· Fachbeitrag · Fiktive Abrechnung
Moderne Kfz mit Assistenzsystemen in der fiktiven Abrechnung ‒ Gleichwertigkeit der Reparatur
| Die ersten Urteile des BGH zur Verweisungsmöglichkeit auf andere, auch markenfreie Werkstätten im Rahmen der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten sind nun 15 Jahre alt. Die Unfälle datieren jeweils zwei bis drei Jahre davor. Und die betroffenen Fahrzeuge waren zum Unfallzeitpunkt alle nicht mehr taufrisch. Nun sind seit einigen Jahren Fahrzeuge von Unfällen betroffen, die technisch bereits deutlich komplexer sind. UE erklärt, was das für die Anforderungen an den Vortrag des Versicherers zur Gleichwertigkeit bedeutet. |
BGH-Urteile: Welche Rolle das Fahrzeugalter spielt
Die Urentscheidung zur Verweisungsmöglichkeit auf andere, auch markenfreie Werkstätten im Rahmen der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten, die sog. VW-Entscheidung, datiert aus dem Jahr 2009 (BGH, Urteil vom 20.10.20029, Az. VI ZR 53/09, Abruf-Nr. 133712). Der Unfall mag sich 2006 ereignet haben, und zum Unfallzeitpunkt war der dort betroffene VW-Golf neuneinhalb Jahre alt. Es wird also ein Fahrzeug etwa aus dem Baujahr 1996 gewesen sein, wobei es auf ein Jahr älter oder jünger für die nachfolgenden Überlegungen nicht ankommt:
- In einem Urteil aus 2010 hat der BGH das Erstzulassungsdatum des betroffenen Fünfer BMW als April 1999 mitgeteilt (BGH, Urteil vom 23.02.2010, Az. VI ZR 91/09, Abruf-Nr. 101686).
- In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 2010 ging es um einen Unfall aus 2008. Die betroffene Mercedes A-Klasse war zum Unfallzeitpunkt sieben Jahre alt, also etwa aus dem Baujahr 2001 (BGH, Urteil vom 13.07.2010, Az. VI ZR 259/09, Abruf-Nr. 102865).
- In einem weiteren Urteil aus dem Jahr 2017 datiert der Unfall aus Mai 2014. Das Fahrzeug Mercedes T-Modell war zum Unfallzeitpunkt neuneinhalb Jahre alt, das Baujahr also ca. 2005 (BGH, Urteil vom 07.02.2017, Az. VI ZR 182/16, Abruf-Nr. 192297).
Aus diesen Informationen kann man den zwanglosen Schluss ziehen, dass das alles keine Fahrzeuge voller Assistenzsysteme waren. Die Anzahl der Steuergeräte war überschaubar. Die Vernetzung der einzelnen Bauteile des Fahrzeugs untereinander war nur spärlich oder gar nicht vorhanden.
Beseitigung der Schäden durch K&L-Handwerk möglich
In der VW-Entscheidung hat der BGH den Schadenumfang an dem neuneinhalb Jahre alten Golf nicht mitgeteilt. Doch wenn bei dem Fahrzeug noch um den Stundenverrechnungssatz und nicht um den Restwert gestritten wurde, kann es nur ein überschaubarer Schaden gewesen sein.
In den anderen drei Urteilen des BGH lesen wir:
- Der Fünfer BMW wurde im Heckbereich beschädigt. Betroffen waren der Stoßfänger, die Heckklappe, das Heckabschlussblech, die Seitenwand unten und die Abgasanlage.
- Bei dem Fall mit der A-Klasse hat der BGH den Schadenumfang nicht genau beschrieben, aber ausdrücklich als „Bagatellschaden“ bezeichnet.
- Das T-Modell wurde an der Heckklappe und am Spoiler durch einen Streifstoß beschädigt.
Die Beseitigung dieser Schäden waren schlichtes Karosseriebauer- und Lackiererhandwerk.
Bislang keine hohen technischen Anforderungen des BGH
Nimmt man das Fahrzeugalter und die jeweils nur oberflächliche Beschädigung zusammen, verwundert es nicht, dass der BGH an den Nachweis der Gleichwertigkeit der Reparatur nur geringe Anforderungen gestellt hat. Denn wer Karosseriebau kann, bekommt das alles wieder hin.
Seit einigen Jahren kommen nun aber Fahrzeuge in ihr „zweites Leben“ nach dem Erstbesitzer, die technisch bereits deutlich komplexer sind. Die abstandhaltende Geschwindigkeitsregelanlage mit aktivem Bremseingriff, die Fernlichtautomatik, der passive oder aktive Spurhalteassistent, all das findet sich bereits in vier oder fünf Jahre alten Gebrauchtwagen, die wegen ohnehin abgelaufener Garantie nicht mehr scheckheftgepflegt gehalten werden.
Wichtig | Älter als drei Jahre und nicht mehr scheckheftgepflegt: Auch diese Fahrzeuge sind Kandidaten für eine Verweisung auf eine andere Werkstatt im Rahmen der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten.
Ist die technische Gleichwertigkeit der Reparatur gegeben?
Da stellt sich nun die Frage, ob für den Versicherer der Nachweis der technischen Gleichwertigkeit der Reparatur in einer anderen Werkstatt noch immer mit dem schlichten „Das ist ein spezialisierter Karosseriebetrieb, Meisterbetrieb, Innungsbetrieb“ und auch „Mitglied des Premiumnetzwerks Eurogarant“ möglich ist. Das kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Da heißt es wie so oft: Es kommt darauf an.
Wichtig | Beschränkt sich die Beschädigung am Fahrzeug auf einen Außenhautschaden, ohne dass die Assistenzsysteme und Vernetzungen betroffen sind, genügt wie bei den älteren Fahrzeugen die Karosseriebau- und Lackierkompetenz.
Anders sieht es aus, wenn Fahrzeugteile betroffen sind, die Eingriffe in die elektronischen Komponenten nach sich ziehen. Da kann schon ein auszuwechselnder Scheinwerfer dazu führen, dass das Neuteil wieder am Fahrzeug „angelernt“ werden muss, damit alle Assistenzfunktionen des Scheinwerfers wieder aktiviert sind.
LG Berlin: Gleichwertigkeit der Reparatur infrage gestellt
Ein erstes Urteil in diesem Kontext kommt vom LG Berlin: Das unfallbeschädigte Fahrzeug, ein Mercedes Vito, war zum Unfallzeitpunkt wenige Monate über die drei Jahre hinaus. Die Reparaturkosten, kalkuliert mit den lokalen Mercedes-Preisen, lagen bei mehr als der Hälfte des WBW. Sogar mit den vom Versicherer dagegengehaltenen Preisen betrug er mehr als 12.000 Euro. Damit ist er weit entfernt von den Bagatellen aus den früheren BGH-Entscheidungen. Betroffen waren lt. Urteil auch das Parktronic-System, die Multifunktionskamera, ein Regen‒/Lichtsensor und ähnliche digitale Betriebseinrichtungen.
Das LG deutet die BGH-Rechtsprechung nach UE-Ansicht zutreffend so: „Je älter das Fahrzeug und je geringer der Schaden sind, desto eher ist der Verweis auf eine entsprechende nicht markengebundene Fachwerkstatt zulässig.“
Wichtig | Angesichts des Schadenumfangs und insbesondere der Einbeziehung elektronischer Elemente seien jedenfalls die Anforderungen an den Vortrag des Versicherers zur Gleichwertigkeit höher. Diese Anforderung ist mit der vorgelegten allgemeinen Eigenschaftsliste zu der Werkstatt nicht erfüllt (LG Berlin, Urteil vom 17.08.2022, Az. 42 S 24/22, Abruf-Nr. 231048).
Ob das nun, wie das LG Berlin meint, die Gleichwertigkeit der Reparatur infrage stellt, werden die Gerichte voraussichtlich unterschiedlich beurteilen. Doch eines erscheint sicher: Wenn die Verweisungswerkstatt mit dem teilreparierten Fahrzeug eine Markenwerkstatt für eine Subunternehmerleistung in Anspruch nimmt, wird letztere das kaum zu den niedrigen Preisen der Verweisungswerkstatt erledigen. Also müsste die Verweisungswerkstatt die Teilleistungen bei reiner Umrechnung teurer einkaufen, als sie sie verkaufen könnte. Das ist nicht realistisch. Sie wird mindestens den Fremdleistungs-Einkaufspreis weiterberechnen, und betriebswirtschaftlich vernünftig wird sie sogar eine Marge aufschlagen. Pures Umrechnen scheidet also aus.
Schadengutachter und Anwälte müssen zusammenarbeiten
Das Thema können Anwälte und Schadengutachter nur gemeinsam lösen.
PRAXISTIPP | Der Anwalt kann nicht wissen, für welche Arbeiten die Werkstatt elektronische Hilfsmittel benötigt, die üblicherweise nur in den markengebunden Werkstätten der jeweiligen Marke greifbar sind. Es wäre daher hilfreich, wenn solche Arbeitsschritte im Gutachten mit einer Markierung versehen werden. Dann können die Juristen damit argumentieren. Wenn es ernst wird, bedarf es zusätzlicher Erläuterungen und Stellungnahmen. Jedenfalls ist das Thema bei entsprechenden Fahrzeugen im Auge zu behalten. |
Für einige Arbeitsschritte sind bereits „Universaltester“ am Markt. Es ist nicht auszuschließen, dass manche Verweisungswerkstatt da bereits aufgerüstet hat. Das müsste dann aber der Versicherer vortragen und ggf. beweisen.
Weiterführender Hinweis
- Textbaustein 627: Moderne Fahrzeuge mit ihren Assistenzsystemen in der fiktiven Abrechnung und die Gleichwertigkeit der Reparatur (H) → Abruf-Nr. 50296201