· Fachbeitrag · Heilmittelverordnung
WIdO-Bericht 2021/2022: mehr Geld für weniger Behandlungen
| Welchen Effekt hatten die Erhöhungen der Heilmittelpreise im Zuge des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG; PP 05/2019, Seite 2 ) auf den Umsatz der deutschen Heilmittelpraxen? Und wie wirkte sich die Coronapandemie auf die Inanspruchnahme von Heilmitteln aus? Von 2018 bis 2020 ist der Umsatz der Heilmittelerbringer ‒ auch der Physiotherapeuten ‒ aus der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stetig gestiegen. Das geht aus dem Heilmittelbericht 2021/2022 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor (siehe weiterführenden Hinweis). Verblüffend: Auch die Pandemie änderte an dieser Entwicklung nichts. |
Heilmittel: Verordnungen und GKV-Ausgaben im Jahr 2020
Im Jahr 2020 wurden über die GKV 37,5 Mio. Heilmittelverordnungen ausgestellt. Diese enthielten 43,9 Mio. Leistungen (AOK: 14,9 Mio.) und 302 Mio. Behandlungssitzungen (AOK: 103 Mio.). 1.000 gesetzlich Versicherte erhielten 596 Leistungen (AOK: 545 Leistungen). Im Vergleich zum Vorjahr ging die Zahl der Leistungen um 5,2 Prozent zurück (AOK: - 6,6 Prozent). Der Löwenanteil der Heilmittel entfällt auf die Physiotherapie: 71,3 Prozent des Umsatzes und 83,4 Prozent der Behandlungen. Im Jahr 2020 wurden über die GKV 36,5 Mio. Leistungen (AOK: 12,15 Mio.) in 252 Mio. Sitzungen (AOK 83,8 Mio.) verordnet. Das bedeutet einen Rückgang von 5,2 Prozent (AOK: - 6,2 Prozent).
Die GKV-Ausgaben für Heilmittel beliefen sich auf 8,9 Mrd. Euro. Das sind 3,57 Prozent der GKV-Gesamtausgaben für Gesundheitsleistungen. Zusammen mit den gesetzlichen Zuzahlungen erzielten Heilmittelpraxen einen GKV-Umsatz von 9,3 Mrd. Euro (AOK: 3,27 Mrd. Euro). Gegenüber 2019 bedeutet dies einen Umsatzanstieg von 5,7 Prozent. Physiotherapeuten erzielten über die GKV einen Umsatz von 6,6 Mrd. Euro (AOK: 2,24 Mrd. Euro). Das bedeutet einen Anstieg von 4,6 Prozent (AOK: + 3,6 Prozent).
Inanspruchnahme: Einbruch im 2. Quartal 2020
Grundsätzlich vergehen zwischen der Verordnung einer Leistung und ihrer Abrechnung mehrere Wochen bzw. mehrere Monate. Einige der im Jahr 2020 erbrachten Leistungen wurden somit erst im Jahr 2021 abgerechnet, sodass die Abrechnungsdaten für den WIdO-Bericht 2021/2022 nicht verfügbar waren. Daher ziehen die Autoren des Berichts bei der Inanspruchnahme hilfsweise die Zahlen aus 2018 und 2019 zum Vergleich heran.
Grundsätzlich ist die Auslastung von Heilmittelpraxen über das Jahr unterschiedlich hoch. So werden regelmäßig im zweiten Quartal eines Jahres weniger Behandlungen abgerechnet als im ersten. Im zweiten Quartal 2020 brach allerdings die Zahl der Heilmittelbehandlungen insgesamt regelrecht ein: Es wurden 23,2 Prozent weniger Behandlungen in Anspruch genommen als im Vorquartal (II/2019: -5,3 Prozent; II/2018: - 4,5 Prozent). Zum Jahresende 2020 lässt sich dann wieder eine „Normalisierung“ feststellen. Bezogen auf die Physiotherapie ergibt sich für das 2. Quartal 2020 ein vergleichbares Bild.
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1. Quartal | 2. Quartal | 3. Quartal | 4. Quartal | |
2018 | 899 | 855 | 843 | 744 |
2019 | 958 | 907 | 895 | 882 |
2020 | 940 | 731 | 863 | 902 |
Quellen: GKV-HIS, Berechnungen des WIdO
Insgesamt wurden im Jahr 2020 etwa 1,9 Prozent weniger physiotherapeutische Behandlungen erbracht als im Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2019.
MERKE | Der Behandlungsrückgang ist allerdings über die Altersgruppen hinweg ungleich verteilt: Vor allem Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre sowie hochbetagte Patienten waren besonders betroffen. Vermutet wird, dass vulnerable Patientengruppen wegen der Pandemie seltener eine Physiopraxis aufsuchten. |
Umsatz: Anstieg im Osten am stärksten
Mit dem TSVG und anderen Gesetzesänderungen war eine deutliche Erhöhung der Heilmittelpreise verbunden (PP 02/2022, Seite 10 f.). Dies führte seit 2019 zu einem deutlichen Anstieg der GKV-Umsätze für Heilmittelpraxen. Ziel des WIdO-Berichts war es, den alleinigen Effekt der Preiserhöhungen auf Umsatzentwicklung von 2018 bis 2020 abzubilden. Daher wurde der Vergleich wie folgt modelliert:
- Um die Coronapandemie „herauszurechnen“ wurden durchweg die Versichertenzahlen und die Inanspruchnahmen des Jahres 2020 verwendet.
- Nach dem 01.07.2019 ausgehandelte Preiserhöhungen bleiben unberücksichtigt.
- Zahlungen des sog. Corona-Rettungsschirms (PP 06/2020) bleiben unberücksichtigt.
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Heilmittel | 2018 | 2019 | 2020 | Anstieg* | |||
in Tsd. Euro | je 1.000 Versicherte | in Tsd. Euro | je 1.000 Versicherte | in Tsd. Euro | je 1.000 Versicherte | ||
Ergotherapie | 1.063.981 | 14.615 | 1.311.522 | 17.964 | 1.412.461 | 19.254 | 31,7 % |
Sprachtherapie | 754.514 | 10.364 | 914.865 | 12.531 | 983.645 | 13.408 | 29,4 % |
Physiotherapie | 5.220.808 | 71.712 | 6.340.428 | 86.844 | 6.634.777 | 90.441 | 26,1 % |
Podologie | 205.080 | 2.817 | 242.406 | 3.320 | 277.583 | 3.784 | 34,3 % |
Gesamt | 7.247.233 | 99.547 | 8.812.250 | 120.700 | 9.311.385 | 126.927 | 27,5 % |
* Je 1.000 Versicherte, von 2018 bis 2020; Quellen: GKV-HIS, Berechnungen des WIdO
Im Vergleich zu anderen Heilmittelbereichen ist der Umsatzanstieg pro 1.000 Versicherte in der Physiotherapie am geringsten. Am stärksten profitieren die neuen Bundesländer von den höheren Heilmittelpreisen. Dort wiederum ist in Sachsen-Anhalt der Umsatz am stärksten gestiegen (+35,8 Prozent), gefolgt von Brandenburg (+ 29,6 Prozent) und Thüringen (+ 28,3 Prozent). Am geringsten fällt das Umsatzplus in Bayern (+ 19,3 Prozent), Nordrhein (+ 19,4 Prozent) und Hamburg (+ 20,0 Prozent) aus.
MERKE | Anders als der BARMER Heilmittelreport 2021, setzt der WIdO-Bericht die Umsatzerhöhung nicht in Relation mit dem Gehaltszuwachs für angestellte Therapeuten und wertet die Entwicklung nicht. Die Ausführungen des BARMER Heilmittelreports hatten insbesondere beim Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten IFK e. V. für Irritation gesorgt (PP 02/2022, Seite 10 ff.) |
Weitere Ergebnisse des WIdO-Berichts 2021/2022
Neben den Schwerpunkten Umsatz und Inanspruchnahme liefert der Bericht weitere Ergebnisse. Viele davon bestätigen die WIdO-Berichte der vergangenen Jahre (vgl. PP 03/2021, Seite 3 f.):
- Die regionale Verteilung von Heilmittelbehandlungen ist sehr unterschiedlich: Im Bundesdurchschnitt erhalten 1.000 Versicherte 4.117 Behandlungen. In Sachsen-Anhalt dagegen sind es 6.359 Behandlungen pro 1.000 Versicherte und in Sachsen 6.212. In Westfalen-Lippe dagegen werden nur 3.131 Heilmittelbehandlungen pro 1.000 Versicherte erbracht, in Hessen nur 3.062.
- Die meisten physiotherapeutischen Verordnungen werden von Allgemeinmedizinern und praktischen Ärzten ausgestellt (41,2 Prozent). Es folgen die Orthopäden und Chirurgen (35,9 Prozent), die Internisten (13,1 Prozent) sowie andere Facharztgruppen (9,9 Prozent).
- Die Diagnose ICD-M54 (unspezifische Rückenschmerzen) nimmt weiter den Spitzenplatz ein (28,1 Prozent der Physiotherapie-Patienten).
- Das häufigste Heilmittel bleibt die Krankengymnastik, normal (51,0 Prozent der Leistungen), gefolgt von manueller Therapie (14,8 Prozent) und manueller Lymphdrainage (11,3 Prozent).
- Fast zwei Drittel (62 Prozent) aller physiotherapeutisch behandelten Patienten sind Frauen.
- Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der physiotherapeutischen Behandlungen. In der Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen ist die Patientenrate am höchsten (286 Patienten je 1.000 Versicherte).
Weiterführender Hinweis
- WIdO (Hg.): Heilmittelbericht 2021/2022. Ergotherapie, Sprachtherapie, Physiotherapie, Podologie. Berlin, im Januar 2022. iww.de/s6020