08.09.2011 · IWW-Abrufnummer 120831
Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 24.05.2011 – 3 K 249/10
Zu den Voraussetzungen einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO.
Auch ein steuerrechtlich nicht ausgebildeter Laie handelt grob fahrlässig, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte und auch verstandene Frage nur deshalb nicht oder nur unvollständig beantwortet, weil er infolge eines Rechtsirrtums der Ansicht ist, die unterlassenen Angaben hätten in seinem Einzelfall keine Auswirkung.
Erhält ein Stpfl. von seinem steuerlichen Berater lediglich eine „komprimierte” Steuererklärung, so kann er nur die sich daraus ergebenden Daten überprüfen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2007 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (im Folgenden: AO) geändert werden kann.
Der Kläger hat mit Frau M.B. eine gemeinsame Tochter, die mit ihm unter der Adresse „J.straße 6” in der Stadt F. wohnte. Am 19. Februar 2009 ging bei dem Beklagten für das Streitjahr - wie im Vorjahr – eine komprimierte mit dem Computerprogramm „Elster” der Finanzverwaltung erstellte Einkommensteuererklärung des Klägers ein. Diese war zuvor von dem steuerlichen Berater des Klägers anhand dessen Angaben erstellt und dem Kläger zur Unterzeichnung und Weiterleitung an den Beklagten vorgelegt worden.
Seite 3 der komprimierten Steuererklärung beinhaltete die gekürzten Daten der „Anlage Kind”. Neben den Angaben zur Tochter und dem Betrag des im Streitjahr erhaltenen Kindergeldes wurde – wie im Vorjahr - unter der Überschrift „Kindschaftsverhältnis zu weiteren Personen” aufgeführt, dass ganzjährig ein Kindschaftsverhältnis der Tochter zu „M.B., J.straße 6, Stadt F. ” als ihrer „leibliche[n] Mutter” bestanden habe.
Im bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheid vom 9. März 2009 berücksichtigte der Beklagte die Tochter zur Hälfte bei dem Kläger, wobei die Vergleichsrechnung ergab, dass „die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums [des] Kindes durch das ausgezahlte Kindergeld [...] bewirkt wurde”.
Mit Schreiben des steuerlichen Beraters des Klägers vom 3. August 2008 wurde die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO und die nachträgliche Berücksichtigung des Entlastungsbetrages für Alleinerziehende beantragt. Bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung des Jahres 2008 sei dem steuerlichen Berater aufgefallen, „dass die Anlage Kind für das Jahr 2007 unvollständig ausgefüllt worden war”. Es hätten in den Zeilen 35 und 36 der Anlage Kind Angaben zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemacht werden müssen, weil der Kläger seit Dezember 2006 von der Kindesmutter getrennt lebe und deshalb alleinerziehend sei. Der Kläger habe in der ihm übersandten komprimierten Steuererklärung nicht erkennen können, dass diese steuerrelevanten Angaben fehlten. Ihm sei außerdem gar nicht bekannt gewesen, dass die Tatsache der Alleinerziehung zu einer zusätzlichen steuerlichen Entlastung führen würde.
Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. September 2009 ab.
Nach erfolglosem Vorverfahren hat der Kläger hiergegen Klage erhoben.
Er ist der Auffassung, eine Berücksichtigung der Tatsache, dass er im Streitjahr alleinerziehend gewesen sei, müsse nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfolgen. Ein dies ausschließendes grobes Verschulden liege nicht vor, da er sich der steuererheblichen Wirkung dieser Tatsache nicht bewusst gewesen sei und sich auch in der von seinem steuerlichen Berater zur Unterschrift und Weiterleitung überlassenen komprimierten Steuererklärung hierzu keinerlei Angaben gefunden hätten.
Der Kläger beantragt,
unter Änderung des Bescheides vom 9. März 2009 die Einkommensteuer für das Jahr 2007 unter Berücksichtigung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende herabzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Änderung der Steuerfestsetzung stehe ein grobes Verschulden des Klägers bzw. das ihm zuzurechnende grobe Verschulden seines steuerlichen Beraters entgegen. Der Kläger habe es offenbar versäumt, seinen steuerlichen Berater über die Änderung seiner familiären Verhältnisse in Kenntnis zu setzen. Dieser wiederum habe beim Ausfüllen nicht ohne weiteres auf die Daten des Vorjahres zurückgreifen dürfen, denn ein Steuerberater habe seinen Mandanten umfassend zu beraten.
Die Beteiligten haben einvernehmlich einer Entscheidung durch den Berichterstatter (§ 79 Abs. 3 und 4 der Finanzgerichtsordnung) zugestimmt und auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Gründe
I. Die zulässige Klage ist begründet.
1. Der Bescheid über Einkommensteuer für das Streitjahr kann nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden.
Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
2. Die (räumliche) Trennung des Klägers von der Mutter seiner Tochter stellt eine Tatsache dar, die nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO berücksichtigt werden kann, da sie zu einer niedrigeren Steuer führt, nachträglich bekannt geworden ist und den Kläger kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsachen trifft.
a. Die räumliche Trennung der Kindeseltern ist eine Tatsache, die zu einer niedrigeren Steuer führt, da der Kläger in der Folge allein erziehend ist und deshalb nach § 24b des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) einen Anspruch auf die Gewährung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende hat.
Nach § 24b Abs. 1 Satz 1 EStG können allein stehende Steuerpflichtige einen Entlastungsbetrag in Höhe von 1.308 € im Kalenderjahr von der Summe der Einkünfte abziehen, wenn zu ihrem Haushalt mindestens ein Kind gehört, für das ihnen ein Kinderfreibetrag oder Kindergeld zusteht. Allein stehend in diesem Sinne sind nach § 24b Abs. 2 Satz 1 EStG insbesondere Steuerpflichtige, die nicht die Voraussetzungen für die Anwendung des Splitting-Verfahrens (§ 26 Abs. 1 EStG) erfüllten und keine Haushaltsgemeinschaft mit einer anderen volljährigen Person bilden, es sei denn, es handelt sich um ein Kind des Steuerpflichtigen.
Der Kläger hat in der komprimierten Steuererklärung für das Jahr 2007 - wie auch noch in der Steuererklärung für das Jahr 2008 - als „letztbekannte Adresse” der Kindesmutter die „J.straße 6” in Friedland angegeben und damit die gleichen Adresse unter der auch der Kläger und seine Tochter wohnhaft sind. Nach seinem Vorbringen ist es jedoch bereits im Dezember 2006 zu einer - auch räumlichen - Trennung von der Kindesmutter gekommen, die auch zu deren Auszug aus der gemeinsamen Wohnung führte. Es besteht für das Gericht kein Grund an der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln. Da der Kläger somit keine Haushaltsgemeinschaft mit einer anderen volljährigen Person bildete, erfüllt er die Voraussetzungen des § 24b EStG, was eine niedrigere Steuer zur Folge hätte.
b. Die Trennung der Kindeseltern und die daraus resultierende Stellung des Klägers als Alleinerziehender sind nachträglich bekannt geworden. Dabei kommt es auf die Kenntnis des zuständigen Bediensteten des Finanzamtes beim Abschluss der Willensbildung in Bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid an (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11. Dezember 1997 - V R 56/94, BFHE 185, 98, BStBl. II 1998, 367). Die Freigabe des streitgegenständlichen Steuerbescheides durch den Beklagten erfolgte im Februar 2009, die Tatsache der Trennung wurde ihm erst im Laufe des Monats August 2009 mitgeteilt und ist ihm somit nachträglich bekannt geworden.
b. Den Kläger trifft – nach den in der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben – kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden, so dass eine Änderung des streitgegenständlichen Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht ausgeschlossen ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteile vom 29. Juni 1984 – VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693, vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441, vom 19. Dezember 2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866, Beschluss vom 10. Dezember 2009 – X B 199/09, BFH/NV 2010, 598) handelt ein Steuerpflichtiger regelmäßig grob fahrlässig i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich festgestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO müssen die Angaben in den Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen gemacht werden. Um eine Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muss ein Steuerpflichtiger das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Auch ein steuerrechtlich nicht ausgebildeter Laie handelt daher grob fahrlässig, wenn er eine im Erklärungsformular ausdrücklich gestellte und auch verstandene Frage nur deshalb nicht oder nur unvollständig beantwortet, weil er infolge eines Rechtsirrtums der Ansicht ist, die unterlassenen Angaben hätten in seinem Einzelfall keine Auswirkung (BFH-Urteile vom 9. August 1991 – III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl. II 1992, 65, vom 19. Dezember 2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866). Der Kläger war daher gehalten, die von seinem Steuerberater vorbereitete Steuererklärung daraufhin zu überprüfen, ob die in dem Steuerformular gestellten und sie betreffenden Fragen vollständig beantwortet waren (BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 - I R 62/95, BFHE 181, 252, BStBl II 1997, 115). Schließlich hat der Steuerpflichtige nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs aber auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten. Der Verantwortung für die Richtigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung kann der Steuerpflichtige sich nicht dadurch entziehen, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt (BFH-Urteil vom 3. Dezember 2009 - VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl. II 2010, 531).
Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger im Streitfall weder ein eigenes grobes Verschulden vorzuwerfen, noch ist ihm ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters als eigenes zuzurechnen.
Die Angaben zu dem Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, die auf der Seite 2 der regulären „Anlage Kind” in den Zeilen 35 ff. enthalten sind, waren in der komprimierten Steuererklärung nicht enthalten, die dem Kläger von seinem steuerlichen Berater vorbereitet und zur Prüfung, Unterzeichnung und Weiterleitung überlassen wurden. Die komprimierte Steuererklärung enthielt nur die von dem Steuerberater ausgefüllten Felder, die sich auf das Kindergeld bezogen. Da in den Zeilen 35 ff. des „Elster”-Formulars keine Angaben gemacht wurden, waren sie auch nicht auf dem Ausdruck der komprimierten Steuererklärung aufgeführt. Es war dem Kläger damit nicht möglich, insoweit auf ausdrücklich gestellte Fragen zu antworten oder insoweit vorbereitete Angaben zu überprüfen.
Auf Seite 3 im Bereich „Anlage Kind” der komprimierten Steuererklärung wurde jedoch ausdrücklich nach der „letztbekannte[n] Anschrift” der Person gefragt, mit der ein Kindschaftsverhältnis bestand. Hier war für die Kindesmutter die (alte) Adresse angegeben, unter der auch der Kläger im Streitjahr mit seiner Tochter wohnte. Es wird von dem Kläger nicht vorgebracht, dass ihm die tatsächliche Adresse der Kindesmutter nicht bekannt war, so dass die gemeinsame Anschrift tatsächlich die ihm „letztbekannte Anschrift” der Kindesmutter ist. Allerdings darf die Einschränkung auf die „letztbekannte” Anschrift dahingehend verstanden werden, dass eine weitergehende Recherche nach der aktuellen Adresse nicht notwendig erforderlich ist, wenn sie bei der Erstellung der Steuererklärung nicht ohne weiteres ermittelt werden kann. Die Angabe dient der Feststellung, in welchem Umfang dem Steuerpflichtigen nach § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG ein Kinderfreibetrag oder Kindergeld zusteht, jedoch - wenn überhaupt - nur mittelbar der Überprüfung des Anspruchs auf Gewährung des Ermäßigungsbetrages für Alleinerziehende.
Die ausdrücklich für diesen Ermäßigungsbetrag in den Zeilen 37 und 38 der „Anlage Kind” verlangten weitergehenden Angaben, ob „in den gemeinsamen Wohnung, eine/mehrere volljährige Person(en) gemeldet [waren], für die keine Anlage(n) Kind beigefügt ist/sind” und ob „eine Haushaltsgemeinschaft mit mindestens einer weiteren volljährigen Person, für die keine Anlage(n) Kind beigefügt ist/sind”, bestand, befanden sich dagegen nicht auf dem komprimierten Steuererklärungsformular des Klägers. Ein Anlass für den Kläger, auf die steuerliche Bedeutsamkeit dieser Fragestellung aufmerksam zu werden, lag deshalb nicht vor.
Mangels dieser Angaben konnten weder der steuerliche Berater noch der Beklagte davon ausgehen, dass der Kläger im Streitjahr allein erziehend gewesen ist. Dem Kläger kann aber nicht vorgeworfen werden, dass er diese Information nicht von sich aus seinem steuerlichen Berater mitgeteilt hat, da hierzu - mangels entsprechender Fragestellung - für einen steuerlichen Laien kein Anlass bestand. Der Steuerberater musste andererseits nicht „ins Blaue” nach einer Änderung der Familienverhältnisse fragen, da - wegen der fehlenden Beanstandung der aus dem Vorjahr übernommenen Eintragung der „letztbekannte[n] Anschrift” in das Steuererklärungsformular hierzu keinerlei Anlass bestand. Anders als in dem der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 3. Dezember 2009 (VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl. II 2010, 531) zugrundeliegenden Sachverhalt, in dem es um das nachträgliche Bekanntwerden von als außergewöhnliche Belastungen zu qualifizierenden Krankheitskosten ging, besteht nach Auffassung des entscheidenden Gerichts auch keine Verpflichtung des Steuerberaters sich jährlich nach dem Stand der ehelichen oder nichtehelichen Beziehung des Mandanten zu erkundigen, wenn insoweit keine Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung vorliegen. Dem Kläger kann somit auch nicht ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters zugerechnet werden.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.