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  • 14.11.2002 · IWW-Abrufnummer 021603

    Bundesfinanzhof: Urteil vom 19.08.2002 – VIII R 30/01

    Für die zukünftigen Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen, zu der das Unternehmen gemäß § 257 HGB und § 147 AO 1977 verpflichtet ist, ist im Jahresabschluss eine Rückstellung zu bilden.


    Gründe:

    I.

    Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Bildung einer Rückstellung für künftigen Aufwand, der der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) aus der gesetzlichen Verpflichtung zur Aufbewahrung von Unterlagen, insbesondere Handelsbüchern, Handelsbriefen, Buchungsbelegen und Jahresabschlüssen, gemäß § 257 des Handelsgesetzbuches (HGB) entsteht.

    Die Klägerin betreibt in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG ein ...-Unternehmen.

    Sie beliefert jeden ihrer Kunden in der Regel von montags bis freitags einmal täglich. Bei jeder Auslieferung fallen Ausgangsrechnungen und Lieferscheine an, die elektronisch gespeichert werden. Frachtpapiere, manuell erstellte Rechnungen für besondere Waren und Leistungen, Eingangsrechnungen, Personalunterlagen, Verträge mit Kunden, Unterlagen über Reklamationen, Buchungsunterlagen, Bankauszüge und Schriftverkehr werden urschriftlich aufbewahrt. Insgesamt fallen damit jährlich ca. 240 Ordner mit Unterlagen der Finanzbuchhaltung, 10 Kisten (40 x 30 x 35 cm) mit Bank- und Kassenbelegen sowie 70 Ordner mit Personalunterlagen an.

    Die Klägerin betreibt ihr Unternehmen in gemieteten Räumen in X. In den Räumen befindet sich u.a. ein Archiv, das zur Lagerung der aufbewahrungspflichtigen Unterlagen genutzt wird.

    Erstmals zum 31. Dezember 1993 setzte die Klägerin sowohl in der Handelsbilanz als auch in der Steuerbilanz eine Rückstellung für die mit der Aufbewahrung der Finanz- und Personalunterlagen sowie der Bank- und Kassenbelege verbundenen Kosten an. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erkannte diese Rückstellung nach einer Außenprüfung für die Jahre 1991 bis 1995 nicht an und stellte in dem angefochtenen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen den Gewinn der Klägerin entsprechend um ... DM höher fest.

    Mit ihrer Klage vor dem Finanzgericht (FG) begehrte die Klägerin nur noch die Anerkennung einer Rückstellung in Höhe von ... DM. Sie war der Auffassung, dass die Rückstellung gemäß § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB zu Recht gebildet worden sei.

    Das FA vertrat demgegenüber die Auffassung, dass die Aufbewahrungspflicht gemäß § 257 HGB, § 147 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht sanktionsbewehrt sei. Die vorzeitige Vernichtung von Unterlagen sei für sich genommen weder strafbar noch als Ordnungswidrigkeit mit einer Sanktion bedroht.

    Das FG wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1357 veröffentlichten Gründen ab.

    Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Gewinn aus Gewerbebetrieb für 1993 unter Berücksichtigung einer weiteren Rückstellung in Höhe von ... DM und entsprechender Minderung der Gewerbesteuerrückstellung festzustellen.

    Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

    II.

    Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

    1. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind in der Handelsbilanz für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Da diese Verpflichtung zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung gehört, gilt sie auch für die Steuerbilanz (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG; vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Oktober 1993 VIII R 14/92, BFHE 172, 456, 457, BStBl II 1993, 891, 892; vom 18. Januar 1995 I R 44/94, BFHE 177, 61, 63, BStBl II 1995, 742, 743; vom 28. Mai 1997 VIII R 59/95, BFH/NV 1998, 22; vom 13. Mai 1998 VIII R 58/96, BFH/NV 1999, 27, 28).

    a) Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH das Bestehen einer dem Betrage nach ungewissen Verbindlichkeit oder die hinreichende Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Verbindlichkeit dem Grunde nach --deren Höhe zudem ungewiss sein kann-- und ihre wirtschaftliche Verursachung in der Zeit vor dem Bilanzstichtag. Zudem ist erforderlich, dass der Schuldner ernsthaft mit der Inanspruchnahme rechnen muss (BFH-Urteil vom 8. November 2000 I R 6/96, BFHE 193, 399, 400, BStBl II 2001, 570).

    b) Auch für Verpflichtungen, die sich aus öffentlichem Recht ergeben (Geld- oder Sachleistungsverpflichtungen), können Rückstellungen gebildet werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die öffentlich-rechtliche Verpflichtung hinreichend konkretisiert ist (BFH-Urteile vom 12. Dezember 1991 IV R 28/91, BFHE 167, 334, 337, BStBl II 1992, 600, 601; vom 25. März 1992 I R 69/91, BFHE 168, 527, 529, BStBl II 1992, 1010, 1011; in BFHE 193, 399, 400, BStBl II 2001, 570, jeweils m.w.N.). Die Verpflichtung muss auf ein bestimmtes Handeln innerhalb eines bestimmten Zeitraums zielen (BFH-Urteile vom 26. Oktober 1977 I R 148/75, BFHE 123, 547, 550, BStBl II 1978, 97, 99; vom 20. März 1980 IV R 89/79, BFHE 130, 165, 166, BStBl II 1980, 297, 298; vom 3. Mai 1983 VIII R 100/81, BFHE 138, 443, 449, BStBl II 1983, 572, 575; vom 19. Mai 1983 IV R 205/79, BFHE 139, 41, 43, BStBl II 1983, 670, 671; in BFHE 193, 399, 400, BStBl II 2001, 570). Dabei kann auch eine Verpflichtung, die sich allein aus gesetzlichen Bestimmungen ergibt, zur Bildung einer Rückstellung führen. Dies setzt allerdings einen entsprechend konkreten Gesetzesbefehl voraus (BFH-Urteil in BFHE 193, 399, 400, BStBl II 2001, 570). Zudem ist für die Rückstellung erforderlich, dass an ihre Verletzung Sanktionen geknüpft sind, so dass sich "der Steuerpflichtige der Erfüllung der Verpflichtung im Ergebnis nicht entziehen kann" (BFH-Urteil in BFHE 193, 399, 400, BStBl II 2001, 570, m.w.N.).

    2. Die Verpflichtung, die in § 257 HGB und § 147 AO 1977 genannten Geschäftsunterlagen sechs bzw. zehn Jahre lang aufzubewahren, ist eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung, die zur Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten berechtigt.

    a) Die Verpflichtung ist bereits im Streitjahr wirtschaftlich verursacht. Dabei kann dahinstehen, ob sie rechtlich erst im folgenden Wirtschaftsjahr oder schon mit Ablauf des Streitjahres entstanden ist. Wirtschaftliche Verursachung oder wirtschaftliche Entstehung im Sinne des Rückstellungsbegriffs setzen voraus, dass der Tatbestand, an den das Gesetz die Verpflichtung knüpft, im Wesentlichen verwirklicht ist (BFH-Urteil in BFHE 130, 165, 167, BStBl II 1980, 297, 280). Der wesentliche Tatbestand, an den das Gesetz die Pflicht zur Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen knüpft, ist die Entstehung dieser Unterlagen. Die Kosten der Aufbewahrung hängen allein vom Umfang der im abgelaufenen Geschäftsjahr entstandenen aufzubewahrenden Unterlagen ab. Demgegenüber kommt künftigen Auswirkungen der Aufbewahrung (etwa für spätere Rechtsstreitigkeiten) nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Die Aufbewahrungspflicht wäre, worauf die Klägerin zutreffend hinweist, selbst dann noch zu erfüllen, wenn der Betrieb zum Ende des Streitjahres liquidiert werden würde. Sie erweist sich damit im Wesentlichen als vergangenheits-, nicht als zukunftsorientiert (ebenso BFH-Urteil vom 23. Juli 1980 I R 28/77, BFHE 131, 463, 464, BStBl II 1981, 62, 63 für die Kosten der Prüfung des Jahresabschlusses).

    b) Die Verpflichtung erfüllt die zusätzlichen Voraussetzungen, die an die Bildung einer Rückstellung für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen gestellt werden.

    aa) Die Verpflichtung ist hinreichend konkretisiert. Die Klägerin war nach dem eindeutigen Gesetzesbefehl des § 257 HGB und des § 147 AO 1977 zur Aufbewahrung der in diesen Vorschriften genannten Geschäftsunterlagen verpflichtet. Unerheblich ist insoweit, dass das Gesetz die Art der Aufbewahrung nicht im Detail vorschreibt. Der BFH hat auch die Kosten der Buchung der laufenden Geschäftsvorfälle eines Geschäftsjahres für rückstellungsfähig gehalten, obwohl die Verpflichtung zur vollständigen Buchung in dem im damaligen Streitjahr geltenden § 38 HGB a.F. nicht ausdrücklich normiert war (BFH-Urteil in BFHE 168, 527, 529, BStBl II 1992, 1010, 1011) und es dem Steuerpflichtigen überlassen bleibt, in welcher Form er die Verbuchung vornimmt, also z.B. manuell oder EDV-gestützt, durch Verbuchung im eigenen Unternehmen oder durch Beauftragung eines Dritten.

    bb) Die Verpflichtung der Klägerin bezieht sich auch auf einen bestimmten Zeitraum in der Nähe des Geschäftsjahres, in dem die Rückstellung zu bilden ist. Die Aufbewahrungspflicht erstreckt sich zwar auf den relativ langen Zeitraum von sechs bis zehn Jahren, sie beginnt jedoch gemäß § 257 Abs. 5 HGB, § 147 Abs. 4 AO 1977 bereits mit dem Schluss des Kalenderjahres, in dem die letzte Eintragung in das Buch vorgenommen, das Inventar, die Eröffnungsbilanz, der Jahresabschluss oder der Lagebericht aufgestellt, der Handels- oder Geschäftsbrief empfangen oder abgesandt worden oder der Buchungsbeleg entstanden ist.

    cc) Die Pflicht zur Aufbewahrung der in § 257 HGB, § 147 AO 1977 genannten Geschäftsunterlagen ist in der Weise sanktionsbewehrt, dass die Klägerin sich ihrer Verpflichtung nicht entziehen konnte. Wer aufbewahrungspflichtige Unterlagen nicht aufbewahrt und dadurch die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert, kann gemäß §§ 283, 283b des Strafgesetzbuches (StGB) bestraft werden. Zudem ist die Aufbewahrungspflicht zusammen mit den --mit weiter gehenden Sanktionen belegten-- Pflichten zur Verbuchung der Geschäftsvorfälle und zur Aufstellung eines Jahresabschlusses Teil eines Normengefüges, das jedem Steuerpflichtigen vermittelt, wie er sich als ordentlicher Kaufmann zu verhalten hat. Er kann sich der Erfüllung der Aufbewahrungspflicht ebenso wenig entziehen wie den übrigen Buchführungspflichten.

    dd) Unerheblich für die Zulässigkeit der Bildung der Rückstellung ist die Tatsache, dass die für die Aufbewahrung der Geschäftsunterlagen entstehenden Kosten auf einem Mietvertrag beruhen, der bilanzrechtlich als schwebendes Geschäft anzusehen und als solches nicht bilanzierungsfähig ist. Eine gesetzliche Verpflichtung kann auch dann, wenn es zu ihrer Erfüllung des Abschlusses eines gegenseitigen Vertrages bedarf, zur Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten führen (BFH-Urteil in BFH/NV 1998, 22). So verhält es sich z.B. auch bei den rückstellungsfähigen Kosten für die Prüfung des Jahresabschlusses (BFH-Urteil in BFHE 131, 463, BStBl II 1981, 62); hier liegt der Verpflichtung ein gegenseitiger Vertrag mit dem Abschlussprüfer zugrunde.

    ee) Auch das von der Vorinstanz für maßgeblich gehaltene eigenbetriebliche Interesse der Klägerin an der Aufbewahrung der Geschäftsunterlagen hindert nicht die Verpflichtung zur Bildung einer Rückstellung für die dafür anfallenden Kosten. Im vorliegenden Fall tritt das eigenbetriebliche Interesse an einer Aufbewahrung großer Mengen von Geschäftsunterlagen für einen relativ langen Zeitraum gegenüber der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zurück (zur Abgrenzung vgl. u.a. BFH-Urteil in BFHE 193, 399, BStBl II 2001, 570). Der dadurch entstandene Aufwand war für das Unternehmen der Klägerin von wesentlicher Bedeutung (zu dieser Voraussetzung vgl. BFH-Urteil in BFHE 177, 61, BStBl II 1995, 742, unter II. 5. der Gründe).

    3. Der Senat kann jedoch aufgrund der von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die von der Klägerin gebildete Rückstellung der Höhe nach gerechtfertigt ist.

    Die Rückstellung ist, wie die Klägerin zutreffend ausgeführt hat, in Höhe des voraussichtlichen Erfüllungsbetrages zu bilden (Weber-Grellet in L. Schmidt, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl., § 5 Rz. 421). Für die Verpflichtung, die eine Sachleistungsverpflichtung darstellt, sind die Vollkosten anzusetzen (Weber-Grellet in L. Schmidt, a.a.O., 18. Aufl., § 5 Rz. 421a, 423a). Eine Abzinsung kommt nicht in Betracht, da die Verpflichtung zur Zahlung eines Mietentgelts einen Zinsanteil nicht enthält (ebenso BFH-Urteil vom 7. Oktober 1997 VIII R 84/94, BFHE 185, 144, 147, BStBl II 1998, 331, 332, m.w.N.). § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e EStG, der die Abzinsung auch von Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen vorschreibt, ist auf das Streitjahr noch nicht anzuwenden.

    Der Senat kann nicht entscheiden, ob die anteiligen Mietkosten in der von der Klägerin berechneten Höhe als Rückstellung zu erfassen sind. Der Senat weist dazu zunächst darauf hin, dass die bei der Klägerin anfallenden Personalunterlagen möglicherweise nicht zu den gemäß § 257 HGB, § 147 AO 1977 aufbewahrungspflichtigen Unterlagen gehören. Das FG wird dazu Feststellungen nachzuholen haben. Zudem kann im Streitjahr nur eine Rückstellung für noch bestehende Aufbewahrungspflichten gebildet werden. Da die Klägerin das Archiv bereits eine Reihe von Jahren vor dem Streitjahr unterhielt, ist nicht auszuschließen, dass sich darin auch Unterlagen befanden, die nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr volle sechs bzw. zehn Jahre aufbewahrungspflichtig waren. Auch insoweit wird das FG tatsächliche Feststellungen nachzuholen haben. Nach dem Ergebnis dieser Feststellungen wird u.U. eine Aufteilung der für das Archiv anfallenden Kosten vorzunehmen sein, die berücksichtigt, welche Unterlagen tatsächlich aufbewahrungspflichtig sind und wie lange die Aufbewahrungspflicht für die einzelnen Unterlagen noch besteht.

    RechtsgebieteEStG, AO 1977, HGBVorschriftenEStG § 5 Abs. 1 AO 1977 § 147 HGB § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB § 257