· Fachbeitrag · Heilmittelversorgung
Modellprojekte zur Blankoverordnung: unklare Ergebnisse zu Zahl und Kosten der Behandlungen
von Alexandra Buba M. A., Wirtschaftsjournalistin, Fuchsmühl
| Schon seit dem Jahr 2008 erlaubt § 63 Abs. 3b Sozialgesetzbuch (SGB) V Modellprojekte für die Blankoverordnung von Heilmitteln. In diesem Rahmen können Physiotherapeuten u. a. autonom entscheiden, welches Heilmittel sie zur Behandlung eines Patienten auswählen und in welcher Anzahl und Frequenz sie dieses anwenden. Zu zwei solcher Modellprojekte wurden jüngst Ergebnisse veröffentlicht: Beide Studien belegen eine hohe Patientenzufriedenheit. Insbesondere zur Anzahl der Behandlungseinheiten und damit zu den Kosten sind allerdings keine einheitlichen Aussagen möglich. |
Modellprojekt des VPT und der IKK Berlin und Brandenburg
Die IKK Brandenburg und Berlin (IKK BB) und der Verband Physikalische Therapie (VPT) starteten ihren Modellversuch zur Blankoverordnung im Jahr 2011. Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt durch die Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH). Die Patienten wurden in eine Modellgruppe und eine Kontrollgruppe eingeteilt:
- In der Modellgruppe wurden die Patienten nach Blankoverordnung behandelt. Vollständig ausgefüllte, auswertbare Befundbögen lagen zu 196 Patienten in 27 Praxen (überwiegend aus Berlin) vor. Davon nahmen 121 an einer Befragung zur Patientenzufriedenheit und Therapiebewertung teil.
- Die Kontrollgruppe (152 Patienten) erhielt eine physiotherapeutische Versorgung konventionell nach einer Vollverordnung des Vertragsarztes.
Patienten mit Blankoverordnung zufriedener
Patienten mit Blankoverordnung sind zufriedener als solche mit Vollverordnung. Die Patienten der Modellgruppe gaben an, dass sich ihre physischen Probleme und die Aktivitäten des Alltags um 37 Prozent verbessert hätten. Patienten, für die der Arzt die Therapie vorgegeben hatte, sagten das nur zu 21 Prozent. Auch der gefühlte Gesundheitszustand verbesserte sich in der Modellgruppe stärker als bei der Kontrollgruppe (31 versus 21 Prozent).
Ihre Gesamtzufriedenheit benoteten die Blanko-Patienten mit der Schulnote 1,5. Die Kontrollgruppe gab nur eine 2,4. Ebenfalls abgefragt wurde: Wie viel Zeit nimmt sich der Therapeut? Gibt es einen festen Ansprechpartner? Wurde der Befund erklärt? Fühlten sich die Patienten ernst genommen? Dabei fiel auf, dass die Kontrollgruppe in keinem einzigen Bereich bessere Noten erhielt.
MERKE | Besonders signifikant unterscheidet sich die Patientenzufriedenheit bei der Frage, ob der Patient in die Therapieentscheidung einbezogen wird: Hier vergibt die Modellgruppe im Schnitt die Note 1,7 und die Kontrollgruppe eine 3,1. |
Wirksamkeit eindeutig, aber Vergleich zwischen Verordnungsform fehlt
Unabhängig von der Art der Verordnung war die Physiotherapie wirksam: Besonders augenfällig ist dieser Befund im Hinblick auf die Schmerzreduktion. Messinstrument der Schmerzintensität war die Visuelle Analogskala (VAS; 0 = „keine Schmerzen“, 100 „größtmögliche Schmerzen“): Zu Behandlungsbeginn gaben die Befragten im Schnitt einen Wert von 52,7 an. Am Ende waren es 26,5. Das galt für Behandelte mit Wirbelsäulen- und mit Gelenkproblemen.Auch Beweglichkeit und Muskelkraft steigerten sich. Bei Patienten mit Halswirbelbeschwerden wurde eine Verbesserung des Kinn-Jugulum-Abstands von anfänglich 2,7 auf 1,9 festgestellt. Der Muskelfunktionstest nach Janda verbesserte sich bei Behandelten mit Gelenkerkrankungen von 78 auf 90 Prozent.
Der Modellversuch hat allerdings nicht die Wirksamkeit der Therapie je nach Verordnungsart verglichen. Dabei wäre genau dies im Hinblick auf die politische Diskussion rund um das Thema möglicherweise die Kernaussage der Studie gewesen. Denn die Patientenzufriedenheit allein dürfte kein ausreichendes Argument für die Kostenträger sein, die Blankoverordnung grundsätzlich und flächendeckend zu befürworten. Wesentlich sind dafür eher harte Faktoren, die die Gesamtkosten betreffen: Auswirkungen auf die Anzahl der Arztbesuche, die Dauer notwendiger Krankenhausaufenthalte oder die Wahrscheinlichkeit von Operationen.
Fast dreimal mehr Behandlungseinheiten für Blanko-Patienten
In der Modellgruppe war die Zahl der Behandlungen fast dreimal so hoch wie in der Kontrollgruppe, die ihre Therapie vom Arzt vorgegeben bekommen hatte: Patienten mit Blankoverordnung erhielten im Mittel 21,4 Behandlungseinheiten, solche mit Vollverordnung aber nur 8,1 Anwendungen.
MERKE | Hatten die Therapeuten die Wahl, wählten sie am häufigsten die Kombination Manuelle Therapie und Wärme-Therapie. 46 Prozent aller Patienten erhielten diese Behandlung. Ärzte verordneten diese Kombination nur für 15,2 Prozent der Patienten. Nur 0,5 Prozent der Patienten erhielten vom Arzt Manuelle Therapie mit Krankengymnastik verschrieben, Physiotherapeuten griffen im Rahmen der Blankoverordnung dagegen in gut einem Viertel der Fälle zu diesen Mitteln. |
Blankoverordnung: Behandlungsdauer und Kosten zweieinhalbfach höher
Die Behandlung dauerte in der Modellgruppe mit 42 Tagen pro Patient im Median länger als in der Kontrollgruppe (17 Tage). Dies ist nur z. T. auf die höhere Anzahl der Einheiten zurückzuführen. Denn auch die Frequenz unterscheidet sich: Patienten mit Blankoverordnung erhielten im Schnitt einen Termin pro Woche, im herkömmlichen System sieht der Heilmittelkatalog mindestens ein bis zwei wöchentliche Anwendungen vor.
Die Kosten liegen mit knapp 240 Euro im Median und 270 Euro im Durchschnitt pro Patient deutlich über den Werten der herkömmlichen Verordnungspraxis. Diese schlägt mit knapp 98 Euro im Schnitt und 90 Euro im Median zu Buche. Abschließend lässt sich dazu feststellen, dass diese Befunde möglicherweise nicht die beste Basis für die Argumentation zur flächendeckenden Einführung der Blankoverordnung liefern dürften.
Modellvorhaben von IFK und BIG direkt gesund
Das zweite Modellvorhaben starteten der Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten (IFK) und die Krankenkasse BIG direkt gesund ebenfalls im Jahr 2011. Der Versuch umfasste 40 Modellpraxen. Für den Ergebnisbericht wertete die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) 630 Datensätze von Versicherten der BIG direkt gesund aus. Auch hier gab es eine Modell- und eine Kontrollgruppe: Von 334 Patienten in der Modellgruppe und von 296 Patienten in der Kontrollgruppe liegen Daten vor. Diese Studie liefert ein völlig anderes Bild als die Untersuchung des VPT und der IKK BB.
Zufriedenheit in beiden Patientengruppen gleich
In beiden Gruppen waren die Patienten sehr zufrieden mit der Behandlung. Daher sei es im Endeffekt unerheblich, wer die Verordnung ausstelle, so die Autoren. Für den IFK und die BIG direkt gesund lässt dies nur einen Schluss zu: Der Umweg über den Arzt ist unnötig ‒ im Versuch waren die Kosten für ärztliche Leistungen im Übrigen bei den Blankopatienten um 22 Euro geringer. Der Gesetzgeber solle vielmehr den Direktzugang in der Physiotherapie im Rahmen des SGB V ermöglichen.
Behandlungsdauer bei Blanko-Patienten zwei Wochen kürzer
Die BIG direkt gesund befürwortet den Direktzugang umso mehr, als dass in der Modellgruppe die Behandlungsdauer der Patienten im Schnitt erstaunlicherweise um zwei Wochen kürzer war als in der Kontrollgruppe: War die Behandlung vom Arzt detailliert verordnet, dauerte sie 11,8 Wochen, in der Modellgruppe war sie mit 9,7 Wochen signifikant kürzer. Die durchschnittliche Behandlungsdauer lag bei 10,7 Wochen.
Anzahl der Behandlungseinheiten und Kosten in etwa gleich
Außerdem erhielten die Patienten mit der Blankoverordnung in diesem Versuch nicht automatisch deutlich mehr Behandlungseinheiten. Vielmehr bekamen beide Gruppen in diesem Versuch eine vergleichbare Anzahl von Einheiten: 15,8 in der Modellgruppe und 14,7 in der Kontrollgruppe. Folglich unterscheiden sich die Kosten auch kaum: Für die Modellgruppe gibt die Studie Behandlungskosten von 221 Euro sowie für die Kontrollgruppe Behandlungskosten von 210 Euro an.
MERKE | Eine Analogie zum ersten Versuch lässt sich aber doch feststellen, nämlich bei der Auswahl der Heilmittel: Auch in diesem Versuch setzten Physiotherapeuten, wenn sie freie Hand hatten, auf eine Kombination aus aktiven und passiven Heilmitteln (z. B. Krankengymnastik und Wärmetherapie). |
Keine Unterschiede in der Wirksamkeit
Anders als diese Studie von VPT und IKK BB vergleicht die Untersuchung von IFK und BIG direkt gesund die Wirksamkeit der Therapie in den beiden Gruppen. Ergebnis: Bei Behandlungsende unterscheiden sich die Teilnehmenden der Kontroll- und Modellgruppe nicht signifikant voneinander hinsichtlich ihrer Ausprägungen in Schmerz, Lebensqualität und Funktion.
Unterschiedlicher Erkenntnisgewinn für Kostenträger
So ähnlich der Aufbau beider Studien ist, so verschieden sind ihre Aussagen zu den Parametern, die Kostenträger und Gesundheitspolitiker am meisten interessieren: Verordnungsmenge, Behandlungsdauer und Behandungskosten. Gemessen an der Untersuchung des VPT und der IKK BB führt die Blankoverordnung zu einer höheren Patientenzufriedenheit. Allerdings verlängert sie die Behandlungsdauer und wird nur mit enormem finanziellem Aufwand flächendeckend zu realisieren sein. Folgt man den Ergebnissen der Studie von IFK und BIG direkt gesund, ist eine nahezu kostenneutrale Realisierung ohne Einbußen bei Qualität und Patientenzufriedenheit möglich. Die Ursache für diese enormen Unterschiede ist unklar. Möglicherweise können neuerliche Studien Aufschluss darüber liefern.
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Anzahl Anwendungen | Kosten (Euro) | |||
VPT/IKK BB | Modellgruppe: Kontrollgruppe: | 21,4 8,1 | Modellgruppe: Kontrollgruppe: | 270 98 |
IFK/BIG | Modellgruppe: Kontrollgruppe: | 15,8 14,7 | Modellgruppe: Kontrollgruppe: | 221 210 |
Quellen
- Räbiger, Jutta: Ergebnisse Blanko-Modell. In: VPT-Magazin 07/2017, Seite 12 f., Volltext online unter https://www.iww.de/s521
- Räbiger, Jutta: Hohe Patientenzufriedenheit. In: VPT-Magazin 08/2017, Seite 12 f., Volltext online unter https://www.iww.de/s522
- Räbiger, Jutta: Modell Blankoverordnung: Kosten-Nutzen-Betrachtung. In: VPT-Magazin 09/2017, Seite 10 ff., Volltext online unter https://www.iww.de/s523
- Nast, Irina et al.: Das Modellvorhaben Physiotherapie gemäß § 63 Abs. 3b SGB V. Evaluation und Bericht gemäß § 65 SGB V. Ein Forschungsprojekt der BIG direkt gesund und dem Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten IFK e. V. Zürcher Fachhochschule, 21.03.2018, Volltext online unter https://www.iww.de/s524