· Fachbeitrag · Europäisches Mahnverfahren
Man muss verstehen können, was zugestellt wird ...
| Trotz Brexits wächst Europa weiter zusammen. Die grenzüberschreitenden Geschäfte nehmen deshalb zu, was entsprechende Streitigkeiten und offene Forderungen nach sich zieht. Diese Entwicklung wird durch den Online-Handel weiter verstärkt. Mit dem Europäischen Mahnverfahren stellt das europäische Recht dabei ein probates Mittel zur Titulierung eigentlich unstreitiger Forderungen zur Verfügung. Allerdings gilt es, einige Formalien zu beachten. |
Sachverhalt
Gegen die Schuldnerin wurde das Europäische Gerichtliche Mahnverfahren eingeleitet. Mit dem Zahlungsbefehl wurde ihr das in Anhang II der EU-Zustellungs-Verordnung Nr. 1393/2007 enthaltene Formblatt („Belehrung des Empfängers über sein Annahmeverweigerungsrecht“) mit folgendem Hinweis übersandt: „Sie können die Annahme dieses Schriftstücks verweigern, wenn es weder in einer Sprache, die Sie verstehen, noch in einer Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Zustellungsorts abgefasst ist … oder wenn ihm keine Übersetzung in einer dieser Sprachen beigefügt ist. Wenn Sie von Ihrem Annahmeverweigerungsrecht Gebrauch machen wollen, müssen Sie dies entweder sofort bei der Zustellung gegenüber der das Schriftstück zustellenden Person erklären oder das Schriftstück binnen einer Woche nach der Zustellung an die nachstehende Anschrift mit der Angabe zurücksenden, dass Sie die Annahme verweigern“.
Dieses Formblatt enthält auch eine „Erklärung des Empfängers“, die dieser, falls er die Annahme des betreffenden Schriftstücks verweigert, unterzeichnen soll und die wie folgt lautet: „Ich verweigere die Annahme des beigefügten Schriftstücks, da es entweder nicht in einer Sprache, die ich verstehe, oder nicht in einer Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Zustellungsortes abgefasst ist oder da dem Schriftstück keine Übersetzung in einer dieser Sprachen beigefügt ist“.
Schließlich sieht das Formblatt für diesen Fall vor, dass der Empfänger die Sprache oder die Sprachen unter den Amtssprachen der EU angeben muss, die er versteht.
Nach Ablauf der in Art. 16 Abs. 2 der EU-Verordnung Nr. 1896/2006 über das Europäische Mahnverfahren vorgesehenen Einspruchsfrist beantragte die Schuldnerin, diesen Zahlungsbefehl gemäß Art. 20 Abs. 2 der VO zu überprüfen, weil sie das Formblatt nicht in ihrer Sprache erhalten habe. Sie zog hieraus den Schluss, dass es ihr nicht möglich gewesen sei, das verfahrens-einleitende Schriftstück zu verstehen, was einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der VO darstelle.
Vor den nationalen Instanzgerichten blieb der Antrag erfolglos. Das Fehlen der Belehrung des Empfängers über die Möglichkeit, die Annahme des zugestellten Schriftstücks gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 zu verweigern, könne den Zahlungsbefehl nicht ungültig machen oder seine Überprüfung rechtfertigen, da eine solche Rechtsfolge in der EU-Verordnung Nr. 1896/2006 nicht vorgesehen sei.
Das oberste Gericht fragte sich aber, ob die Nichtbeachtung der Anforderungen aus Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 in der bei ihm anhängigen Rechtssache die Überprüfung des Zahlungsbefehls nach Art. 20 der Verordnung Nr. 1896/2006 rechtfertigen kann. Es hat den daher Fall dem EuGH vorgelegt.
Entscheidungsgründe
Der EuGH klärt die Streitfrage. Er fasst zusammen, worauf auch der Gläubiger achten muss.
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Die richtige Sprache für den Schuldner
Zur Anwendbarkeit von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 im Rahmen der Übermittlung eines Europäischen Zahlungsbefehls zusammen mit dem Antragsformular an den Antragsgegner gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1896/2006 weist der EuGH darauf hin, dass in der VO Nr. 1393/2007 ausdrücklich vorgesehen ist, dass der Empfänger eines zuzustellenden Schriftstücks dessen Annahme verweigern kann, wenn dieses Schriftstück weder in einer Sprache, die der Empfänger versteht, noch in der Amtssprache des Vollstreckungsmitgliedstaats oder, wenn es in diesem Mitgliedstaat mehrere Amtssprachen gibt, in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Ortes, an dem die Zustellung erfolgen soll, abgefasst ist oder wenn keine Übersetzung in einer dieser Sprachen beigefügt ist.
PRAXISTIPP | Der EuGH hat schon wiederholt entschieden, dass die Möglichkeit, die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks zu verweigern, ein Recht des Empfängers dieses Schriftstücks darstellt (EuGH 16.9.15, C-519/13; 28.4.16, C-384/14; 2.3.17, C-354/15). |
Das Recht zur Verweigerung der Annahme eines zuzustellenden Schriftstücks ergibt sich für den EuGH aus der Notwendigkeit, die Verteidigungsrechte des Empfängers als Anforderung an ein faires Verfahren zu schützen, wie es in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der EU und in Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist. Auch wenn die Verordnung Nr. 1393/2007 in erster Linie darauf abzielt, die Wirksamkeit und die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren zu verbessern und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, dürfen diese Ziele nicht dadurch erreicht werden, dass in irgendeiner Weise Abstriche bei der effektiven Wahrung der Verteidigungsrechte der Empfänger der betreffenden Schriftstücke gemacht werden.
EuGH begründet konkrete Handlungspflichten
Daher ist nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass der bestimmungsgemäße Empfänger eines Schriftstücks dieses tatsächlich erhält, sondern auch dafür, dass er in die Lage versetzt wird, die Bedeutung und den Umfang des im Ausland gegen ihn eingeleiteten Verfahrens tatsächlich und vollständig in einer Weise zu erfahren und zu verstehen, die es ihm ermöglicht, seine Verteidigung sachgerecht vorzubereiten und seine Rechte vor dem Gericht des Übermittlungsmitgliedstaats wirksam geltend zu machen.
MERKE | Diese Handlungspflichten richten sich gleichermaßen an den Gläubiger wie das angerufene Gericht. Der Gläubiger muss die Schriftstücke schon in der entsprechenden Sprache vorbereiten und einreichen, das ausführende Gericht muss darauf achten, dass Belehrungen und Formulare in der richtigen Sprache ausgewählt werden. Da es sich nicht um individuelle Schreiben handelt und alle Formschreiben in allen EU-Amtssprachen vorliegen, ist dies nicht mit einem besonderen Aufwand verbunden. Allerdings muss auch die Forderungsbeschreibung ‒ die dem Gläubiger obliegt ‒ in der „richtigen“ Sprache erfolgen. |
Damit aber das Annahmeverweigerungsrecht nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 seine praktische Wirksamkeit entfalten kann, muss der Empfänger des Schriftstücks im Voraus und schriftlich ordnungsgemäß über das Bestehen dieses Rechts belehrt worden sein. Aus der Zweckbestimmung des Formblatts ist nach dem EuGH abzuleiten, dass die Empfangsstelle unter allen Umständen und ohne insoweit über einen Wertungsspielraum zu verfügen, verpflichtet ist, den Empfänger eines Schriftstücks über sein Annahmeverweigerungsrecht zu belehren, indem sie zu diesem Zweck systematisch das besagte Formblatt verwendet.
Nach dem EuGH gilt Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 daher nicht nur für die Zustellung des Zahlungsbefehls selbst, sondern auch für die des Antrags auf dessen Erlass. Beide Schriftstücke müssen ihrem Empfänger gemäß dem o. g. Art. 8 Abs. 1 in einer Sprache zugestellt werden, von der anzunehmen ist, dass er sie versteht. Hierfür muss die Zustellung zusammen mit dem Formblatt in Anhang II dieser Verordnung erfolgen, das den Antragsgegner über sein Recht belehrt, die Annahme des betreffenden Schriftstücks zu verweigern.
Diese Schlussfolgerung gilt umso mehr, als dass das mit der Verordnung Nr. 1896/2006 eingeführte Europäische Mahnverfahren kein streitiges Verfahren ist. Denn das nationale Gericht entscheidet allein auf der Grundlage des vom Antragsteller eingereichten Antrags, ohne dass der Antragsgegner vom Bestehen eines gegen ihn gerichteten Verfahrens Kenntnis erhält. Erst im Stadium der Zustellung des Zahlungsbefehls hat der Antragsgegner somit die Möglichkeit, vom Vorliegen und vom Inhalt des Antrags Kenntnis zu nehmen. Die Verteidigungsrechte zu wahren, die Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 schützen soll, ist demnach in diesem Kontext besonders wichtig.
Zwar können viele Felder dieses Formblatts mittels im Voraus festgelegter Zahlencodes ausgefüllt werden und sind daher leicht verständlich, weil die Erläuterungen zu diesen Codes in allen Amtssprachen im Amtsblatt der EU veröffentlicht worden sind. Es verpflichtet den Antragsteller aber doch, auch zu näheren Angaben den konkreten Sachverhalt zu beschreiben, der der Hauptforderung zugrunde liegt, und die Beweise zu bezeichnen, die zur Begründung der Forderung herangezogen werden (Art. 7 Abs. 2 Buchst. d und e der VO). Der Antragsgegner muss aber in der Lage sein, hiervon in einer Sprache Kenntnis zu nehmen, von der anzunehmen ist, dass er sie versteht, um Bedeutung und Umfang des im Ausland gegen ihn eingeleiteten Verfahrens zu verstehen und ggf. seine Verteidigung vorzubereiten.
Fazit: Das Gebot der zwingenden und systematischen Verwendung des Formblatts gemäß Anhang II der Verordnung Nr. 1393/2007 gilt in gleicher Weise für die Zustellung des Europäischen Zahlungsbefehls wie für die zusammen damit erfolgende Zustellung des Antrags auf Erlass des Zahlungsbefehls.
Relevanz für die Praxis
Wird diese Pflicht missachtet, hat dies weder die Nichtigkeit des zuzustellenden Schriftstücks noch die des Zustellungsverfahrens zur Folge. Dies wäre nicht mit dem der Verordnung verfolgten Ziel vereinbar, eine unmittelbare, schnelle und wirksame Form der Übermittlung von Schriftstücken in Zivil- oder Handelssachen zwischen den Mitgliedstaaten vorzusehen. Der Unterlassung muss vielmehr abgeholfen werden, um die Verteidigungsrechte des Empfängers des Schriftstücks zu wahren. Die zustellende Behörde muss somit den Empfänger des Schriftstücks unverzüglich von seinem Annahmeverweigerungsrecht in Kenntnis setzen, indem sie ihm gemäß Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung dieses Formblatt übermittelt. Es ergeben sich also zwei konkrete Folgen:
- Dem Antragsgegner muss das Formblatt mit der Belehrung unverzüglich und in einer Sprache, die er versteht, übergeben werden.
- Der Zahlungsbefehl ist zunächst nicht vollstreckbar geworden und die Einspruchsfrist hat für den Antragsgegner nicht zu laufen begonnen.