· Fachbeitrag · Schadenabwicklung
Nachbesichtigung zulassen? Und wenn ja, mit oder ohne eigenen (kostenpflichtigen) Gutachter?
| Ein Schadengutachten wurde zum Nachweis des Schadenumfangs und der Schadenhöhe vorgelegt. Der gegnerische Haftpflichtversicherer gibt sich damit nicht zufrieden. Er verlangt, selbst einen internen oder externen Schadengutachter einzuschalten. Kann der Versicherer die Nachbesichtigung durch Zahlungsverweigerung erzwingen? Sollte der Geschädigte unabhängig von der Rechtsfrage zustimmen? Da gehen die Meinungen unter Schadengutachtern und Werkstätten so weit auseinander, dass das fast zur Glaubensfrage wird. |
Die Rechtslage: Es kommt darauf an …
Kein Pauschales Recht auf Nachbesichtigung
Die Rechtsprechung ist sich weitgehend einig: Ein pauschales Recht zur Nachbesichtigung hat der gegnerische Haftpflichtversicherer nicht (LG Potsdam, Urteil vom 03.03.2015, Az. 11 O 166/14, Abruf-Nr. 144019; LG Lübeck, Beschluss vom 19.04.2013, Az. 16 O 19/12, Abruf-Nr. 131686; LG Berlin, Urteil vom 13.07.2011, Az. 42 O 22/10, Abruf-Nr. 207802; LG Aachen, Beschluss vom 23.08.2017, Az. 2 T 173/17, Abruf-Nr. 196238).
Für die Gegenmeinung verweisen Versicherer immer wieder auf eine ziemlich einsam in der Gerichtslandschaft stehende Entscheidung des AG und des LG Heilbronn, wonach sich das Recht auf Nachbesichtigung aus § 119 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ergebe (AG Heilbronn, Urteil vom 24.10.2007, Az. 9 C 1648/07, Abruf-Nr. 080583 sowie Beschluss LG Heilbronn vom 29.11.2007, Az. 4 T 22/07, Abruf-Nr. 110726).
Danach müsse der Geschädigte Belege vorlegen und Auskünfte erteilen. Es ist aber etwas abenteuerlich, dass das körperliche Vorzeigen des beschädigten Fahrzeugs eine Auskunft oder ein Beleg sein soll. Das hält auch das LG Aachen im o. g. Beschluss für abwegig.
Anders, wenn der Versicherer konkrete Zweifel substantiiert vorträgt
Daraus jedoch zu schließen, der Versicherer dürfe nie nachbesichtigen lassen, wäre auch verfehlt. Wenn der Versicherer über Sprechblasen hinaus mit Substanz darlegt, was er nicht nachvollziehen könne, bejahen verschiedene Gerichte doch das Nachbesichtigungsrecht (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29.05.2018, Az. 4 W 9/18, Abruf-Nr. 204298; AG Düsseldorf, Urteil vom 18.12.2012, Az. 36 C 1991/12, Abruf-Nr. 132192).
PRAXISTIPP | Substantiierte Einwendungen sind in der Praxis selten. Meist verlangt der Versicherer einfach nur die Nachbesichtigung. |
Wo ist das Risiko?
Wer zu hoch pokert, trägt folgendes Risiko: Der Versicherer zahlt nicht, weil er nicht nachbesichtigen darf. Daraufhin erhebt der Geschädigte Klage auf Zahlung. Das Gericht setzt einen Gutachter ein, der zum Ergebnis kommt, dass alles richtig ist. Der Geschädigte gewinnt seinen Prozess. Doch wegen der Prozesskosten wendet der Versicherer ein: Hätte er nachbesichtigen dürfen, hätte er selbst erkannt, dass alles klar ist. So wäre der Prozess vermieden worden.
In der Zivilprozessordnung gibt es eine Regelung (§ 93 ZPO), wonach der Verlierer des Prozesses abweichend von der Normalsituation dann die Prozesskosten nicht auferlegt bekommt, wenn er keinen Anlass zur Klage gegeben hat. Kommt das Gericht zum Ergebnis, dass der Versicherer ein Nachbesichtigungsrecht gehabt habe, tickt diese Bombe.
Sondersituation 130-Prozent-Schaden
Bei 130-Prozent-Schäden spricht einiges dafür, dem Versicherer die Nachbesichtigungsmöglichkeit ausdrücklich anzubieten. Denn im Prozess bestellt sonst das Gericht mit höchster Wahrscheinlichkeit einen Gutachter. Vor Überraschungen in der Beurteilung ist man da nie gefeit. Deshalb ist es bei den 130-Prozent-Schäden durchaus sinnvoll, den Einwand des Versicherers, die Reparatur sei nicht in Ordnung, durch eine gemeinsame Durchsicht auszuräumen oder bei evtl. Beanstandungen nachzubessern.
Der pragmatische Ansatz außerhalb von Rechtsfragen
Unabhängig von der Frage, ob der Versicherer die Nachbesichtigung erzwingen kann, darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass schnelle Liquidität ein Anliegen der Werkstätten ist. Wenn Sie von der Richtigkeit des Gutachtens bzw. der Korrektheit Ihrer Arbeit überzeugt sind, spricht mehr für eine Nachbesichtigung als dagegen.
- Wenn sich die Richtigkeit dabei bestätigt, ist alles klar: Der Versicherer wird bezahlen.
- Bestätigt sich aus Sicht des Versicherungsgutachters die Richtigkeit des Gutachtens nicht, zahlt der Versicherer vielleicht nur die Teile des Schadens, die er für richtig hält. Aber vermutlich wird er jedenfalls diesen Teil bezahlen. Damit ist die Situation nicht nur nicht schlechter, als wenn die Versicherung wegen der Verweigerung gar nicht zahlt, sondern um den Teilbetrag besser.
Zahlt sie einen Teil, muss nur noch wegen des Rests geklagt werden. In die Kostenfalle wie im Heilbronner Urteil kann man dann aber nicht tappen. Zahlt sie wegen Verweigerung der Nachbesichtigung gar nichts, muss auch geklagt werden, aber eben auf den Gesamtbetrag wartend.
Nachbesichtigung nie ohne den Gutachter des Geschädigten
Wenn der Versicherer nachbesichtigt, sollte stets der Gutachter des Geschädigten ebenfalls zugegen sein. Das hilft sehr, wenn man sich später mit den evtl. Einwendungen des Versicherers auseinandersetzen muss.
Versicherer muss Kosten erstatten
Ohne Zweifel muss der Versicherer die Kosten, die der Schadengutachter dem Geschädigten für die Nachbesichtigung berechnet, erstatten. Das AG Siegburg (Urteil vom 06.02.2019, Az. 110 C 112/18, Abruf-Nr. 207804, eingesandt von Rechtsanwältin Verena Höfer, Siegen) hat das sorgfältig begründet.
Eindrucksvoll ist auch die Begründung des AG Berlin: „Die Beklagte hat ‒ wie sie selbst weiß ‒ kein Recht auf eine Nachbesichtigung. Wenn die Klägerin ihr diese ermöglicht, aber nur, wenn dann auch ‚ihr‘ Sachverständiger dabei ist und die Kosten erstattet werden, muss die Beklagte eben abwägen, ob sie sich darauf einlässt oder eben auf die Nachbesichtigung verzichtet. ...“
Und nicht ohne Süffisanz endet diese Urteilspassage mit: „Die Klägerin konnte schließlich auch nicht darauf vertrauen, dass die Beklagte nur berechtigte Abzüge vornehmen würde. Weshalb hier die Klägerin ein größeres Zutrauen zu der Beklagten haben sollte, als diese offensichtlich zu ihr hat, ist nicht nachzuvollziehen.“ (AG Berlin, Urteil vom 22.09.2016, Az. 102 C 3073/16, Abruf-Nr. 189095).
Wichtig | Das gilt umso mehr, wenn der Versicherer ankündigt, die Nachbesichtigung durch „seinen“ Gutachter vornehmen zu lassen.
Wenn der Schadengutachter den Aufwand dann nach Zeitverbrauch (im Urteilsfall 1,25 Stunden mit einem Stundensatz von 132 Euro) abrechnet, ist das schadenrechtlich nicht zu beanstanden (AG Mainz, Urteil vom 31.05.2016, Az. 80 C 73/16, Abruf-Nr. 186410).
Auch das AG Kaiserslautern sagt, die Kosten des Sachverständigen für die Teilnahme an einer Nachbesichtigung seien zu erstatten (es ging um eine Erstattung in Höhe von 196,46 Euro), wenn der Versicherer des Schädigers Zweifel an der Höhe des kalkulierten Gesamtschadens hat, eine Besichtigungstermin verlangt und der Geschädigte möglicherweise aufkommenden Beanstandungen nicht sachgerecht entgegen treten kann (AG Kaiserslautern, Urteil vom 26.06.2014, Az. 11 C 416/14, Abruf-Nr. 142135).
Schon weil der Geschädigte keine unabhängige Expertise erwarten kann, wenn der Versicherer einen Gutachter schickt, darf er die Unterstützung durch einen Fachmann für schadenrechtlich erforderlich halten.
Die „Das ist im Preis mit drin“-These
Die These des Versicherers, die Begleitung beim Nachbesichtigungstermin müsse der vom Geschädigten hinzugezogene Sachverständige als Nebenpflicht aus dem ursprünglichen Gutachtenauftrag kostenlos erbringen, hat das AG Kaiserslautern in das Reich der Fabel verwiesen. Die Hauptleistung der Gutachtenerstellung war längst erbracht. Die Nachbesichtigung ist ein neuer Vorgang, der nicht kostenlos zu erwarten ist. Deshalb kommt es, so das Gericht, auch gar nicht darauf an, ob die Parteien vor dem Termin eine konkrete Honorarvereinbarung getroffen haben.
Weiterführender Hinweis
- Textbaustein 416: Sachverständigenkosten bei Nachbesichtigung (H) → Abruf-Nr. 44139473