nur daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen
des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch
gemacht ist.
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Rechtsmittelverfahren nicht dem Zweck dienen, Steuerfälle ohne jedes Risiko kostenpflichtiger
ablehnender Entscheidungen offen zu halten (vgl. BFH-Beschlüsse vom 06.10.1995 III R 52/90, BStBl II 1996, 20 und vom 06.07.1999
IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587). Zwar besteht ein natürliches Interesse des Steuerpflichtigen, Rechtsmittelkosten möglichst
gering zu halten und möglichst viele Veranlagungen offen zu halten, um auch in Zukunft von allen eventuell günstigen Entwicklungen
der Rechtsprechung profitieren zu können. Andererseits besteht auch ein Interesse der Finanzverwaltung, Veranlagungen rechts-
oder bestandskräftig abschließen zu können, womit zugleich dem Steuerpflichtigen Rechtssicherheit gewährt wird. Bei den Zweckmäßigkeitserwägungen
im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO sind daher sowohl die materiellen Interessen des Einspruchsführers als auch die Interessen
der Finanzverwaltung an einem ökonomischen Verfahren zu beachten. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass ein Steuerpflichtiger
selbst dann keinen Anspruch auf ein Ruhen des Einspruchsverfahrens hat, wenn er den Einspruch auf ein bereits anhängiges Musterverfahren
bei einem der in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO aufgeführten Gerichte stützt, was sich aus § 363 Abs. 2 Satz 4 AO ergibt. Danach ist
das Einspruchsverfahren auch bei anhängigen Verfahren vor einem der in Abs. 2 Satz 2 genannten Gerichte fortzusetzen, wenn
die Finanzbehörde dies dem Einspruchsführer mitteilt. Dies muss erst recht dann gelten, wenn ein Ruhen von Gesetzes wegen
nach Satz 2 der Vorschrift nicht in Betracht kommt, weil das hierfür angeführte Verfahren vor einem dort nicht genannten höchsten
Gericht anhängig ist (FG Köln in EFG 2012, 2254).
Auch wenn es dem Beklagten möglich gewesen wäre, das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO wegen der beim EGMR
anhängigen Verfahren anzuordnen, sieht der Senat die Ablehnung vor dem Hintergrund dieser Rechtsgrundsätze nicht als ermessensfehlerhaft
an. Denn der Beklagte hat über die fehlende Verringerung von Arbeitsaufwand und die fehlende Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen
hinaus deutlich gemacht, dass er aufgrund der bislang ergangen Rechtsprechung die Rechtslage für gefestigt hält. Hierzu verweist
er – nach Auffassung des erkennenden Senates zu Recht – auf die Entscheidungen des BFH (in BStBl II 2008, 928 und BFH/NV 2008,
2018) sowie des BVerfG (in BVerfGK 17, 438). Diesen zufolge bestehen an der materiell-rechtlichen Regelung keine verfassungsrechtlichen
Zweifel. Und allein das Interesse des Steuerpflichtigen, die Bestandskraft der Steuerfestsetzung möglichst spät eintreten
zu lassen, begründet keinen gewichtigen Grund im Sinne des § 363 Abs. 2 Satz 1 AO. Diese Erwägungen sind schon deswegen nicht
als fehlerhaft anzusehen, weil insbesondere der BFH in der vom Beklagten zitierten Entscheidung ausgeführt hat, dass der Gesetzgeber
im Rahmen einer Neuregelung (der unterstellt verfassungswidrigen Regelung) gehindert wäre, in diesem Punkt eine für den Kläger
günstigere Regelung zu erlassen (BFH in BStBl II 2008, 928).
3.
Der Senat sah auch keine Gründe, das Gerichtsverfahren auszusetzen oder zum Ruhen zu bringen.
Für eine direkte Anwendung des § 74 FGO fehlt es hinsichtlich des Verfahrens vor dem EGMR an der Vorgreiflichkeit der Verfahren.
Eine analoge Anwendung setzt voraus, dass in dem Bezugsverfahren über die Wirksamkeit einer Norm mit Wirkung für und gegen
alle entschieden werden kann. Diese Verwerfungskompetenz besitzt der EGMR nicht (BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 1570).
Hinsichtlich der beim BFH anhängigen Nichtzulassungsbeschwerden (Az. VI B 99/12, VI B 101/12) kommt eine Verfahrensaussetzung
nach § 74 FGO auch nicht in entsprechender Anwendung in Betracht, da es ebenfalls an der Vorgreiflichkeit fehlt.
Vorgreiflichkeit liegt nicht vor, wenn in einem Rechtsstreit dieselbe oder eine ähnliche Rechtsfrage anhängig ist. Dies ist
vielmehr eine Frage des Ruhens des Verfahrens (BFH-Beschluss vom 28.06.2010 III B 73/10, BFH/NV 2010, 1847).
Ein Ruhen des Verfahrens gemäß § 155 FGO in Verbindung mit § 251 ZPO kommt indes – unabhängig von den Bedenken des Senates
in Bezug auf dessen Zweckmäßigkeit – bereits deshalb nicht Betracht, weil der Beklagte in der mündlichen Verhandlung die hierzu
erforderliche Zustimmung ausdrücklich verweigert hat.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO erfolgt wegen grundsätzlicher Bedeutung vor dem Hintergrund, dass der
BFH in BFH/NV 2012, 2254 die Frage einer erweiternden Auslegung oder Analogie hinsichtlich § 363 Abs. 2 Satz 2 AO aufgeworfen
hat, sie aber keiner Klärung zuführen konnte.