15.03.2022 · IWW-Abrufnummer 228044
Finanzgericht Münster: Urteil vom 27.01.2022 – 1 K 1741/18 E
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster
Tenor:
Die Einkommensteueränderungsbescheide 2012 bis 2016 jeweils vom 04.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.05.2018 werden dahingehend geändert, dass weitere Werbungskosten für AfA in Höhe von 1.112 EUR (2012), 1.163 EUR (2013) und jeweils 1.180 EUR (2014-2016) berücksichtigt werden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer wird dem Beklagten übertragen.
Der Beklagte trägt zu 70 v.H. und der Kläger zu 30 v.H. die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d
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Streitig ist, in welcher Höhe der Kläger in den Streitzeiträumen 2012 bis 2016 Absetzungen für Abnutzung (AfA) für eine von ihm vermietete Immobilie geltend machen kann, ob die AfA-Bemessungsgrundlage ab dem Streitzeitraum 2014 um 520,50 EUR zu erhöhen ist […].
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Der Kläger wurde in den Streitjahren einzeln zur Einkommensteuer veranlagt und erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit […] und aus Vermietung und Verpachtung der Immobilie A-Straße 1 in X (Baujahr 1955), welche er im Jahr 2011 im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens erworben hatte. Es handelt sich um ein freistehendes Dreifamilienhaus (EG: 95 qm, OG: 85 qm und DG: 67 qm). Auf dem Grundstück befinden sich darüber hinaus ein Nebengebäude, welches früher als Schneiderei genutzt wurde und jetzt von dem Kläger selbstgenutzt wird sowie zwei Garagen. Wegen des zum damaligen Zeitpunkt anstehenden Eigentümerwechsels wurde für das Grundstück im Auftrag des Amtsgerichts S auf den 17.05.2010 vom öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für Grundstücksbewertung SV, D, ein Wertgutachten erstellt. Demnach bestand das Wohnhaus im Wesentlichen noch in dem Zustand des Erbauens. Die Wohnung im EG sei 2007 umfangreich renoviert worden, die Wohnungen im OG und DG seien noch im ursprünglichen Zustand. Der Gutachter ging wegen „Modernisierung und Zustand am Stichtag“ (fiktiv) von einem Baujahr 1960 aus. Die Gesamtnutzungsdauer des Wohngebäudes gab er mit 80 Jahren an, die Restnutzungsdauer mit 30 Jahren. Die Wohnungen im OG und DG entsprächen noch der Ausstattung von 1955 und nicht den Wohnansprüchen zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung. Insgesamt wären erhebliche Instandsetzungsarbeiten bis zur Kernsanierung mit Erneuerung und Ergänzung der gesamten Installation vom KG bis zum DG sowie an Fassade und dem Dach erforderlich, um eine nachhaltige Nutzung mit modernem Wohnraum zu schaffen. Der Sachverständige ermittelte einen Wert für das bebaute Grundstück in Höhe von 230.000 EUR. Hierfür führte er eine Ertragswertermittlung und eine Vergleichswertermittlung nach der auf den Stichtag der Bewertung der streitigen Immobilie geltenden Wertermittlungsverordnung vom 06.12.1988, BGBl. I 1988, 2209 (WertV) durch (S. 31 ff. des Wertgutachtens). Wegen der Einzelheiten wird auf das Wertgutachten von Herrn SV vom 12.07.2010 ergänzend Bezug genommen (Bl. 126-166 der Gerichtsakte).
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Der Kläger machte in seinen Einkommensteuererklärungen u.a. bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung für die Streitjahre 2012 bis 2016 eine erhöhte AfA von 3,33 % der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten statt der gesetzlich vorgesehenen 2 % geltend. Er beantragte daher AfA-Beträge in Höhe von 2.777 EUR (2012), 2.907 EUR (2013) und jeweils 2.923,34 EUR (2014-2016).
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Den Erhöhungen der AfA-Bemessungsgrundlage lagen anschaffungsnahe Herstellungskosten zugrunde, von denen für das Streitjahr 2014 noch 520,50 EUR streitig sind. Die 520,50 EUR entfielen auf eine Maßnahme zur Isolierung des Dachbodens. […]
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Der Beklagte berücksichtigte die geltend gemachten Aufwendungen bei den Steuerfestsetzungen des Klägers nicht. Er erließ am 11.05.2017 Einkommensteuerbescheide für 2012 bis 2015 und am 23.08.2017 einen Einkommensteuerbescheid 2016. Bei den Einkommensteuerbescheiden 2014 und 2015 handelte es sich zunächst um Schätzungsbescheide, weil der Kläger die Steuererklärungen nicht abgegeben hatte. Nach Abgabe der Steuererklärungen für 2014 und 2015 erließ der Beklagte am 17.08.2017 für diese beiden Jahre ESt-Änderungsbescheide, wobei die o.g. streitigen Aufwendungen nicht berücksichtigt wurden.
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Mit Schreiben vom 24.05.2017 legte der Kläger gegen die Einkommensteuerbescheide 2012 bis 2015 und mit Schreiben vom 16.09.2017 gegen den Einkommensteuerbescheid 2016 Einsprüche ein, welche er wie folgte begründete:
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1. AfA vermietete Immobilie10
Das Objekt A-Straße 1 in X sei Baujahr 1955. Die wirtschaftliche Gesamtnutzungsdauer eines Mehrfamilien-Mietwohngebäudes liege bei durchschnittlich 60-85 Jahren. Bei Übernahme des Objektes habe sich jedoch herausgestellt, dass die Wohnung im 2. OG habe saniert werden müssen. Bei der Sanierung seien anschaffungsnahe Aufwendungen in Höhe von 32.279,73 EUR angefallen. Auch die bis April 2014 langfristig vermietete Wohnung im OG sei sanierungsbedürftig gewesen. Ursächlich für die von ihm durchgeführten Sanierungsmaßnahmen seien Mängel hinsichtlich des Wärmeschutzes gewesen. Hierdurch hätten sich Feuchtigkeit und Schimmel gebildet. Im April 2015 sei deshalb in der EG-Wohnung entlang der Fußleisten eine Ringheizung verlegt worden. In der DG-Wohnung sei im März 2017 in einem der betroffenen Räume eine Begleitheizung entlang der Fußleiste verlegt worden. Im Januar 2012 seien die alten Fenster durch Fenster mit 3-facher ISO-Wärmeschutzverglasung ausgetauscht worden. Darüber hinaus seien vier Wärmeschutz-Dachfenster der Firma VELUX verbaut worden. In der Wohnung im OG seien im Oktober Fenster mit 3-facher ISO-Wärmeschutzverglasung eingesetzt worden. Das Treppenhaus und die Haustür verfügten noch nicht über einen ausreichenden Wärmeschutz. Das Dach und der Dachboden seien im Frühjahr 2014 komplett isoliert worden inklusive neuer wärmeisolierender Dachfenster. Auch der Balkon im OG sei komplett erneuert worden, weil er marode gewesen sei. Darüber hinaus seien auch die Heizungsanlagen, die Elektroversorgung und die sanitären Anlagen im DG und im OG in den Jahren 2012 und 2014 komplett erneuert worden. Schließlich habe es im Juli 2014 im Waschkeller einen Wasserrohrbruch und im März 2017 im Heizungskeller einen Bruch der Abflussrohre gegeben. Die Grundleitung vom Haus in die städtische Kanalisation sei im Jahr 2017 mehrfach verstopft gewesen.
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Diese Umstände deuteten darauf hin, dass die Immobilie vor Ablauf der Abschreibungsfrist wirtschaftlich verbraucht sein würde, so dass man im Rahmen der Schätzung von einer tatsächlichen Nutzungsdauer von 30 Jahren ausgehen könne. Dies rechtfertige es, einen AfA-Satz von 3,33 % anzuwenden. Die zu schätzende Nutzungsdauer werde bestimmt durch den technischen Verschleiß einer Immobilie, die wirtschaftliche Entwertung sowie rechtliche Gegebenheiten, welche die Nutzungsdauer eines Gegenstands begrenzen könnten. Demgegenüber würde eine AfA in Höhe von 2 % bedeuten, dass die volle Absetzung erst 2061 erreicht werde. Dann würde die wirtschaftliche Gesamtnutzungsdauer bei 106 Jahren liegen, weit über der durchschnittlichen wirtschaftlichen Gesamtnutzungsdauer von ca. 60-80 Jahren. Bei der Bemessung der AfA seien ab dem Streitjahr 2014 weitere Herstellungskosten in Höhe von 520,50 EUR zu berücksichtigen.
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2. […]14
[…]
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Am 04.05.2018 erließ der Beklagte für sämtliche Streitzeiträume aus hier nicht streitigen Gründen Änderungsbescheide. Er berücksichtigte für die streitige Immobilie weiterhin AfA-Beträge in Höhe von 2 % der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten. Diese betragen:
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2012: 1.665,68 EUR,
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2013: 1.744,00 EUR,
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2014: 1.744,00 EUR,
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2015: 1.744,00 EUR und
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2016: 1.744 EUR.
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[…]
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Mit Einspruchsentscheidung vom 04.05.2018 wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück.
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Im Rahmen der hiergegen am 02.06.2018 erhobenen Klage hat der Kläger das (Wert-) Gutachten des SV vom 12.07.2010 eingereicht. Nach Auffassung des Klägers diene das Gutachten als Ergänzung zu den Nachweisen einer anderen als der typischen Nutzungsdauer.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Einkommensteueränderungsbescheide 2012 bis 2016 jeweils vom 04.05.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.05.2018 dahingehend zu ändern, dass weitere Werbungskosten für AfA in Höhe von 1.112 EUR (2012), 1.163 EUR (2013) und jeweils 1.180 EUR (2014-2016) […] berücksichtigt werden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat im schriftlichen Verfahren (Schriftsatz vom 27.10.2021) erklärt, dass eine Erhöhung der AfA-Bemessungsgrundlage für die streitige Immobilie um 520,50 EUR nicht beanstandet werde.
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Hinsichtlich des Abschreibungszeitraums vertritt der Beklagte die Auffassung, aus dem eingereichten Wertgutachten ergäben sich keine Erkenntnisse, die eine Restnutzungsdauer von 30 Jahren statt der gesetzlich vorgeschriebenen 50 Jahre begründeten. Das Gutachten belege weder eine kürzere technische Nutzungsdauer (z.B. durch Darlegung eines materiellen Verschleißes der Rohbauelemente) noch eine kürzere wirtschaftliche Nutzungsdauer im steuerrechtlichen Sinne. Die Ermittlung der Restnutzungsdauer sei nach den Grundsätzen der Immobilienverordnung und der Sachwertrichtlinie erfolgt und sei auf den Begriff der Restnutzungsdauer im steuerrechtlichen Sinne gem. § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht übertragbar. Die in einem Wertgutachten angesetzte Restnutzungsdauer sei in der Regel als Grundlage für den steuerlich relevanten Abschreibungszeitraum nicht geeignet, da es nicht im Zusammenhang mit der gesetzlichen Typisierung der AfA-Regelung stehe. Eine mit wirtschaftlicher Abnutzung begründete kürzere Nutzungsdauer der AfA könne nur angenommen werden, wenn das Wirtschaftsgut vor Ablauf der technischen Nutzungsdauer objektiv wirtschaftlich verbraucht sei. Ein Hinweis auf einen nicht mehr zeitgemäßen Wohnstandard reiche nicht aus. Vielmehr sei es erforderlich, dass das Gebäude durch technischen Verschleiß der tragenden Teile in seiner Gesamtheit in seiner Nutzungsfähigkeit beeinträchtigt sei.
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[…]
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die Verfahrensakte Bezug genommen.
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Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
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Die Klage ist begründet, soweit die AfA-Bemessungsgrundlage ab dem Streitjahr 2014 um 520,50 EUR zu erhöhen und für die Streitjahre ein erhöhter AfA-Betrag von 3,33 % zu berücksichtigen ist. […]
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1. Erhöhte AfA-Bemessungsgrundlage
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Im Streitfall führten Aufwendungen für die Sanierung des OG, des DG und des Daches unstreitig zu nachträglichen Herstellungskosten (anschaffungsnaher Aufwand). Die in diesem Zusammenhang im Streitjahr 2014 angefallenen 520,50 EUR für eine Baumaßnahme zur Isolierung des Dachbodens teilen das Schicksal der übrigen Aufwendungen. Der Beklagte hat sich insofern dem Vortrag des Klägers angeschlossen. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat von weiteren Ausführen hierzu ab.
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2. Erhöhter AfA-Satz41
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist auch ein erhöhter AfA-Satz von 3,33 % anzusetzen.
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Bei Wirtschaftsgütern, deren Verwendung oder Nutzung durch den Steuerpflichtigen zur Erzielung von Einkünften sich erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt, ist jeweils für ein Jahr der Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten abzusetzen, der bei gleichmäßiger Verteilung dieser Kosten auf die Gesamtdauer der Verwendung oder Nutzung auf ein Jahr entfällt (AfA in gleichen Jahresbeträgen, § 7 Abs. 1 Satz 1 EStG); die Absetzung bemisst sich hierbei nach der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts (§ 7 Abs. 1 Satz 2 EStG). Abweichend hiervon bestimmt sich die AfA für ein zur Einkünfteerzielung genutztes Gebäude nach den festen Prozentsätzen des § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG. Die Regelung stellt eine gesetzliche Typisierung der Nutzungsdauer i.S. von § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG dar.
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Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG können anstelle der Absetzungen nach § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG die der tatsächlichen kürzeren Nutzungsdauer eines Gebäudes entsprechenden AfA vorgenommen werden. Nutzungsdauer i.S. von § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG ist gemäß § 11c Abs. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) der Zeitraum, in dem ein Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann. Die zu schätzende Nutzungsdauer wird bestimmt durch den technischen Verschleiß, die wirtschaftliche Entwertung sowie rechtliche Gegebenheiten, welche die Nutzungsdauer eines Gegenstands begrenzen können. Auszugehen ist von der technischen Nutzungsdauer, also dem Zeitraum, in dem sich das Wirtschaftsgut technisch abnutzt. Sofern die wirtschaftliche Nutzungsdauer kürzer als die technische Nutzungsdauer ist, kann sich der Steuerpflichtige hierauf berufen. Ob den Abschreibungen für Abnutzung eine die gesetzlich vorgesehenen, typisierten Zeiträume unterschreitende verkürzte Nutzungsdauer i.S. des § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG zugrunde gelegt werden kann, beurteilt sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls (vgl. BFH-Urteil vom 04.03.2008 IX R 16/07, BFH/NV 2008, 1310).
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Es ist Sache des Steuerpflichtigen, im Einzelfall eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer darzulegen und gegebenenfalls nachzuweisen (vgl. BFH-Urteil vom 28.07.2021 IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108). Der Steuerpflichtige kann sich zur Darlegung der verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer eines zur Einkünfteerzielung genutzten Gebäudes jeder Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheint; erforderlich ist insoweit, dass die Darlegungen des Steuerpflichtigen Aufschluss über die maßgeblichen Determinanten, z.B. technischer Verschleiß, wirtschaftliche Entwertung, rechtliche Nutzungsbeschränkungen geben, welche die Nutzungsdauer im Einzelfall beeinflussen, und auf deren Grundlage der Zeitraum, in dem das maßgebliche Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann (§ 11c Abs. 1 EStDV), im Wege der Schätzung mit hinreichender Bestimmtheit zu ermitteln ist.
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Die Bestimmung des § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG räumt dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht ein (Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach, § 7 EStG Anm. 307), ob er sich mit dem typisierten AfA-Satz nach § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG zufrieden gibt oder eine tatsächlich kürzere Nutzungsdauer geltend macht und darlegt. Auszugehen ist im Rahmen der vom Finanzamt durchzuführenden Amtsermittlung von der Schätzung des Steuerpflichtigen, solange dieser Erwägungen zugrunde liegen, wie sie ein vernünftig wirtschaftender Steuerpflichtiger üblicherweise anstellt (vgl. BFH-Urteil vom 28.07.2021 IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108). Da im Rahmen der Schätzung des Steuerpflichtigen nicht Gewissheit über die kürzere tatsächliche Nutzungsdauer, sondern allenfalls größtmögliche Wahrscheinlichkeit verlangt werden kann, ist sie nur dann zu verwerfen, wenn sie eindeutig außerhalb des angemessenen Schätzungsrahmens liegt (vgl. BFH-Urteil vom 28.09.1971 VIII R 73/68, BStBl. II 1972, 176; FG Köln, Urteil vom 23.01.2001 8 K 6294/95, EFG 2001, 675).
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Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Vorlage eines Bausubstanzgutachtens seitens des Klägers nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer. Wählt ein Steuerpflichtiger oder ein beauftragter Sachverständiger aus nachvollziehbaren Gründen eine andere Nachweismethode, kann diese Grundlage für eine Schätzung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer sein. Da im Rahmen der Schätzung nur die größtmögliche Wahrscheinlichkeit über eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer verlangt werden kann, würde eine Verengung der Gutachtenmethodik oder eine Festlegung auf ein bestimmtes Ermittlungsverfahren die Anforderungen an die Feststellungslast übersteigen (vgl. BFH-Urteil vom 28.07.2021 IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108).
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Im Streitfall hat der Kläger ein Wertgutachten des öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen SV vorgelegt, welches vom Amtsgericht S in Auftrag gegeben wurde, also kein Parteigutachten darstellt. Der Gutachter kommt zu dem Ergebnis, dass die Restnutzungsdauer des Hauses 30 Jahre beträgt. Hierbei hat er wegen „Modernisierung und Zustand“ als fiktives Baujahr 1960 angegeben, obwohl das Gebäude im Jahr 1955 errichtet wurde. Nach seiner Einschätzung bzw. der Einschätzung der Eigentümerin entsprachen sowohl die Wohnung im OG als auch die im DG der Ausstattung von 1955. Dies wurde faktisch dadurch bestätigt, dass in den nach Anschaffung folgenden Jahren umfangreiche Sanierungsarbeiten durchgeführt wurden, welche als anschaffungsnahe Herstellungskosten in die AfA-Bemessungsgrundlage eingeflossen sind. In seine Wertermittlung für das streitige Gebäude musste der Gutachter das Alter und die Restnutzungsdauer des Gebäudes einbeziehen (Wertminderung wegen Alters). Nach der auf den Stichtag der Bewertung der streitigen Immobilie (17.05.2010) geltenden WertV bestimmt sich eine Wertminderung wegen Alters nach dem Verhältnis der Restnutzungsdauer zur Gesamtnutzungsdauer der baulichen Anlage; sie ist in einem Vomhundertsatz des Herstellungswerts auszudrücken (§ 23 Abs. 1 Satz 1 WertV). Ist die bei ordnungsgemäßem Gebrauch übliche Gesamtnutzungsdauer der baulichen Anlagen durch Instandsetzungen oder Modernisierungen verlängert worden oder haben unterlassene Instandhaltung oder andere Gegebenheiten zu einer Verkürzung der Restnutzungsdauer geführt, soll der Bestimmung der Wertminderung wegen Alters die geänderte Restnutzungsdauer und die für die baulichen Anlagen übliche Gesamtnutzungsdauer zugrunde gelegt werden (§ 23 Abs. 2 WertV).
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Nach Auffassung des erkennenden Senats hat der Sachverständige SV auf Grund sachlicher Kriterien eine (gegenüber § 7 Abs. 4 Satz 1 EStG abweichende) Restnutzungsdauer von 30 Jahren zu Grunde gelegt. Unter anderem hat er festgestellt, dass erhebliche Instandsetzungsarbeiten bis zur Kernsanierung mit Erneuerung und Ergänzung der gesamten Installation vom KG bis zum DG sowie an Fassade und dem Dach erforderlich waren, um eine nachhaltige Nutzung mit modernem Wohnraum zu schaffen. Der Senat folgt den fundierten Ausführungen des Gutachters und kann feststellen, dass die tatsächliche Nutzungsdauer der streitigen Immobilie zum Zeitpunkt der Anschaffung auf 30 Jahre verkürzt war. Wie in dem vom BFH entschiedenen Verfahren (BFH-Urteil vom 28.07.2021 IX R 25/19, BFH/NV 2022, 108) hat der Gutachter eine modellhafte Ermittlung der Restnutzungsdauer durchgeführt. Während der Gutachter in dem BFH-Fall das Modell gemäß Anlage 4 der Sachwertrichtlinie (SW-RL) vom 05.09.2012 angewandt hat, hat der Gutachter im Streitfall sowohl eine Ertragswertermittlung als auch eine Vergleichswertermittlung nach der WertV durchgeführt (S. 31 ff. des Wertgutachtens). Wie in dem BFH-Fall erfolgte neben der modellhaften Berechnung eine Inaugenscheinnahme des Gebäudes, um die Bauweise und etwaige ausstehende Modernisierungs- bzw. Sanierungsarbeiten beurteilen zu können. Der festgestellte Modernisierungsstau führte im Streitfall zu der ‒ für das Gericht nachvollziehbaren ‒ Einschätzung des Gutachters, dass von einer Restnutzungsdauer von 30 Jahren auszugehen sei. Dieses Ergebnis liegt jedenfalls nicht (erheblich) außerhalb des zulässigen Schätzungsrahmens. Nach alledem war ein jährlicher AfA-Satz i.H.v. 3,33 % zugrunde zu legen. Es ergibt sich eine AfA i.H.v. 2.777 EUR (2012), 2.907 EUR (2013) sowie 2.923,34 EUR (2014-2016).
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3. […]51
[…]
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Die Übertragung der Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer auf den Beklagten beruht auf § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.