· Fachbeitrag · Schadenabwicklung
Haben BGH-Urteile keine Bindungswirkung?
| Die Rechtsprechung des BGH ist in vielen Themenfeldern rund um das Unfallgeschehen sehr gefestigt. Die Urteile in den darunterliegenden Instanzen hingegen haben eine durchaus nennenswerte Streubreite. Nicht immer halten sich die Amtsrichter und die Landgerichte an die vom BGH aufgestellten Grundsätze. So fragt ein Leser: Haben BGH-Urteile keine Bindungswirkung? Die Kurzantwort lautet „Nein“. |
Frage: Wie kann es sein, dass Urteile von den Amts- und Landgerichten oft von der Rechtsprechung des BGH abweichen? Haben die Urteile vom BGH keine Bindungswirkung?
Antwort: Nein, die Urteile des BGH haben keine Bindungswirkung in dem Sinne, dass sich die unteren Instanzen zwingend im Sinne von „Anweisung von oben“ daran halten müssen.
Recht ist, was mir nutzt ...
In den verschiedenen „geschädigtenfreundlichen“ Diskussionsforen im Internet ist wieder und wieder zu beobachten: Weicht ein Richter im Sinne des Geschädigten (z. B. Beispiel der Richter am AG Berlin Mitte, der bei der Fiktivabrechnung jeglichen Verweis auf freie Werkstätten rundweg ablehnt) von der BGH-Rechtsprechung ab, wird er gefeiert. Er ist ein Held, einer der sich was traut, der gegen „die da oben“ antritt. Weicht ein Richter hingegen geschädigtenlastig von der BGH-Rechtsprechung ab, wird Zeter und Mordio gerufen. Das darf der nicht, das ist verboten.
In den versicherungsgeneigten Diskussionsrunden ist die Bewertung genau umgekehrt.
Sachliche Gründe für Anpassungen und Veränderungen
Es kann ja auch gute Gründe geben, von der gefestigten Rechtsprechung des BGH abzuweichen. Nehmen wir das Beispiel der Wertminderung. Bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein galt stur: Bei 100.000 km Laufleistung und/oder einem Alter von mehr als fünf Jahren gibt es keine Wertminderung mehr.
Doch dann hat ein Richter nach dem anderen erkannt: Heute halten Autos viel, viel länger. Die Voraussetzungen sind andere: War in den siebziger Jahren ein Auto mit 100.000 km „kurz vor dem Tod“, hat es heute gerade die dritte Inspektion hinter sich. Und so urteilte ein Gericht nach dem anderen „gegen“ die alte BGH-Rechtsprechung. Die Versicherer klammerten sich aber an das „... der BGH hat doch gesagt ...“. Das taten sie so lange, bis der BGH abermals Gelegenheit hatte, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Und siehe da, er hat sich im Jahr 2004 auch an die veränderten Gegebenheiten angepasst.
Ein anderes Beispiel: Der BGH stellt eine bestimmte Summe für eine Grenzziehung in den Raum, z. B. die legendären „ca. 700 Euro“ als Bagatellgrenze für die Einholung eines Gutachtens. Wenn Gerichte zehn Jahre später anhand veränderter Reparaturpreise eine etwas höhere Grenze sehen wollen, mag das der Interessenslage der Schadengutachter und Werkstätten nicht entsprechen. Aber zu beanstanden ist das nicht. Sonst müsste die Zahl ja ewig unverändert bleiben.
Ein Richter darf auch ganz einfach nur anderer Meinung sein
Die Stellung des Richters im System der Rechtsprechung ist so ausgestaltet, dass er in inhaltlichen Fragen nicht weisungsgebunden ist. Er muss sich nur an das Gesetz halten. Das allerdings ist nicht eindeutig, und oft müssen Auslegung und Wertung her.
So ziemlich alles, was in der Unfallregulierung regelmäßig Schwierigkeiten macht, steht nicht im Detail im Gesetz. Da gibt es keine Reparaturkosten und keinen Totalschaden, keine Sachverständigenkosten und keine Mietwagenkosten, keine Nutzugsausfallentschädigung und keine Schadenpauschale. Schon gar nicht gibt es Verbringungskosten oder UPE-Aufschläge, Entsorgungskosten, Schwacke- oder Fraunhoferlisten. Alle Einzelpositionen hat die Rechtsprechung entwickelt aus dem Begriff der für die Wiederherstellung des vorherigen Zustands „erforderlichen Kosten“ in § 249 Abs. 2 S. 1 BGB.
Da gibt es Spielräume, und da ist es schlichtweg erlaubt, dass ein Richter die Dinge anders sieht, als die Obergerichte. Das mag auf Dauer die Karriere hindern. Aber darüber hinaus kann kein Vorgesetzter eingreifen.
Einheitliche Rechtsprechung ist aber erwünscht
Es ist erklärtes Ziel der Justiz, dass Rechtsprechung vorhersehbar ist. Das ist sie am ehesten, wenn die BGH-Urteile tatsächlich zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung führen. Und das nützt auch den Prozessparteien. Denn wenn ein Richter gegen den Strom schwimmt, führt das oft zu nichts Anderem, als dass die entsprechende Prozesspartei eine Instanz später um die Kosten der zweiten Instanz teurer verliert.
Manchmal kennt der Richter die BGH-Rechtsprechung einfach nicht
Der ärgerlichste Fall einer Abweichung von der BGH-Rechtsprechung ist der, dass der Richter die höchstrichterlichen Urteile gar nicht kennt. Er hätte sich an die BGH-Linie gehalten, wenn er darum gewusst hätte. Auch das führt auf Dauer allenfalls zum Karriereknick. Disziplinarisch ist das nicht zu ahnden.
Aber genau dort setzt doch die Rolle der Rechtsanwälte an. Anders als die Amtsrichter, die Generalisten sein müssen, sind die Anwälte zunehmend spezialisiert. Und daher kann man erwarten, dass wenigstens die die BGH-Rechtsprechung kennen und dem Gericht vortragen.
Wenn Unkenntnis auf Unkenntnis trifft, wird es bitter. Aber da gilt: Den Richter können Sie sich nicht aussuchen. Ob der Anwalt bei Ihnen ein Auto gekauft hat, ist nach wie vor das schlechteste aller Auswahlkriterien.