· Interview
„Googlen war gestern ‒ jetzt ist die KI der bessere Doc!“
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| Digitale Technologien erobern das Gesundheitswesen. Doch nicht alle Niedergelassenen betrachten sie als Bereicherung. Dr. Alexandra Widmer möchte das ändern. Auf ihrer Plattform docsdigital ( docsdigital.de ) stellt die Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie digitale Tools vor, die nicht nur die Patientenversorgung verbessern, sondern auch einen Nutzen für Ärztinnen und Ärzte am Arbeitsplatz haben. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach mit ihr. |
Frage: Um aus den analogen Gewohnheiten auszubrechen und weitere digitale Technologien einzuführen, fehlen den sehr beanspruchten Hausarztpraxen oft die Ressourcen. Was empfehlen Sie, um sich für den Wandel zu begeistern?
Antwort: Praxisinhaber sollten nicht gleich den gesamten Praxisablauf umstellen, sondern mit einer kleinen, effektvollen Lösung anfangen. Die KI-Dokumentation während der Patientengespräche ist beispielsweise einfach und gleichzeitig sehr entlastend. Die KI hört mit, man schreibt nicht mehr. Auch KI-Assistenten, die Anrufe der Patienten entgegennehmen, funktionieren inzwischen phantastisch gut. Ich kenne Praxen, in denen es keine Telefone mehr gibt. Dort ist es sehr still. Wenn Telefonate geführt werden, dann aus dem Homeoffice. Andere Tools überprüfen automatisiert die Abrechnung. Irgendwann werden wir die Abrechnung durch den Menschen nicht mehr brauchen.
Frage: Was leisten diese Abrechnungs-Tools?
Antwort: Sie automatisieren Routineaufgaben, verbessern die Genauigkeit, sind schnell und effizient. Die Fehlerquote sinkt, weil sich menschliche Fehler bei Dateneingabe und -verarbeitung erübrigen. Da die gesetzlichen Richtlinien und Standards hinterlegt sind, kann die Praxis die Compliance einhalten. MFAs schätzen die einfache Handhabung. Ärzte und Patienten sind dankbar für die klare Übersicht über die Behandlungskosten. Die erwähnten KI-Assistenten, die ein Patientengespräch aufzeichnen, können in Zukunft auch Daten für die Abrechnung liefern.
Frage: Dennoch sind viele Praxisteams gegenüber digitalen Tools zurückhaltend. Was ließe sich ändern?
Antwort: Entscheidend ist, dass der Praxisinhaber von den digitalen Lösungen überzeugt ist. Wenn Arzt oder Ärztin vorangehen, folgt das Team. Wenn das Telefon nicht mehr dauernd klingelt, spürt das Team die Entlastung sofort und muss nicht weiter überzeugt werden. Auch für das Aufgabenmanagement eignen sich digitale Tools, es ist transparent und strukturiert. Post-its müssen nicht mehr am Bildschirm kleben, Zettel und Exceltabellen fallen weg.
Frage: Lassen Sie uns das am Beispiel des Dienstplans näher erläutern. Warum kann auf Papier verzichtet werden?
Antwort: Bei digitalen Dienstplänen werden die Mitarbeitenden mit ihrer Stundenzahl und Parametern wie Berufsschultagen und Urlaubszeiten hinterlegt. Außerdem werden die Rahmenbedingungen der Praxis gespeichert, etwa Öffnungs- und Laborzeiten. Das Programm legt die Kalender der Mitarbeitenden übereinander und macht einen Vorschlag für den Dienstplan. Es gleicht ab, wann wie viele Personen anwesend sind und zeigt automatisiert Lücken sowie Überkapazitäten auf. Wenn an einem Tag Personal fehlt, kann die Praxis früh reagieren.
Frage: Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) lassen aus dem Kommunikations-Duo aus Arzt und Patient ein Kommunikations-Trio werden. Das erfordert ein Umdenken. Wie lässt sich der dritte Player gut einführen?
Antwort: Jede DiGA ist ein neuer Therapiebaustein, ein digitales Medikament. Wie bei anderen Medikamenten auch, muss der Verordner den Inhalt erst einmal verstehen und prüfen, zu welcher Indikation er passt. DiGA lassen sich über einen Testzugang ausprobieren. Es gibt CME-Fortbildungen. Dann stellt sich die Frage, welche Patienten sich als erste anbieten. Sie sollten technikaffin sein. Dafür reicht es nicht, nur das Handy griffbereit zu haben. Die Patienten müssen digital so kompetent sein, dass die DiGA sie dabei unterstützt, Gesundheit und Lebensstil zu verbessern.
Frage: Eine häufig genannte Kritik ist, dass DiGA nicht evidenzbasiert seien.
Antwort: DiGA sind nicht mit Apps zu vergleichen, die man für 99 Cent aus dem Store herunterlädt und für die man mit seinen Daten bezahlt. Sie sind vom BfArM zugelassen. Ein weiterer Kritikpunkt sind die Kosten. Ärzte argumentieren, dass die Hersteller zu viel Geld bekommen. Doch ist eine DiGA bei Rückenschmerzen teils preiswerter als ein Physiotherapeut. Hinzu kommt der diagnostische und therapeutische Nutzen für die Praxis: Gesundheitskompetentere Patienten kommen seltener mit Lappalien zu mir. Sie können besser einschätzen, wann es notwendig ist, in die Praxis zu kommen. Ich persönlich führe deutlich tiefergehende Gespräche und muss nicht redundant immer wieder das Gleiche erzählen. Zudem ist es eine Frage der Zeit, wann die Daten aus den DiGA in die elektronische Patientenakte eingebunden werden.
Frage: Die digitale Entwicklung wird nie stillstehen. Wie kann ein Praxisinhaber sicherstellen, dass Investitionen in neue Technologie nicht bald veraltet sind?
Antwort: Technologie ist immer im Fluss. Damit können Ärzte, die sich gerne auf evidenzbasiertes Wissen verlassen, noch nicht gut umgehen. Doch muss sich niemand Sorgen machen. Viele digitale Lösungen sind cloudbasiert, Updates werden aus der Ferne aufgespielt. Gute Anbieter kommen in die Praxen, um das Personal zu schulen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Zeit für unsere Patienten haben, wenn wir die Digitalisierung klug nutzen.
Frage: Könnte KI die Ärzte irgendwann ersetzen?
Antwort: Googlen war gestern. Heute befragen Patienten die KI als den besseren Doc. KI wird die Ärzteschaft nicht ersetzen. Doch es wird so sein, dass die Ärzte, die KI nutzen, die Ärzte verdrängen, die keine digitalen Lösungen anwenden. Wir erleben derzeit einen revolutionären Wandel der ärztlichen Rolle, der die Medizin auf den Kopf stellt. Diese Entwicklung können wir mitgestalten. Wir müssen hybrid arbeiten und Patienten durch die digitale Anamnese besser vorsortieren. Die MFA wird nicht mehr am Telefon fragen, ob jemand einen Schnupfen hat. Stattdessen können Tools dabei unterstützen, Beschwerden vor dem Arztbesuch einzuordnen. Es kann nicht sein, dass jemand mit einem Schnupfen jemandem mit einer Diabeteskrise den Termin in der Praxis wegnimmt.
Weiterführender Hinweis
- Dr. Alexandra Widmer hat in Videocasts zahlreiche Kollegen zu digitalen Anwendungen interviewt, online verfügbar unter docsdigital.de/podcast-und-videocast