26.09.2012 · IWW-Abrufnummer 122939
Sozialgericht Düsseldorf: Urteil vom 11.07.2012 – S 2 KA 378/10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Sozialgericht Düsseldorf
S 2 KA 378/10
Tenor:
Der Bescheid über die Nichtgewährung von Zuschlägen auf die Regelleistungsvolumina in den Quartalen I/2009 bis IV/2009 vom 18.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2010 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin bezüglich der Festsetzung der Regelleistungsvolumina für die Quartale I/2009 bis IV/2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Streitig ist die Erhöhung des Fallwertes im Regelleistungsvolumen (RLV).
Die Klägerin ist eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) einer Fachärztin und eines Facharztes für Neurochirurgie mit Sitz in N.
Ihre anwaltlich eingelegten Widersprüche gegen die Abrechnungsbescheide für die Quartale I/2009 bis III/2009 wies die Beklagte mit zwei getrennten Widerspruchsbescheiden vom 21.09.2011, adressiert jeweils an die BAG selbst, zurück.
Unter dem 18.11.2009 beantragte die Klägerin eine Erhöhung ihres RLV-Fall-wertes, da dieser über 30 % höher läge als der durchschnittliche Fallwert der zugewiesenen Arztgruppe. Die besondere fachliche Spezialisierung ergäbe sich aus einem Vergleich der Abrechnungsfrequenzen "klassischer" Chirurgen mit ihrem Leistungsspektrum.
Mit Bescheid vom 18.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab: Die geltend gemachten Praxisbesonderheiten nach den Nrn. 16230, 16232, 16233, 30712 und 30731 EBM würden gegenüber der Vergleichsgruppe ausweislich der Frequenztabelle teilweise unterschritten. Sowohl unter dem Gesichtspunkt der Praxisbesonderheit als auch aus Sicherstellungsgründen seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines Fallwertzuschlages nicht gegeben.
Hiergegen richtet sich die am 26.07.2010 erhobene Klage.
Die Klägerin trägt vor, den ihr tatsächlich zugewiesenen RLV-Fallwerten für die Arztgruppe der Chirurgen von 30,88 EUR (I/09), 25,96 EUR (II/09), 28,78 EUR (III/09) und 28,32 EUR (IV/09) müssten individuelle Fallwerte aus den jeweiligen Vorjahresquartalen gegenüber gestellt werden. Da in diesen Quartalen noch keine Honorarverteilung nach RLV vorgenommen worden sei, müssten die Honorarbescheide dahin bereinigt werden, dass nur diejenigen Leistungen berücksichtigt würden, die jetzt dem RLV zugeordnet worden seien und nicht als sog. freie Leistungen außerhalb des RLV vergütet würden. Dann ergäben sich praxisindividuelle Fallwerte von 57,22 EUR (I/08), 53,73 EUR (II/08), 57,69 EUR (III/08) und 63,81 EUR (IV/08), die den durchschnittlichen Fallwert um mehr als 30 %.überschritten. Das Leistungsspektrum der Klägerin sei nahezu identisch mit dem der Fachärzte für Neurologie, wie anhand deren Fallwerte erkennbar werde: 53,34 EUR (I/09), 43,27 EUR (II/09), 43,10 EUR (III/09), 42,83 EUR (IV/09). Der Hinweis der Beklagten, die Abrechnungsfrequenz bestimmter Ziffern werde gegenüber der Vergleichsgruppe teilweise unterschritten, sei verfehlt, da er sich nur auf die Vergleichsgruppe der Neurochirurgen und nicht auf diejenige aller Chirurgen beziehe.
Die Klägerin beantragt:
Der Bescheid über die Nichtgewährung von Zuschlägen auf die Regel-leistungsvolumina in den Quartalen I/2009 bis IV/2009 vom 18.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 23.06.2010 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin bezüglich der Festsetzung der Regelleistungsvolumina für die Quartale I/2009 bis IV/2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung für rechtmäßig. Da die Honorarbescheide für die Quartale I-IV/2009 in Bestandskraft erwachsen seien, sei die Klage mangels Rechtsschutzinteresses bereits unzulässig.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Im Vertragsarztrecht können Vorfragen, die Auswirkungen für mehrere Quartale haben, in einem eigenen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren - lösgelöst von der Anfechtung eines konkreten Honorarbescheides - geklärt werden, sofern die den streitigen Zeitraum betreffenden Honorarbescheide noch nicht bestandskräftig sind (BSG, Urteil vom 03.02.2010 - B 6 KA 31/08 R- ; Beschluss vom 17.08.2011 - B 6 KA 30/11 B -; Urteil vom 08.02.2012 - B 6 KA 14/11 R -; LSG NRW, Beschluss vom 21.03.2012 - L 11 KA 83/11 B ER -). Das ist hier der Fall. Die beiden Widerspruchsbescheide vom 21.09.2011 für die Quartale I/2009 bis III/2009 sind entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungszustellungs-gesetz (VwZG) an die BAG selbst und nicht an die anwaltlichen Bevollmächtigten gerichtet worden, obwohl - soweit ersichtlich - eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hatte. Die hieraus folgende Unwirksamkeit der Zustellung verhindert den Eintritt der Bestandskraft. Soweit gegen den Abrechnungsbescheid für das Quartal IV/09 kein ausdrücklicher Widerspruch eingelegt worden sein sollte, w äre bei sachgerechter Auslegung des klägerischen Begehrens der Wider-spruch gegen die Ablehnung des Antrages auf Erhöhung/Änderung des RLV auch als Widerspruch gegen den Honorarbescheid auszulegen gewesen. Einen bestandskräftigen Widerspruchsbescheid hierüber gibt es nicht.
In der Sache selbst ist die Klägerin durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da diese rechtswidrig sind. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrages auf Erhöhung des durchschnittlichen Fallwertes ihrer Arztgruppe bzw. auf das RLV.
Gemäß Teil F, Ziffer 3.6, des Beschlusses des Erweiterten Bewertungsaus-schusses vom 27./28.08.2008 werden Praxisbesonderheiten zwischen den Partnern der Gesamtverträge geregelt. Praxisbesonderheiten ergeben sich aus einem besonderen Versorgungsauftrag oder einer besonderen, für die Versorgung bedeutsamen fachlichen Spezialisierung, wenn zusätzlich eine aus den Praxisbesonderheiten resultierende Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30% vorliegt. Über das Verfahren der Umsetzung einigen sich die Partner der Gesamtverträge.
Diese bundesrechtlichen Vorgaben haben die Partner der Gesamtverträge in § 6 Abs. 3 der in den Quartalen I-IV/2009 maßgeblichen Honorarverteilungsverträge (HVV) (Rhein. Ärzteblatt 1/2009, 64 f. sowie nachfolgende Bekanntmachungen) umgesetzt. Danach können auf Antrag des Arztes und nach Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein Zuschläge auf den durchschnittlichen Fallwert der Arztgruppe bzw. auf das RLV gewährt werden, wenn Praxisbesonderheiten, die sich aus einem besonderen Versorgungsauftrag oder einer besonderen, für die Versorgung bedeutsamen fachlichen Spezialisierung ergeben, zu einer Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30 % geführt haben. Die Vertragspartner vereinbaren, dass der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein beurteilt, ob eine Praxisbesonderheit in diesem Sinne vorliegt und welche Überschreitungen daraus resultieren. Er hat dabei einen Beurteilungsspielraum und entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, in welcher Weise der Zuschlag gewährt wird. Das Ergebnis der Beurteilung wird durch Verwaltungsakt der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein festgestellt. Insofern hat die Beklagte nicht ohne Rechtsfehler die Erhöhung der Fallwerte abgelehnt.
Die Beurteilung, ob Praxisbesonderheiten vorliegen, unterliegt der uneinge-schränkten gerichtlichen Nachprüfung. Der Beklagten steht insoweit kein - der gerichtlichen Nachprüfung nur eingeschränkt zugänglicher - Beurteilungsspielraum zu. Die Beantwortung der Frage, ob die zu beurteilende Praxis eine für die Versorgung bedeutsame fachliche Spezialisierung aufweist, hängt von ermittel- und feststellbaren Umständen wie der Struktur des Leistungsangebots dieser Praxis, der Analyse der Abrechnungen in der Vergangenheit sowie einem Vergleich mit den entsprechenden Daten anderer Praxen ab. Ein Erkenntnis- oder Einschätzungsvorrang der Kassenärztlichen Vereinigung, der eine Reduzierung der gerichtlichen Kontrolle der Rechtsanwendung legitimieren könnte, besteht insoweit nicht (vgl. BSG, Urteile vom 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R bis B 6 KA 20/10 R - m.w.N.).
Ob in der Praxis der klägerischen BAG ein besonderer Versorgungsauftrag oder eine besondere für die Versorgung bedeutsame Spezialisierung besteht, hat die Beklagte nicht näher geprüft. Für die Frage, wann diese Voraussetzungen vorliegen, kann die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum besonderen Versorgungsbedarf im Rahmen der Erweiterung der Zusatz- und Praxisbudgets gemäß Nr. 4.3 der Allgemeinen Bestimmungen A I., Teil B, EBM 1996, die ebenfalls im Grundsatz auf eine arztgruppeneinheitliche Festlegung angelegt waren, sinngemäß herangezogen und weiterentwickelt werden. Danach müssen eine im Leistungsangebot der Praxis zum Ausdruck kommende Spezialisierung und eine von der Typik der Arztgruppe abweichende Praxisausrichtung vorliegen, die messbaren Einfluss auf den Anteil der im Spezialisierungsbereich abgerechneten Punkte im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl der Praxis haben. Zur Begründung einer versorgungsrelevanten Besonderheit genügt es nicht, lediglich ein "Mehr" an fachgruppentypischen Leistungen abzurechnen. Die Überschreitung des praxisindividuellen RLV muss vielmehr darauf beruhen, dass in besonderem Maße spezielle Leistungen erbracht werden (dazu im Einzelnen zuletzt BSG, Urteil vom 08.02.2012 - B 6 KA 14/11 R - m.w.N.)
Insofern liegt die Begründung der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 23.06.2010, die geltend gemachten Praxisbesonderheiten nach den Nrn. 16230, 16232, 16233, 30712 und 30731 EBM würden gegenüber der Vergleichsgruppe ausweislich der Frequenztabelle teilweise unterschritten, neben den tatbestandlichen Voraussetzungen. Die Frequenztabelle erfasst nur Ärzte der Fachgruppe 41-1, wie sich aus der BSNR (oberste Zeile links) und der geringen Anzahl der Betriebsstätten ergibt. Die Fachgruppe 41, Untergruppe 1, sind niedergelassene Neurochirurgen (Anlage 1 zur Prüfvereinbarung 2008; Rhein. Ärzteblatt 12/2007, 71).
Gegenüber dieser Arztgruppe liegen zwar bei einzelnen Ziffern Unterschreitungen vor. Bei sachgerechter Gewichtung der statistischen Abweichungen ergibt sich jedoch ein differenziertes Bild. So wird z.B. im Quartal I/2009 die mit 1.060 Punkten (37,10 EUR) bewertete Leistung nach Nr. 16230 EBM (Zusatzpauschale kontinuierliche Mitbetreuung eines Patienten mit einer Erkrankung des zentralen Nervensystems und/oder des peripheren Nervensystems in der häuslichen und/oder familiären Umgebung) um 110,77 % überschritten und die mit 425 Punkten (14,88 EUR) bewertete Leistung nach Nr. 16232 EBM (Diagnostik und/oder Behandlung von Erkrankungen der Wirbelsäule bei Jugendlichen und Erwachsenen) um 40,84 % überschritten. Allein die mit 845 Punkten (29,58 EUR) bewertete Leistung nach Nr. 16233 EBM (Zusatzpauschale Mitbetreuung eines Patienten mit einer Erkrankung des zentralen Nervensystems und/oder des pe-ripheren Nervensystems in der häuslichen und/oder familiären Umgebung) wird mit 31,33 % unterschritten. In der Gesamtsumme dieses Kapitels "Diagnostische/Therapeutische Grundleistungen" liegt mit 248.060 Punkten aber eine deutliche Überschreitung gegenüber der Vergleichsgruppe (181.816,2 Punkte) vor.
Nicht anders verhält es sich bei den "arztgruppenübergreifenden speziellen Leistungen (ohne Kap. 31)". Die mit 190 Punkten (6,65 EUR) bewertete Leistung nach Nr. 30712 EBM (Anleitung des Patienten zur Selbstanwendung der trans-kutanen elektrischen Nervenstimulation - TENS) wird zwar um 34,01 % unterschritten, ist jedoch mit einem Volumen von 3.610 Punkten ohne nennenswerte Bedeutung für die Abrechnung. Demgegenüber wird die mit 1.900 Punkten (66,50 EUR) bewertete Leistung nach Nr. 30731 EBM (Plexusanalgesie, Spinal- oder Periduralanalgesie) um 46,46 % überschritten und stellt mit 267.900 Punkten fast ein Viertel der Gesamtleistungen von 1.156.040 Punkten dar.
Auf diese Gesichtspunkte kommt es jedoch nicht weiter an. Denn insofern handelt es sich um einen Vergleich mit der eigenen, engeren Fachgruppe der Neurochirurgen. Eine häufigere Erbringung fachgruppentypischer Leistungen rechtfertigt insoweit keine Erhöhung des RLV-Fallwertes.
Maßgeblich ist vorliegend jedoch, ob und inwieweit Abweichungen gegenüber der jeweiligen RLV-Arztgruppe bestehen, der die Klägerin zugeordnet ist. Das waren im Quartal I/2009 die "Fachärzte für Chirurgie, für Kinderchirurgie, für Plastische Chirurgie, für Herzchirurgie und für Neurochirurgie" und in den Quartalen II/2009 bis IV/2009 die "Fachärzte für Chirurgie, Kinder- und Neurochirurgie". Es wäre daher zu prüfen gewesen, ob gemessen an diesen RLV-Arztgruppen - die in ihrer Zusammensetzung vom Leistungsspektrum und daraus abgeleitet vom Fallwert her auf den ersten Blick eher heterogen wirken - ein besonderer Versorgungsauftrag oder eine besondere für die Versorgung bedeutsame Spezialisierung der Klägerin vorliegt. Insofern wären jeweils das Leistungsspek-trum und die durchschnittlichen Fallwerte auszuwerten und im Bescheid nach-vollziehbar darzustellen gewesen. Dann wäre in einem weiteren Schritt festzu-stellen gewesen, ob Praxisbesonderheiten, wenn deren Vorliegen zu bejahen sein sollte, zu einer Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30 % geführt haben. Dieser "durchschnittliche Fallwert der Arztgruppe" ist nicht identisch mit dem zugewiesenen RLV, wie auch die Formulierung in § 6 Abs. 3 HVV zum Ausdruck bringt. Die Überlegung der Klä-gerin, hierbei auf bereinigte IB-Fallwerte des jeweiligen Vorjahresquartals abzu-stellen, ist dabei ein durchaus sinnvoller Ansatz, eine Vergleichbarkeit mit dem RLV-System zu erreichen.
Die Beklagte wird daher über den Antrag der Klägerin neu zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).