· Fachbeitrag · Bundesverfassungsgericht
Verfassungswidrigkeit der Zinssätze ab dem 1.1.14: Konsequenzen für die steuerliche Praxis
Prof. Dr. Volker Kreft, RiFG, Bielefeld
| Nach vielen vergeblichen Anläufen bei den Steuergerichten haben die seit Jahren in der Literatur geäußerten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 0,5 % pro Monat (etwa Seer, DB 14, 1945) endlich Gehör gefunden. Mit Beschluss vom 8.7.21 hat das BVerfG entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen ( § 233a AO ) mit 6 % p. a. ab 2014 verfassungswidrig ist. Im Streitfall ging es um Nachzahlungszinsen auf Gewerbesteuer nach einer BP für den Verzinsungszeitraum 1.1.10 bis 14.7.14 (BVerfG 8.7.21, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17). |
1. Inhalt der Entscheidung des BVerfG
Auslöser für die Entscheidung ist das sich seit Jahren weiter verstetigende niedrige Zinsniveau auf dem Kapitalmarkt, das in diametralem Gegensatz zur 6%igen Jahresverzinsung durch die Finanzverwaltung steht. Dieses Ungleichgewicht ist nach Auffassung des BVerfG für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume noch hinnehmbar und führt erst ab 2014 zur Verfassungswidrigkeit. Die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz umfasst dabei auch die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen. Das BVerfG erklärt das bisherige Recht jedoch ausdrücklich ‒ trotz der erkannten Verfassungswidrigkeit ‒ für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume für weiterhin anwendbar. Erst für 2019 und später verpflichtet das BVerfG den Gesetzgeber, den verfassungswidrigen Zustand bis zum 31.7.22 durch eine Neuregelung zu beseitigen.
2. Konsequenzen für die Besteuerungspraxis
Wie so häufig bei Entscheidungen des BVerfG können Steuerbürger nicht automatisch von einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer sie belastenden Regelung profitieren. Wieder einmal wird die Finanzverwaltung durch eine solche „Pro-futuro-Entscheidung“ vor übergroßen Auswirkungen auf den Staatshaushalt geschützt und dem Gesetzgeber lediglich aufgegeben, für die Zukunft nachzubessern. Im vorliegenden Fall ist jedoch zu differenzieren, je nachdem, welcher Verzinsungszeitraum betroffen ist.
2.1 Verzinsungszeiträume 2013 und früher
Hier bleibt es bei der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 0,5 % pro Monat.
PRAXISTIPP | Sofern sie für ihre Mandanten gegen entsprechende Zinsbescheide Einspruch eingelegt haben, müssen sie mit deren Zurückweisung rechnen. Im Falle einer Aussetzung der Vollziehung sollten betroffene Mandanten auf die baldigen Rückzahlungen der ausgesetzten Beträge hingewiesen werden. |
2.2 Verzinsungszeiträume 2014 bis einschließlich 2018
Trotz der festgestellten Verfassungswidrigkeit bleibt das aktuelle Recht anwendbar. Bei vorläufigen Zinsfestsetzungen wird die Finanzverwaltung die Vorläufigkeit aufheben. Nach der Entscheidung des BVerfG haben die Finanzverwaltung bzw. ‒ im Falle von Erstattungszinsen auf die GewSt ‒ die Gemeinden, soweit von der Anwendungssperre und der rückwirkenden Neuregelung auch Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen betroffen sind, zu prüfen, ob und inwieweit der Aufhebung oder Änderung einer Zinsfestsetzung zuungunsten Vertrauensschutzregelungen entgegenstehen (§§ 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i. V. m. § 239 Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. § 1 Abs. 2 Nr. 5 AO).
PRAXISTIPP | Sie sollten betroffene Mandanten darauf hinweisen, dass auch in diesen Fällen eingelegte Einsprüche abgewiesen werden und ausgesetzte Beträge gezahlt werden müssen. |
2.3 Verzinsungszeiträume ab 2019
Für Zeiträume ab Januar 2019 hat der Gesetzgeber bis zum 31.7.22 Zeit, eine verfassungskonforme Neuregelung zu schaffen. Welcher Zinssatz in Anbetracht des aktuellen Zinsniveaus für die Verzinsung von Steuernachzahlungen und -erstattungen angemessen ist, ist offen. Die konkreten steuerlichen Auswirkungen für Mandanten, die gegen einen Zinsbescheid Einspruch eingelegt haben oder deren Zinsbescheide einen Vorläufigkeitsvermerk enthalten, können erst bei Vorliegen einer Neuregelung benannt werden. Hier bleibt nur das Hoffen auf eine günstige Regelung. Formell und materiell bestandskräftige Zinsbescheide ohne Vorläufigkeitsvermerk können aufgrund der anstehenden gesetzlichen Neuregelung allerdings nicht mehr geändert werden.
2.4 Zukünftige Verzinsungszeiträume bis zur gesetzlichen Neuregelung
Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, die dann rückwirkend gilt, wird es angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl vermutlich noch einige Zeit dauern. Bis dahin müssen ihre Mandanten damit rechnen, dass etwa im Anschluss an Betriebsprüfungen weiterhin Zinsen in verfassungswidriger Höhe ‒ vorläufig ‒ festgesetzt werden und dann auch zunächst gezahlt werden müssen, es sei denn, die Finanzverwaltung erwägt eine bürgerfreundliche Übergangsregelung.
FAZIT | Der Umstand, dass betroffene Steuerbürger von der festgestellten Verfassungswidrigkeit ‒ trotz Einspruch oder Vorläufigkeitsvermerk ‒ nur sehr eingeschränkt profitieren, wird vielerorts kritisiert, insbesondere wegen des Verlustes des Vertrauens in verfassungskonforme Steuergesetze (etwa Eppler/Dorn, DB 21, 1986). Offen bleibt zudem, welche weiteren Besteuerungsfolgen sich aus dem Beschluss des BVerfG für andere Zinsarten mit gleicher Zinshöhe ergeben (Stundungszinsen, § 234 AO; Hinterziehungszinsen, § 235 AO; Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge, § 236 AO und Aussetzungszinsen, § 237 AO). Hier sollten sie die weitere Rechtsentwicklung aufmerksam verfolgen und betroffene Bescheide in jedem Fall offenhalten, falls kein entsprechender Vorläufigkeitsvermerk aufgenommen wird. |