Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Autokauf

    Nutzungsentschädigung 2.0: neue Akzente beim Kilometergeld

    | Jetzt steht es endgültig fest: Auch sittenwidrig geschädigte Käufer können nicht zum Nulltarif fahren. Wenn sie den Kaufpreis zurück haben wollen, müssen sie sich für jeden Kilometer einen Nutzungsvorteil anrechnen lassen. Das hat der BGH im ersten VW-Diesel-Urteil entschieden. Doch wie ist der Nutzungsvorteil zu berechnen? Zum einen bei Klagen gegen den Fahrzeughersteller, zum anderen ‒ und an dieser Stelle interessanter ‒ bei Inanspruchnahme des Händlers aus kaufvertraglicher Gewährleistung? |

    Die Nutzungsentschädigung im „VW-Diesel-Urteil“ des BGH

    Von einem Freien Händler hatte der Kläger, ein Verbraucher, einen gebrauchten VW Sharan 2.0 TDI mit Motor EA 189 für 31.490 Euro gekauft. Kilometerstand bei Erwerb in 1/2014 20.000 km, im Zeitpunkt der gerichtlichen Abrechnung durch die Vorinstanz (OLG Koblenz) 72.229 km. Für die gefahrenen 52.229 km musste sich der Käufer im Prozess gegen den Hersteller, nicht etwa den Freien Händler, einen Nutzungsvorteil von 5.873,90 Euro anrechnen lassen. Berechnet wurde dieser Betrag nach der gängigen Formel, wobei als Gesamtlaufleistung des Sharan 300.000 km angesetzt wurden.

     

    Der Formelwert „erwartete Restlaufleistung“ betrug somit 280.000 km (300.000 km minus 20.000 km, die schon auf dem Tacho waren). Gegen diesen Berechnungsmodus haben die Richter in Karlsruhe keine prinzipiellen Bedenken (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, Abruf-Nr. 216005).

     

    Wichtig | Als Gesamtlaufleistung hätten sie auch 250.000 km durchgewunken, vielleicht auch 200.000 oder gar 350.000 km. Für sie ist entscheidend, ob die Schätzung, die der Richter an der Front nach seinem freien Ermessen vorgenommen hat, einigermaßen plausibel ist. Genau hier liegt eines der Hauptprobleme in der Praxis.

     

    Daraus folgt: Die vom BGH abgesegneten 300.000 km für einen VW Sharan 2.0 TDI sind zwar nicht in Stein gemeißelt. Doch mit dem BGH im Rücken werden sich die unteren Instanzen wohl bei dem Gesamtlaufleistungswert von 300.000 km für Diesel-Sharan einpendeln. Dies gilt auch bei vergleichbaren Dieselfahrzeugen aus der Kategorie Großraum-Van. Bei „normalen“ Diesel-Pkw wie etwa einem Tiguan oder Audi A4 geht die Entwicklung ebenfalls verstärkt in Richtung 250.000/300.000 km. Gleiches gilt ‒ und das ist wichtig ‒ in Rückabwicklungsfällen aus kaufvertraglicher Haftung, z. B. nach Rücktritt wegen Mangelhaftigkeit.

    Tendenz: Zeitabhängiger Nutzungsersatz

    Begründet werden die 300.000 km neuerdings von manchen Gerichten mit folgender Rechnung: 15 Jahre Lebenserwartung mal 20.000 km durchschnittliche Jahresfahrleistung (so OLG Köln, Urteil vom 02.04.2020, Az. 18 U 60/19, Abruf-Nr. 216090 ‒ VW Touran mit Dieselmotor EA 189). Für einen Seat Altea mit 2.0 Dieselmotor EA 189 haben die Kölner Oberrichter 250.000 km (12,5 Jahre mal 20.000 km) veranschlagt (OLG Köln, Urteil vom 24.03.2020, Az. 4 U 235/19, Abruf-Nr. 216091).

     

    So einfach geht es gewiss nicht. Schon die 20.000 km als durchschnittliche Jahresfahrleistung sind für Diesel Pkw im Privatbesitz zu hoch gegriffen, auch vor dem Rückgang der Fahrleistung durch Corona (25 Prozent im April 2020). Nur wenn man sämtliche Diesel Pkw, also auch gewerblich genutzte, ins Kalkül zieht, kommt man auf rund 20.000 km pro Jahr (DAT-Report 2019, Seite 12). Für Benziner (alle Nutzungsarten): 12.170 km.

     

    Keine Frage: Für den Handel deutlich vorteilhafter wären Ansätze von 200.000 oder 250.000 km. Auch diese Werte sind realistisch und von den Gerichten der unteren Instanzen x-mal gegriffen worden (siehe „Modellübersicht zur Gesamtlaufleistung von Fahrzeugen“ auf asr.iww.de → Abruf-Nr. 42248706).

     

    Die früher üblichen 150.000 km sind heute allenfalls noch bei Kleinstwagen ein Thema. Mehr als ein Schönheitsfehler ist, dass all diese richterlichen Schätzungen mehr oder weniger frei in der Luft hängen. Nur ganz selten ziehen die Gerichte einen Sachverständigen zu Rate, so wie im BMW-Fall OLG Düsseldorf (Urteil vom 22.08.2019, Az. 3 U 44/18, Abruf-Nr. 215112 ‒ 300.000 km!).

    Zeitabhängiger Mindestnutzungsersatz für Wenigfahrer?

    Je mehr der Käufer mit seinem Fahrzeug gefahren ist, desto größer ist sein Nutzungsvorteil, desto höher der Abzug vom Kaufpreis. Heißt das umgekehrt: Wer wenig fährt, muss sich wenig anrechnen lassen? Ja, so sehen es die meisten Gerichte.

     

    Wichtig | Doch es gibt auch eine alternative Sichtweise. Und sie ist für Händler in ihrer Eigenschaft als Verkäufer hoch interessant. Zeitabhängiger Mindestnutzungsersatz lautet das Schlüsselwort für die Korrektur der üblichen Formel des linearen Wertschwundes auf Km-Basis.

     

    Wie das funktioniert, zeigt beispielshaft ein Urteil des OLG Koblenz (Urteil vom 27.04.2020, Az. 12 U 1052/19, Abruf-Nr. 216092): Kauf eines neuen Skoda Octavia mit Dieselmotor EA 189 in 2011. Kaufpreis 21.415 Euro. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem OLG am 16.03.2020 hatte der Wagen 77.858 km auf dem Tacho. Bei einer vom Gericht angenommenen Gesamtlaufleistung von 250.000 km hätte sich eine Nutzungsentschädigung von 6.669,31 Euro ergeben (21.415 Euro x 77.858 km: 250.000 km). Vom Kaufpreis abgezogen haben die Richter jedoch 8.865,81 Euro.

     

    Begründung in Kurzfassung: Vor allem bei Fahrzeugen mit einer besonders niedrigen Jahreslaufleistung müsse das Ergebnis der normalen Berechnung (übliche Formel auf Km-Basis) korrigiert werden. Bereits der Möglichkeit als solcher, ein Fahrzeug nutzen zu können, komme ein materiell bemessbarer Wert zu. So habe sich auch ein Erwerber, der das Fahrzeug (fast) gar nicht nutze, jedenfalls die Möglichkeit erkauft, im Bedarfsfall jederzeit auf ein eigenes Fahrzeug zurückgreifen zu können.

     

    Den Wert, der dem „Vorhalten“ eines Fahrzeugs zukommt, schätzt das OLG Koblenz gemäß § 287 ZPO auf fünf Prozent des ursprünglichen (Brutto-)Kaufpreises pro Jahr. Schöpfe ein Erwerber diese Nutzungsmöglichkeit nicht aus, indem er das Fahrzeug so wenig fährt, dass sich bei der Berechnung des Nutzungsersatzes auf Kilometerbasis ein Betrag ergibt, der unter dem Betrag liegt, der sich ergeben würde, wenn man pro Jahr, in dem das Fahrzeug zur Verfügung stand, einen Betrag von fünf Prozent des ursprünglichen Kaufpreises in Ansatz bringen würde, ist dieser letztgenannte Betrag als Mindestnutzungsersatz abzuziehen, so wörtlich das OLG Koblenz.

     

    Klingt kompliziert, ist aber vergleichsweise einfach. Auf Zeitbasis (acht Jahre, drei Monate und elf Tage) berechnet, ergab sich im konkreten Fall ein Betrag von 8.865,81 Euro (21.415 x 41,4 Prozent = 8.865,81). Immerhin rund 2.000 Euro mehr als bei normaler Berechnung.

     

    PRAXISTIPP | Diese Differenz bewirkt für beklagte Hersteller bzw. Händler zusätzliche positive Effekte:

    • Eventuell kein Annahmeverzug wegen Zuvielforderung des Käufers
    • Verzinsung nur des niedrigeren Betrags
    • Vorgerichtliche Anwaltskosten nur nach dem niedrigeren Gegenstandswert
    • Günstigere Verteilung der Gerichts- und der gerichtlichen Anwaltskosten
     

    Abzuwarten bleibt, ob sich die alternative Berechnung auf Zeitbasis durchsetzen wird. Entwickelt hat sie das OLG Koblenz in Dieselverfahren gegen Hersteller. Gegenbeispiel bei einem Vielfahrer (23.000 km pro Jahr mit einem Audi A3 2.0 TDI): OLG Koblenz, Urteil vom 16.12.2019, Az. 12 U 583/19, Abruf-Nr. 216093.

     

    Wegen unterdurchschnittlicher Fahrstrecke hat auch das OLG Schleswig auf der Zeitschiene abgerechnet. Und dies in einem Rückabwicklungsfall nach Kaufrecht. In rund 2,5 Jahren war die Käuferin nur 10.994 km mit ihrem neuen Golf gefahren. Den Nutzungsvorteil hat das Gericht unabhängig von den gefahrenen Kilometern pauschal mit 12,5 Prozent des Neupreises berechnet (OLG Schleswig, Urteil vom 12.02.2016, Az. 17 U 66/15, Abruf-Nr. 185710). Das entspricht im Ergebnis exakt der Fünf-Prozent-Methode des OLG Koblenz.

     

    PRAXISTIPPS |

    • Kfz-Händler und ihre Anwälte sollten diesen „zeitabhängigen Mindestnutzungsersatz“ ins Spiel bringen, wenn Kunden, z. B. Rentner, Hausfrauen, Zweitwagenbesitzer, mit ihrer Fahrleistung deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Belastbare Zahlen liefert das KBA. Die juristisch ohnehin fragile Gleichung „Fahren-Können = Nutzung“ wird nicht aufgehen, wenn der Käufer sein Fahrzeug offiziell abgemeldet hat. Bloßes Stehen in der Garage ohne jederzeitige Verfügbarkeit bringt dem Händler also nichts.
    • Sollten Sie als Kfz-Händler auf Rückabwicklung des Kaufs in Anspruch genommen werden: Informieren Sie sich, wie die Nutzungsentschädigung nach der aktuellen Rechtsprechung berechnet wird vor allem anhand der ASR-Sonderausgabe „Rücktritt vom Kfz-Kauf: So holen Sie bei der Nutzungsentschädigung das Optimum heraus!“ → Abruf-Nr. 45505750.
     
    Quelle: Ausgabe 07 / 2020 | Seite 13 | ID 46637532