06.11.2024 · IWW-Abrufnummer 244610
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 26.09.2024 – L 21 U 40/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.09.2024, Az. L 21 U 40/21
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die 1960 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung eines Unfalls vom 8. Juli 2020 als Arbeitsunfall. Sie arbeitete als Näherin bei der O ST GbR in O. Nach dem Durchgangsarztbericht von Dr. med. J. J vom 9. Juli 2020 war die Klägerin am 8. Juli 2020 um 9:30 Uhr auf dem Weg vom Parkplatz zur Betriebsstätte gestolpert und auf die rechte Hand gestürzt. Die Röntgen- und CT-Untersuchung ergab eine distale Radiusfraktur des rechten Arms. In dem D-Arztbericht ist die Arbeitszeit der Klägerin von 9:30 Uhr bis 14:30 Uhr angegeben.
2
Auf dem von der Beklagten übermittelten Fragebogen gab die Klägerin an, dass der Unfall auf dem "Weg zur Arbeit vom Parken des Autos auf öffentlichem Parkplatz" geschehen sei. Als Grund für den Weg gab sie "Tabletten vergessen" an. Sie sei auf dem Fußweg gestolpert und habe sich mit der rechten Hand auf den Steinen abgestützt. Ihre Arbeitszeit an dem Unfalltag habe von 5:41 bis 11:00 Uhr gedauert, der Unfall habe sich um 9:30 Uhr ereignet.
3
Mit Bescheid vom 10. August 2020 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Die Klägerin habe angegeben, auf dem Weg zur Arbeit vom Parkplatz gestürzt zu sein, da sie ihre Tabletten im Auto vergessen habe. Es handele sich hierbei um ausschließlich private Belange, die in keinem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stünden. Die Klägerin habe sich die Verletzung bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit zugezogen, die nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe.
4
Mit Schreiben vom 17. August 2020 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. August 2020. Ihr Prozessbevollmächtigter begründete den Widerspruch später mit E-Mail vom 28. August 2020. Der Unfall habe auf dem Weg zur Arbeit stattgefunden. Die Klägerin habe sich auf dem Weg vom Auto zum Geschäft befunden. Dies unterbreche den Zusammenhang nicht, auch wenn der Weg vom Geschäft zum Auto anders betrachtet werde.
5
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin habe während ihrer Arbeitszeit den Arbeitsplatz und die Betriebsräume verlassen, um aus ihrem auf dem öffentlichen Parkplatz stehenden PKW die von ihr vergessenen Tabletten zum persönlichen Gebrauch zu holen. Sie habe sich somit nicht auf einem Weg befunden, der der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Das Zurücklegen des Weges zum und vom privaten PKW während der Arbeitszeit habe ausschließlich dem eigenwirtschaftlichen und persönlichen Motiv, vergessene Tabletten aus ihrem privaten PKW zu holen, gedient. Solche eigenwirtschaftlichen und persönlichen Handlungstendenzen stünden in keinem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit und könnten nicht dem Unternehmen angelastet werden. Allein die Tatsache, dass die Klägerin sich zum Unfallzeitpunkt wieder auf dem Rückweg von eigenwirtschaftlichen Handlungen zu ihrem Arbeitsplatz befunden habe, stelle noch keinen Versicherungsschutz her. Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts habe klargestellt, dass der Unfallversicherungsschutz des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auf Tätigkeiten begrenzt sei, die wesentlich der Zurücklegung des versicherten Weges oder einem sonstigen betrieblichen Zweck dienten. Sobald eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt würden, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereinstimmten, werde der Versicherungsschutz unterbrochen. Somit sei die so genannte Handlungstendenz für das Vorliegen oder eben das Nichtvorliegen eines Arbeitsunfalles maßgebend, d. h. welchem Zweck die vorgenommene Handlung zum Unfallzeitpunkt diente. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts diene eine Handlung dann nicht mehr der versicherten Tätigkeit, wenn eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit wie Einkaufen oder Tanken vorgenommen werde und sich der Unfall in Zusammenhang mit dieser Tätigkeit ereigne.
6
Hiergegen hat die Klägerin am 19. November 2020 vor dem Sozialgericht Neuruppin Klage erhoben. Sie habe sich auf dem Weg von ihrem Auto zu ihrer Arbeitsstelle befunden. Es habe keine Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit vorgelegen.
7
Die Klägerin hat (erstinstanzlich) beantragt,
8
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. August 2020 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2020 zu verurteilen, ihren Unfall vom 8. Juli 2020 als Arbeits-/Wegeunfall anzuerkennen.
9
Die Beklagte hat (erstinstanzlich) beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Die Beklagte hat auf die Begründung ihrer Bescheide verwiesen. Dass sie inzwischen auf dem Rückweg zum Arbeitsplatz gewesen sei, ändere nichts an der rechtlichen Beurteilung. Intention für das Zurücklegen dieses Weges sei allein der Gedanke gewesen, dass sie ihr Medikament holen musste.
12
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 18. März 2021 die Klage abgewiesen. Die Klage sei als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Anerkennung eines Arbeits- bzw. Wegeunfalls. Arbeitsunfälle seien nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit. Die von einer Versicherten im Zeitpunkt der Unfallereignisses ausgeübte Verrichtung müsse in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden haben. Dieser sei wertend zu ermitteln, indem untersucht werde, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liege, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reiche. Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sei auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit versichert. Dies sei nicht der Fall, da die Klägerin zum Unfallzeitpunkt um 9:30 Uhr ihren Weg zur Arbeit bereits beendet habe.
13
Der unfallbringende Weg sei auch allein von privaten (Gesundheits-)Interessen geprägt gewesen. Die von der Klägerin im Zeitpunkt des Unfallereignisses ausgeübte Tätigkeit habe in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Die subjektive Handlungstendenz der Klägerin sei (während der unterbrochenen Beschäftigung) allein auf die private Verrichtung des Tablettenholens gerichtet gewesen. Mit dem Tablettenholen habe die Klägerin weder eine sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Hauptpflicht noch eine arbeitsrechtliche Nebenpflicht erfüllt. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Klägerin vortrage, sich bereits auf dem Rückweg zur Arbeit befunden zu haben. Denn eine arbeitsrechtliche Verpflichtung zu gesundheitsfördernden, der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dienenden Handlungen bestehe grundsätzlich nicht. Maßnahmen der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit seien wie zahlreiche sonstige Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den eigenwirtschaftlichen Interessen der Versicherten als auch den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers dienen könnten, seien grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich der Versicherten und nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen und stünden daher, solange dies das Gesetz nicht wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich anordne, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
14
Der Versicherungsschutz der Wegeunfallversicherung gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII bestehe auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Weges von einem "dritten Ort". Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei hierfür ein vorheriger Aufenthalt von wenigstens zwei Stunden erforderlich. Die Klägerin habe sich nur wenige Minuten auf dem Parkplatz aufgehalten.
15
Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigen am 22. März 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 25. März 2021 Berufung erhoben. Das Sozialgericht verkenne, dass der Unfall genau auf dem Weg zur Arbeit hin passiert sei. Eine Unterbrechung könne es nur geben, wenn sich von der Arbeit weg und nicht direkt nach Hause begeben werde. Der Weg zur Arbeit - auch nach einer Arbeitsunterbrechung - sei jedoch geschützt. Die Klägerin habe sich subjektiv direkt zur Arbeit begeben wollen. Das Holen der Tabletten sei mit einer Unterbrechung auf dem Weg zur Arbeit, etwa zum Einkaufen, vergleichbar, welche mit der Beendigung des Einkaufens und dem Fortsetzen des Weges zur Arbeit beendet sei. Die Klägerin werde wegen Epilepsie behandelt, sie nehme außerdem Blutdrucksenker und Blutverdünner.
16
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ferner vorgetragen, dass sie mit ihrer Vorgesetzten gesprochen habe, bevor sie die Tabletten holte. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
17
Die Klägerin beantragt,
18
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. März 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 10. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Unfall der Klägerin am 8. Juli 2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
19
Die Beklagte beantragt,
20
die Berufung zurückzuweisen.
21
Auch nach der Auskunft von Prof. Dr. med. S sei bei einer verspäteten Einnahme nach Schichtende nicht noch während der Arbeitsschicht oder in allernächster Zukunft ein epileptischer Anfall mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen.
22
Das Landessozialgericht hat den die Klägerin behandelnden Arzt Prof. Dr. med. H.-B. S um Auskunft ersucht, welche Auswirkungen die verspätete Einnahme erst nach Arbeitsschluss um 14:30 Uhr gehabt hätte. Mit Schreiben vom 21. Juni 2022 teilte Prof. Dr. med. H.-B. S mit, dass eine vergessene Einzeldosis (der Medikamente) mit einem erkennbar erhöhten Rezidivrisiko verbunden sei. Es sei daher zentraler Bestandteil der Aufklärung über eine medikamentöse Epilepsiebehandlung, dass die regelmäßige Einnahme der Antikonvulsiva Grundvoraussetzung für einen zuverlässigen Anfallsschutz sei. Im Falle des Vergessens würden alle Patienten angehalten, möglichst unmittelbar die Einnahme nachzuholen, um das erhöhte Risiko zu minimieren. Gleichwohl müsse von einem erhöhten Risiko gesprochen werden, welches sich durch eine noch spätere Einnahme etwa nach Arbeitsschluss um 14:30 Uhr noch weiter erhöht hätte. Es sei allerdings auch klar, dass ein Anfall nicht zwangsweise erfolgt wäre, wenn sich die Einnahme weiter verzögert hätte. Es sei bei einer verspäteten Einnahme jedoch von einem vermeidbaren zusätzlichen Risiko auszugehen, welches es aus ärztlicher Sicht definitiv zu vermeiden gelte. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2022 teilte Prof. Dr. med. S mit, dass 2020 bei der Klägerin keine komplette Anfallsfreiheit vorgelegen habe. Auch unter lückenlos fortgesetzter antiepileptischer Medikation sei es immer wieder zu Anfällen gekommen. Daraus folge indirekt, dass beim Wegfall oder der sehr verspäteten Einnahme einer Tagesdosis ein hohes Risiko für einen erneuten Anfall bestanden habe. Ein gleichmäßiger Wirkspiegel des schützenden Medikaments sei nur durch regelmäßige Einnahme gewährleistet. Ein niedrigerer Spiegel bedeute signifikant niedrigeren Schutz und ein signifikant erhöhtes Anfallsrisiko. Aus medizinischer Sicht gehe es um die Befolgung evidenter und ärztlich vorgegebener, notwendiger Verhaltensregeln, um größtmöglichen Erfolg in der Behandlung sicherzustellen. Die Befolgung dieser Regeln könne aus ärztlicher Sicht nicht durch die Betrachtung der Risikohöhe relativiert werden. Dies könne von der Patientin nicht eingeschätzt werden, daher sei ihr ärztlicherseits unbedingt eine regelmäßige Einnahme vorgeschrieben.
23
Der Verwaltungsvorgang der Beklagten hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen. Auf diesen sowie die zwischen den Beteiligten gewechselten Schreiben wird ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe
24
Die von der Klägerin erhobene Berufung ist zulässig, insbesondere i. S. v. § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht erhoben, sie hat aber in der Sache keinen Erfolg. Der klageabweisende Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass die von der Klägerin erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig ist. Begehrt eine Versicherte die Anerkennung eines Versicherungsfalles, ist gleichermaßen die Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG auf Feststellung durch die Beklagte wie die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig, insoweit besteht ein Wahlrecht (vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Juni 2023 - B 2 U 11/20 R, juris Rn. 10).
25
Die Klägerin hat aber keinen Anspruch gegen die Beklagte, dass diese das Ereignis vom 8. Juli 2020 als Arbeits- bzw. Wegeunfall gemäß § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB VII anerkennt. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. statt vieler: Urteil vom 26. November 2019 - B 2 U 8/18 R, Rn. 12 f. m. w. N.).
26
Dass die Klägerin einen Gesundheitsschaden bei dem Sturz erlitt und dieser während und nicht vor ihrer Arbeitszeit erfolgte, steht außer Frage. Zwar gaben der D-Arztbericht und die Unfallanzeige den Beginn der Arbeitszeit jeweils mit 9:30 Uhr an. Die Klägerin selbst hat jedoch die Arbeitszeit an dem Tag auf dem ihr übersendeten Fragebogen mit von 5:41 Uhr bis 11:00 Uhr angegeben und dies auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Streitig ist daher allein, ob sich der Unfall während ihrer versicherten Tätigkeit als Beschäftigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (unten Nr. 1) bzw. während des Zurücklegens des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit i. S. v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII (unten Nr. 2) erfolgte.
27
1. Die Klägerin befand sich beim Rückweg von ihrem Auto nicht auf einem sogenannten Betriebsweg i. S. v. § 8 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Betriebswege sind Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen. Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit i. S. d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen. Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen (vgl. zum Vorstehenden nur Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Januar 2020 - B 2 U 19/18 R, juris Rn. 15 m. w. N.). Nach den objektiven Gegebenheiten und der subjektiven Zielsetzung war der Weg, während dessen es zum Unfall kam, fraglos auf das Holen der Medikamente gerichtet, welche die Klägerin in ihrem außerhalb des Betriebsgeländes gerichteten Auto vergessen hatte. Der Weg zu ihrem Auto (und zurück) wurde ausschließlich zu diesem Zwecke unternommen. Irgendein anderes Bedürfnis, welches unmittelbar aus den arbeitsvertraglichen Pflichten der Klägerin als angestellte Näherin resultierte, ist nicht ersichtlich. Das Einnehmen von Medikamenten gehörte jedoch nicht zu den von der Klägerin arbeitsvertraglich geschuldeten Hauptpflichten, sie hat damit auch keine Nebenpflicht erfüllt. Eine arbeitsvertraglich geschuldete Verpflichtung zu gesundheitsfördernden, der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dienenden Verhalten besteht grundsätzlich nicht (Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 18 f.).
28
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 7. September 2004 (B 2 U 35/03 R, juris Rn. 18) ferner festgestellt: "Das Besorgen von Medikamenten zählt zu den Maßnahmen der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 16 mwN). Diese sind wie zahlreiche sonstige Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den eigenwirtschaftlichen Interessen des Versicherten als auch den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers dienen können (Beispiele aus der Rechtsprechung: Nahrungsaufnahme; Nahrungsbeschaffung; Ankleiden; Grippeschutzimpfung; Ummelden, Betanken oder Reparatur des für den Arbeitsweg benutzten Kraftfahrzeugs; Schneeräumen in der Garagenausfahrt; vgl die Nachweise in BSG SozR 32200 § 550 Nr 16 sowie Senatsurteil vom 28. April 2004 - B 2 U 26/03 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten und nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen und stehen daher - solange dies das Gesetz nicht wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich anordnet - nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 16 mwN), auch wenn sie mittelbar der Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis dienen. Das gilt sowohl für den Unfallversicherungsschutz auf Betriebswegen als auch auf Wegen nach oder von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII). Dass die Vorbereitungshandlung in den räumlichen und zeitlichen Bereich der versicherten Tätigkeit verlegt wird, ändert nichts an ihrer Zuordnung zum persönlichen Lebensbereich und kann daher grundsätzlich nicht zur Einbeziehung in den Unfallversicherungsschutz führen."
29
Im vorliegenden Fall musste die Klägerin auch nicht etwa aufgrund besonderer Anforderungen bei der Arbeit die Medikamente einnehmen (vgl. zur Abgrenzung, unter welchen Voraussetzungen Handlungen zur Erholung und Entspannung ausnahmsweise unmittelbar betriebsdienlich sind: Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Juni 2001 - B 2 U 30/00 R, juris Rn. 17 ff.). Inwieweit der Sachverhalt anders zu beurteilen wäre, wenn bereits die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, kann ebenso dahinstehen wie die rechtliche Beurteilung für den Fall, dass die Versicherte irrig annimmt, zu entsprechendem Verhalten verpflichtet zu sein (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 18 ff.). Denn weder für die bereits eingetretene Arbeitsunfähigkeit noch für die irrige Annahme der Klägerin, dass sie eine arbeitsvertragliche Pflicht erfülle, gibt es im vorliegenden Sachverhalt irgendwelche Hinweise.
30
Es bestand auch nicht die konkrete Gefahr, dass die Arbeitsfähigkeit der Klägerin bei der Nichteinnahme der Medikamente bis zum Schichtende gefährdet war. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den beiden Stellungnahmen des die Klägerin behandelnden Arzt Prof. Dr. med. H.-B. S vom 21. Juni und vom 7. Dezember 2022. In der ersten Stellungnahme hat er dargelegt, dass bei nicht vorschriftsgemäßer Einnahme der Medikamente ein erhöhtes Risiko für einen Anfall aufgrund der Epilepsie bestehe. Im gleichen Schreiben hat er aber auch klargestellt, dass ein Anfall bei verspäteter Einnahme nach Schichtende um 14:30 Uhr nicht zwangsläufig eingetreten wäre. Zwar ist es auch im Interesse des Arbeitgebers, dass eine Arbeitnehmerin das Risiko, einen epileptischen Anfall zu erleiden, gering hält bzw. nicht weiter erhöht. Jedenfalls bei einem nur abstrakten Risiko des Eintritts eines Anfalls während der jeweiligen Arbeitsschicht ist jedoch das betriebliche Interesse nach der Auffassung des Senats geringer einzuschätzen als das (allgemeine) persönliche Interesse der Klägerin an ihrer Gesunderhaltung bzw. der Vermeidung von Anfällen aufgrund ihrer Epilepsie. Die herausragende Bedeutung der regelmäßigen Einnahme der Medikamente für die Klägerin hat Prof. Dr. med. S insbesondere in seinem zweiten Schreiben hervorgehoben. Der Senat sieht diese dringende Notwendigkeit, gleichwohl ändert dies nichts daran, dass die regelmäßige Einnahme der Medikamente vorrangig im privaten Interesse der Klägerin, d. h. der allgemeinen Prophylaxe gegen ihr Anfallsleiden, erforderlich war.
31
Das Holen vergessener Medikamente ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 35/03 R, juris Rn. 21 ff.) auch anders zu beurteilen als das Holen vergessener Gegenstände, welche wie einen Schlüssel für einen Spind (Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Januar 1959 - 2 RU 198/56, juris Rn. 19 ff.) oder eine Brille (Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Januar 1977 - 2 RU 99/75, juris Rn. 17 ff.), die zwingend für die Erledigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit benötigt werden.
32
Auch der Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - dessen Wahrheit zu ihren Gunsten unterstellt -, dass sie vor dem Holen der Tabletten mit ihrer Vorgesetzten gesprochen und deren Erlaubnis eingeholt habe, ändert an der Privatnützigkeit der Tätigkeit nichts. Entgegen der vom Prozessbevollmächtigen in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung lässt sich hieraus nicht schließen, dass die Vorgesetzte von ihrem aufgrund des Arbeitsverhältnisses zustehenden Weisungsrecht Gebrauch gemacht hat. Sehr viel näherliegend ist vielmehr, dass ihre Vorgesetzte ihr die Unterbrechung ihrer vertraglich geschuldeten Arbeit gestattete. Schließlich dürfte das Einnehmen und Holen der von der Klägerin wegen ihrer Erkrankung einzunehmenden Tabletten kaum vom Weisungsrecht des Arbeitgebers umfasst sein. Den Bekundungen der Klägerin ließ sich auch nicht entnehmen, dass sie insoweit davon ausging, eine arbeitsvertragliche (Neben-)Pflicht zu erfüllen.
33
Ebenso wenig zwingt die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass der Weg zum auswärtigen (Mittag-)Essen in einer Pause unter bestimmten Voraussetzungen überwiegend betrieblichen Zwecken dient und dann unter Versicherungsschutz steht (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 27. April 2010 - B 2 U 23/09 R, juris Rn. 12 ff.; umfassende Darstellung bei Keller in: Wolfgang Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, 6. Ergänzungslieferung 2024, § 8 SGB VII Rn. 91 ff.) zu der Annahme des Versicherungsschutzes im vorliegenden Fall. Zwar dient die Einnahme von Mahlzeiten ebenso wie die Einnahme von Medikamenten regelmäßig vorrangig privatwirtschaftlichen Zwecken, weshalb auch Einnahme des (Mittag-) Essens - anders als der Weg dorthin - nicht unter Versicherungsschutz steht. Beiden ist auch gemeinsam, dass sie gleichzeitig mehr oder weniger konkret der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit während der weiteren Arbeitsschicht dienen. Der Versicherungsschutz auf dem Weg zu Mahlzeiten ist aber nach der Rechtsprechung nur deshalb und nur dann gerechtfertigt, wenn die Notwendigkeit besteht, (vollschichtig) im Betrieb anwesend zu sein, und die beabsichtigte Nahrungsaufnahme der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dient (vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 29 ff.; Urteil vom 18. Juni 2013 - B 2 U 7/12 R, juris Rn. 21. ff.). Genau dieser Zusammenhang zwischen der andauernden Anwesenheitspflicht aufgrund des Arbeitsvertrages und der Notwendigkeit der zwischenzeitigen Nahrungsaufnahme bzw. deren Beschaffung besteht bei den Medikamenten nicht. Die Klägerin führt diese gewöhnlich - wenn sie diese nicht vergessen hat - mit sich und muss sie sich nicht erst aufgrund der Einbindung in ihren Betrieb anderswo besorgen.
34
Während des Weges zum Auto und zurück war die Klägerin daher nicht als Beschäftigte i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert.
35
2. Die Klägerin stand zum Zeitpunkt des Unfalls auch nicht nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Hiernach zählen zu den versicherten Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.
36
Das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid bereits zutreffend dargestellt, dass sich die Klägerin unstreitig nicht auf dem direkten Weg von ihrer Wohnung und auch nicht auf dem Weg von einem sogenannten "dritten Ort" zu der Arbeit befand. Vielmehr hatte sie bereits knapp vier Stunden vor dem Unfall die Arbeit angetreten und den Weg zur Arbeit beendet. Auf die dortigen Ausführungen wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG verwiesen. Ergänzend sei im Hinblick auf den Vortrag des Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren darauf verwiesen, dass nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ausschließlich die Wege zum Ort der Tätigkeit zu deren Aufnahme oder von diesem Ort weg nach deren Beendigung versichert sind (vgl. Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, 6. Ergänzungslieferung 2024, § 8 SGB VII Rn. 191 m. w. N.). Dies gilt jedoch nicht für den Rückweg von einer (kurzzeitigen) Unterbrechung der Tätigkeit zu privaten Zwecken.
37
Die Berufung war daher zurückweisen.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Tenor:
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die 1960 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung eines Unfalls vom 8. Juli 2020 als Arbeitsunfall. Sie arbeitete als Näherin bei der O ST GbR in O. Nach dem Durchgangsarztbericht von Dr. med. J. J vom 9. Juli 2020 war die Klägerin am 8. Juli 2020 um 9:30 Uhr auf dem Weg vom Parkplatz zur Betriebsstätte gestolpert und auf die rechte Hand gestürzt. Die Röntgen- und CT-Untersuchung ergab eine distale Radiusfraktur des rechten Arms. In dem D-Arztbericht ist die Arbeitszeit der Klägerin von 9:30 Uhr bis 14:30 Uhr angegeben.
2
Auf dem von der Beklagten übermittelten Fragebogen gab die Klägerin an, dass der Unfall auf dem "Weg zur Arbeit vom Parken des Autos auf öffentlichem Parkplatz" geschehen sei. Als Grund für den Weg gab sie "Tabletten vergessen" an. Sie sei auf dem Fußweg gestolpert und habe sich mit der rechten Hand auf den Steinen abgestützt. Ihre Arbeitszeit an dem Unfalltag habe von 5:41 bis 11:00 Uhr gedauert, der Unfall habe sich um 9:30 Uhr ereignet.
3
Mit Bescheid vom 10. August 2020 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Die Klägerin habe angegeben, auf dem Weg zur Arbeit vom Parkplatz gestürzt zu sein, da sie ihre Tabletten im Auto vergessen habe. Es handele sich hierbei um ausschließlich private Belange, die in keinem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stünden. Die Klägerin habe sich die Verletzung bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit zugezogen, die nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe.
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Mit Schreiben vom 17. August 2020 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. August 2020. Ihr Prozessbevollmächtigter begründete den Widerspruch später mit E-Mail vom 28. August 2020. Der Unfall habe auf dem Weg zur Arbeit stattgefunden. Die Klägerin habe sich auf dem Weg vom Auto zum Geschäft befunden. Dies unterbreche den Zusammenhang nicht, auch wenn der Weg vom Geschäft zum Auto anders betrachtet werde.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Klägerin habe während ihrer Arbeitszeit den Arbeitsplatz und die Betriebsräume verlassen, um aus ihrem auf dem öffentlichen Parkplatz stehenden PKW die von ihr vergessenen Tabletten zum persönlichen Gebrauch zu holen. Sie habe sich somit nicht auf einem Weg befunden, der der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Das Zurücklegen des Weges zum und vom privaten PKW während der Arbeitszeit habe ausschließlich dem eigenwirtschaftlichen und persönlichen Motiv, vergessene Tabletten aus ihrem privaten PKW zu holen, gedient. Solche eigenwirtschaftlichen und persönlichen Handlungstendenzen stünden in keinem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit und könnten nicht dem Unternehmen angelastet werden. Allein die Tatsache, dass die Klägerin sich zum Unfallzeitpunkt wieder auf dem Rückweg von eigenwirtschaftlichen Handlungen zu ihrem Arbeitsplatz befunden habe, stelle noch keinen Versicherungsschutz her. Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts habe klargestellt, dass der Unfallversicherungsschutz des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auf Tätigkeiten begrenzt sei, die wesentlich der Zurücklegung des versicherten Weges oder einem sonstigen betrieblichen Zweck dienten. Sobald eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt würden, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereinstimmten, werde der Versicherungsschutz unterbrochen. Somit sei die so genannte Handlungstendenz für das Vorliegen oder eben das Nichtvorliegen eines Arbeitsunfalles maßgebend, d. h. welchem Zweck die vorgenommene Handlung zum Unfallzeitpunkt diente. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts diene eine Handlung dann nicht mehr der versicherten Tätigkeit, wenn eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit wie Einkaufen oder Tanken vorgenommen werde und sich der Unfall in Zusammenhang mit dieser Tätigkeit ereigne.
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Hiergegen hat die Klägerin am 19. November 2020 vor dem Sozialgericht Neuruppin Klage erhoben. Sie habe sich auf dem Weg von ihrem Auto zu ihrer Arbeitsstelle befunden. Es habe keine Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit vorgelegen.
7
Die Klägerin hat (erstinstanzlich) beantragt,
8
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. August 2020 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2020 zu verurteilen, ihren Unfall vom 8. Juli 2020 als Arbeits-/Wegeunfall anzuerkennen.
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Die Beklagte hat (erstinstanzlich) beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Die Beklagte hat auf die Begründung ihrer Bescheide verwiesen. Dass sie inzwischen auf dem Rückweg zum Arbeitsplatz gewesen sei, ändere nichts an der rechtlichen Beurteilung. Intention für das Zurücklegen dieses Weges sei allein der Gedanke gewesen, dass sie ihr Medikament holen musste.
12
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 18. März 2021 die Klage abgewiesen. Die Klage sei als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Anerkennung eines Arbeits- bzw. Wegeunfalls. Arbeitsunfälle seien nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit. Die von einer Versicherten im Zeitpunkt der Unfallereignisses ausgeübte Verrichtung müsse in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden haben. Dieser sei wertend zu ermitteln, indem untersucht werde, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liege, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reiche. Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sei auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit versichert. Dies sei nicht der Fall, da die Klägerin zum Unfallzeitpunkt um 9:30 Uhr ihren Weg zur Arbeit bereits beendet habe.
13
Der unfallbringende Weg sei auch allein von privaten (Gesundheits-)Interessen geprägt gewesen. Die von der Klägerin im Zeitpunkt des Unfallereignisses ausgeübte Tätigkeit habe in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Die subjektive Handlungstendenz der Klägerin sei (während der unterbrochenen Beschäftigung) allein auf die private Verrichtung des Tablettenholens gerichtet gewesen. Mit dem Tablettenholen habe die Klägerin weder eine sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Hauptpflicht noch eine arbeitsrechtliche Nebenpflicht erfüllt. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Klägerin vortrage, sich bereits auf dem Rückweg zur Arbeit befunden zu haben. Denn eine arbeitsrechtliche Verpflichtung zu gesundheitsfördernden, der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dienenden Handlungen bestehe grundsätzlich nicht. Maßnahmen der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit seien wie zahlreiche sonstige Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den eigenwirtschaftlichen Interessen der Versicherten als auch den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers dienen könnten, seien grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich der Versicherten und nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen und stünden daher, solange dies das Gesetz nicht wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich anordne, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
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Der Versicherungsschutz der Wegeunfallversicherung gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII bestehe auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Weges von einem "dritten Ort". Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei hierfür ein vorheriger Aufenthalt von wenigstens zwei Stunden erforderlich. Die Klägerin habe sich nur wenige Minuten auf dem Parkplatz aufgehalten.
15
Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigen am 22. März 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 25. März 2021 Berufung erhoben. Das Sozialgericht verkenne, dass der Unfall genau auf dem Weg zur Arbeit hin passiert sei. Eine Unterbrechung könne es nur geben, wenn sich von der Arbeit weg und nicht direkt nach Hause begeben werde. Der Weg zur Arbeit - auch nach einer Arbeitsunterbrechung - sei jedoch geschützt. Die Klägerin habe sich subjektiv direkt zur Arbeit begeben wollen. Das Holen der Tabletten sei mit einer Unterbrechung auf dem Weg zur Arbeit, etwa zum Einkaufen, vergleichbar, welche mit der Beendigung des Einkaufens und dem Fortsetzen des Weges zur Arbeit beendet sei. Die Klägerin werde wegen Epilepsie behandelt, sie nehme außerdem Blutdrucksenker und Blutverdünner.
16
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ferner vorgetragen, dass sie mit ihrer Vorgesetzten gesprochen habe, bevor sie die Tabletten holte. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
17
Die Klägerin beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. März 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 10. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Unfall der Klägerin am 8. Juli 2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
21
Auch nach der Auskunft von Prof. Dr. med. S sei bei einer verspäteten Einnahme nach Schichtende nicht noch während der Arbeitsschicht oder in allernächster Zukunft ein epileptischer Anfall mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen.
22
Das Landessozialgericht hat den die Klägerin behandelnden Arzt Prof. Dr. med. H.-B. S um Auskunft ersucht, welche Auswirkungen die verspätete Einnahme erst nach Arbeitsschluss um 14:30 Uhr gehabt hätte. Mit Schreiben vom 21. Juni 2022 teilte Prof. Dr. med. H.-B. S mit, dass eine vergessene Einzeldosis (der Medikamente) mit einem erkennbar erhöhten Rezidivrisiko verbunden sei. Es sei daher zentraler Bestandteil der Aufklärung über eine medikamentöse Epilepsiebehandlung, dass die regelmäßige Einnahme der Antikonvulsiva Grundvoraussetzung für einen zuverlässigen Anfallsschutz sei. Im Falle des Vergessens würden alle Patienten angehalten, möglichst unmittelbar die Einnahme nachzuholen, um das erhöhte Risiko zu minimieren. Gleichwohl müsse von einem erhöhten Risiko gesprochen werden, welches sich durch eine noch spätere Einnahme etwa nach Arbeitsschluss um 14:30 Uhr noch weiter erhöht hätte. Es sei allerdings auch klar, dass ein Anfall nicht zwangsweise erfolgt wäre, wenn sich die Einnahme weiter verzögert hätte. Es sei bei einer verspäteten Einnahme jedoch von einem vermeidbaren zusätzlichen Risiko auszugehen, welches es aus ärztlicher Sicht definitiv zu vermeiden gelte. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2022 teilte Prof. Dr. med. S mit, dass 2020 bei der Klägerin keine komplette Anfallsfreiheit vorgelegen habe. Auch unter lückenlos fortgesetzter antiepileptischer Medikation sei es immer wieder zu Anfällen gekommen. Daraus folge indirekt, dass beim Wegfall oder der sehr verspäteten Einnahme einer Tagesdosis ein hohes Risiko für einen erneuten Anfall bestanden habe. Ein gleichmäßiger Wirkspiegel des schützenden Medikaments sei nur durch regelmäßige Einnahme gewährleistet. Ein niedrigerer Spiegel bedeute signifikant niedrigeren Schutz und ein signifikant erhöhtes Anfallsrisiko. Aus medizinischer Sicht gehe es um die Befolgung evidenter und ärztlich vorgegebener, notwendiger Verhaltensregeln, um größtmöglichen Erfolg in der Behandlung sicherzustellen. Die Befolgung dieser Regeln könne aus ärztlicher Sicht nicht durch die Betrachtung der Risikohöhe relativiert werden. Dies könne von der Patientin nicht eingeschätzt werden, daher sei ihr ärztlicherseits unbedingt eine regelmäßige Einnahme vorgeschrieben.
23
Der Verwaltungsvorgang der Beklagten hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen. Auf diesen sowie die zwischen den Beteiligten gewechselten Schreiben wird ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die von der Klägerin erhobene Berufung ist zulässig, insbesondere i. S. v. § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht erhoben, sie hat aber in der Sache keinen Erfolg. Der klageabweisende Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass die von der Klägerin erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zulässig ist. Begehrt eine Versicherte die Anerkennung eines Versicherungsfalles, ist gleichermaßen die Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG auf Feststellung durch die Beklagte wie die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig, insoweit besteht ein Wahlrecht (vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Juni 2023 - B 2 U 11/20 R, juris Rn. 10).
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Die Klägerin hat aber keinen Anspruch gegen die Beklagte, dass diese das Ereignis vom 8. Juli 2020 als Arbeits- bzw. Wegeunfall gemäß § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB VII anerkennt. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. statt vieler: Urteil vom 26. November 2019 - B 2 U 8/18 R, Rn. 12 f. m. w. N.).
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Dass die Klägerin einen Gesundheitsschaden bei dem Sturz erlitt und dieser während und nicht vor ihrer Arbeitszeit erfolgte, steht außer Frage. Zwar gaben der D-Arztbericht und die Unfallanzeige den Beginn der Arbeitszeit jeweils mit 9:30 Uhr an. Die Klägerin selbst hat jedoch die Arbeitszeit an dem Tag auf dem ihr übersendeten Fragebogen mit von 5:41 Uhr bis 11:00 Uhr angegeben und dies auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Streitig ist daher allein, ob sich der Unfall während ihrer versicherten Tätigkeit als Beschäftigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (unten Nr. 1) bzw. während des Zurücklegens des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit i. S. v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII (unten Nr. 2) erfolgte.
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1. Die Klägerin befand sich beim Rückweg von ihrem Auto nicht auf einem sogenannten Betriebsweg i. S. v. § 8 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Betriebswege sind Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen. Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit i. S. d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen. Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen (vgl. zum Vorstehenden nur Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Januar 2020 - B 2 U 19/18 R, juris Rn. 15 m. w. N.). Nach den objektiven Gegebenheiten und der subjektiven Zielsetzung war der Weg, während dessen es zum Unfall kam, fraglos auf das Holen der Medikamente gerichtet, welche die Klägerin in ihrem außerhalb des Betriebsgeländes gerichteten Auto vergessen hatte. Der Weg zu ihrem Auto (und zurück) wurde ausschließlich zu diesem Zwecke unternommen. Irgendein anderes Bedürfnis, welches unmittelbar aus den arbeitsvertraglichen Pflichten der Klägerin als angestellte Näherin resultierte, ist nicht ersichtlich. Das Einnehmen von Medikamenten gehörte jedoch nicht zu den von der Klägerin arbeitsvertraglich geschuldeten Hauptpflichten, sie hat damit auch keine Nebenpflicht erfüllt. Eine arbeitsvertraglich geschuldete Verpflichtung zu gesundheitsfördernden, der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dienenden Verhalten besteht grundsätzlich nicht (Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 18 f.).
28
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 7. September 2004 (B 2 U 35/03 R, juris Rn. 18) ferner festgestellt: "Das Besorgen von Medikamenten zählt zu den Maßnahmen der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 16 mwN). Diese sind wie zahlreiche sonstige Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den eigenwirtschaftlichen Interessen des Versicherten als auch den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers dienen können (Beispiele aus der Rechtsprechung: Nahrungsaufnahme; Nahrungsbeschaffung; Ankleiden; Grippeschutzimpfung; Ummelden, Betanken oder Reparatur des für den Arbeitsweg benutzten Kraftfahrzeugs; Schneeräumen in der Garagenausfahrt; vgl die Nachweise in BSG SozR 32200 § 550 Nr 16 sowie Senatsurteil vom 28. April 2004 - B 2 U 26/03 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten und nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen und stehen daher - solange dies das Gesetz nicht wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich anordnet - nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 16 mwN), auch wenn sie mittelbar der Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis dienen. Das gilt sowohl für den Unfallversicherungsschutz auf Betriebswegen als auch auf Wegen nach oder von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII). Dass die Vorbereitungshandlung in den räumlichen und zeitlichen Bereich der versicherten Tätigkeit verlegt wird, ändert nichts an ihrer Zuordnung zum persönlichen Lebensbereich und kann daher grundsätzlich nicht zur Einbeziehung in den Unfallversicherungsschutz führen."
29
Im vorliegenden Fall musste die Klägerin auch nicht etwa aufgrund besonderer Anforderungen bei der Arbeit die Medikamente einnehmen (vgl. zur Abgrenzung, unter welchen Voraussetzungen Handlungen zur Erholung und Entspannung ausnahmsweise unmittelbar betriebsdienlich sind: Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Juni 2001 - B 2 U 30/00 R, juris Rn. 17 ff.). Inwieweit der Sachverhalt anders zu beurteilen wäre, wenn bereits die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, kann ebenso dahinstehen wie die rechtliche Beurteilung für den Fall, dass die Versicherte irrig annimmt, zu entsprechendem Verhalten verpflichtet zu sein (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 18 ff.). Denn weder für die bereits eingetretene Arbeitsunfähigkeit noch für die irrige Annahme der Klägerin, dass sie eine arbeitsvertragliche Pflicht erfülle, gibt es im vorliegenden Sachverhalt irgendwelche Hinweise.
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Es bestand auch nicht die konkrete Gefahr, dass die Arbeitsfähigkeit der Klägerin bei der Nichteinnahme der Medikamente bis zum Schichtende gefährdet war. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den beiden Stellungnahmen des die Klägerin behandelnden Arzt Prof. Dr. med. H.-B. S vom 21. Juni und vom 7. Dezember 2022. In der ersten Stellungnahme hat er dargelegt, dass bei nicht vorschriftsgemäßer Einnahme der Medikamente ein erhöhtes Risiko für einen Anfall aufgrund der Epilepsie bestehe. Im gleichen Schreiben hat er aber auch klargestellt, dass ein Anfall bei verspäteter Einnahme nach Schichtende um 14:30 Uhr nicht zwangsläufig eingetreten wäre. Zwar ist es auch im Interesse des Arbeitgebers, dass eine Arbeitnehmerin das Risiko, einen epileptischen Anfall zu erleiden, gering hält bzw. nicht weiter erhöht. Jedenfalls bei einem nur abstrakten Risiko des Eintritts eines Anfalls während der jeweiligen Arbeitsschicht ist jedoch das betriebliche Interesse nach der Auffassung des Senats geringer einzuschätzen als das (allgemeine) persönliche Interesse der Klägerin an ihrer Gesunderhaltung bzw. der Vermeidung von Anfällen aufgrund ihrer Epilepsie. Die herausragende Bedeutung der regelmäßigen Einnahme der Medikamente für die Klägerin hat Prof. Dr. med. S insbesondere in seinem zweiten Schreiben hervorgehoben. Der Senat sieht diese dringende Notwendigkeit, gleichwohl ändert dies nichts daran, dass die regelmäßige Einnahme der Medikamente vorrangig im privaten Interesse der Klägerin, d. h. der allgemeinen Prophylaxe gegen ihr Anfallsleiden, erforderlich war.
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Das Holen vergessener Medikamente ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 35/03 R, juris Rn. 21 ff.) auch anders zu beurteilen als das Holen vergessener Gegenstände, welche wie einen Schlüssel für einen Spind (Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Januar 1959 - 2 RU 198/56, juris Rn. 19 ff.) oder eine Brille (Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Januar 1977 - 2 RU 99/75, juris Rn. 17 ff.), die zwingend für die Erledigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit benötigt werden.
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Auch der Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - dessen Wahrheit zu ihren Gunsten unterstellt -, dass sie vor dem Holen der Tabletten mit ihrer Vorgesetzten gesprochen und deren Erlaubnis eingeholt habe, ändert an der Privatnützigkeit der Tätigkeit nichts. Entgegen der vom Prozessbevollmächtigen in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung lässt sich hieraus nicht schließen, dass die Vorgesetzte von ihrem aufgrund des Arbeitsverhältnisses zustehenden Weisungsrecht Gebrauch gemacht hat. Sehr viel näherliegend ist vielmehr, dass ihre Vorgesetzte ihr die Unterbrechung ihrer vertraglich geschuldeten Arbeit gestattete. Schließlich dürfte das Einnehmen und Holen der von der Klägerin wegen ihrer Erkrankung einzunehmenden Tabletten kaum vom Weisungsrecht des Arbeitgebers umfasst sein. Den Bekundungen der Klägerin ließ sich auch nicht entnehmen, dass sie insoweit davon ausging, eine arbeitsvertragliche (Neben-)Pflicht zu erfüllen.
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Ebenso wenig zwingt die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass der Weg zum auswärtigen (Mittag-)Essen in einer Pause unter bestimmten Voraussetzungen überwiegend betrieblichen Zwecken dient und dann unter Versicherungsschutz steht (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 27. April 2010 - B 2 U 23/09 R, juris Rn. 12 ff.; umfassende Darstellung bei Keller in: Wolfgang Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, 6. Ergänzungslieferung 2024, § 8 SGB VII Rn. 91 ff.) zu der Annahme des Versicherungsschutzes im vorliegenden Fall. Zwar dient die Einnahme von Mahlzeiten ebenso wie die Einnahme von Medikamenten regelmäßig vorrangig privatwirtschaftlichen Zwecken, weshalb auch Einnahme des (Mittag-) Essens - anders als der Weg dorthin - nicht unter Versicherungsschutz steht. Beiden ist auch gemeinsam, dass sie gleichzeitig mehr oder weniger konkret der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit während der weiteren Arbeitsschicht dienen. Der Versicherungsschutz auf dem Weg zu Mahlzeiten ist aber nach der Rechtsprechung nur deshalb und nur dann gerechtfertigt, wenn die Notwendigkeit besteht, (vollschichtig) im Betrieb anwesend zu sein, und die beabsichtigte Nahrungsaufnahme der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit dient (vgl. nur Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juli 2016 - B 2 U 5/15 R, juris Rn. 29 ff.; Urteil vom 18. Juni 2013 - B 2 U 7/12 R, juris Rn. 21. ff.). Genau dieser Zusammenhang zwischen der andauernden Anwesenheitspflicht aufgrund des Arbeitsvertrages und der Notwendigkeit der zwischenzeitigen Nahrungsaufnahme bzw. deren Beschaffung besteht bei den Medikamenten nicht. Die Klägerin führt diese gewöhnlich - wenn sie diese nicht vergessen hat - mit sich und muss sie sich nicht erst aufgrund der Einbindung in ihren Betrieb anderswo besorgen.
34
Während des Weges zum Auto und zurück war die Klägerin daher nicht als Beschäftigte i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert.
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2. Die Klägerin stand zum Zeitpunkt des Unfalls auch nicht nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Hiernach zählen zu den versicherten Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.
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Das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid bereits zutreffend dargestellt, dass sich die Klägerin unstreitig nicht auf dem direkten Weg von ihrer Wohnung und auch nicht auf dem Weg von einem sogenannten "dritten Ort" zu der Arbeit befand. Vielmehr hatte sie bereits knapp vier Stunden vor dem Unfall die Arbeit angetreten und den Weg zur Arbeit beendet. Auf die dortigen Ausführungen wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG verwiesen. Ergänzend sei im Hinblick auf den Vortrag des Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren darauf verwiesen, dass nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ausschließlich die Wege zum Ort der Tätigkeit zu deren Aufnahme oder von diesem Ort weg nach deren Beendigung versichert sind (vgl. Keller in: Hauck/Noftz SGB VII, 6. Ergänzungslieferung 2024, § 8 SGB VII Rn. 191 m. w. N.). Dies gilt jedoch nicht für den Rückweg von einer (kurzzeitigen) Unterbrechung der Tätigkeit zu privaten Zwecken.
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Die Berufung war daher zurückweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.