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  • · Fachbeitrag · Insolvenz

    Sechs-Monats-Rechtsprechung des BGH wird infrage gestellt

    | Zahlt der Schuldner nicht und ist nicht auszuschließen, dass eine Zahlungsunfähigkeit vorliegt, muss der Gläubiger überlegen, wie er agiert. Einerseits kann er die Forderung individuell titulieren und danach die Einzelzwangsvollstreckung betreiben. Hier besteht das Risiko darin, dass der Schuldner im weiteren Zeitablauf in Insolvenz gerät, bereits erlangte Zahlungen zurückgewährt werden müssen und auf Kosten und Hauptforderung nur eine Quote gezahlt wird. Andererseits kann ‒ gerade in B2B-Fällen ‒ ein Insolvenzantrag naheliegen. Es obliegt dann dem Insolvenzverwalter, die Vermögenswerte festzustellen und an die Gläubiger zu verteilen. Die Titulierung erfolgt dann über die Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle sehr viel einfacher. Der Nachteil besteht darin, dass der Gläubiger dann ggf. mit anderen Gläubigern „teilen“ muss, obwohl nach erlangten Zahlungen in der Einzelzwangsvollstreckung gar kein Insolvenzverfahren durchgeführt wird, weil nicht einmal mehr die Kosten des Verfahrens durch die Masse gedeckt sind. Die Finanzverwaltung (Steuern) und die Sozialversicherungsträger machen häufig von der zweiten Alternative Gebrauch, dass andere Gläubiger „auf den Zug aufspringen“ konnten. Hintergrund war, dass diesen staatlichen Gläubigern die Glaubhaftmachung des Insolvenzgrundes besonders leicht gemacht wurde. Der BGH hatte am 13.6.06 dazu beschlossen, dass der Gläubiger den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit in der Regel glaubhaft gemacht hat, wenn sich der Schuldner mit fälligen Gesamtsozialversicherungsbeiträgen von mehr als sechs Monaten im Rückstand befindet (IX ZB 238/05). Nun hat das LG Hamburg aber infrage gestellt, ob dem noch zu folgen ist. In B2B-Fällen kann sich der anderweitige Gläubiger auf ein solches Vorgehen der staatlichen Gläubiger nicht mehr verlassen und muss in seiner Abwägung des Vorgangs möglicherweise abweichend verfahren. |

     

    Sachverhalt

    Die Antragstellerin beantragte, über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren zu eröffnen. In ihrem Antrag führt die Antragstellerin aus, dass die Schuldnerin fällige Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den Zeitraum vom 1.4.22 bis 31.3.22 in Höhe von 2.569,27 EUR schulde.

     

    Das AG wies die Antragstellerin darauf hin, dass sie entgegen § 14 Abs. 1 InsO bisher die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin nicht ausreichend glaubhaft gemacht habe. Hierfür sei das Protokoll über einen fruchtlosen Vollstreckungsversuch eines Gerichtsvollziehers oder über die Abgabe der Vermögensauskunft der Schuldnerin vorzulegen.

     

    Weiter wies das AG die Antragstellerin darauf hin, dass das AG der sog. „Sechs-Monats-Indiz-Rechtsprechung“ des BGH nicht folge. Der Antragstellerin wurde eine Frist von zehn Tagen zur Ergänzung eingeräumt.

     

    Die Antragstellerin teilte daraufhin u. a. mit, dass ihrer Auffassung nach die dem Antrag beigefügte Unterlagen ausreichend seien, insbesondere die Drittschuldnererklärung der H. Sparkasse. Als sog. institutionelle Gläubigerin könne sie sich auf die „Sechs-Monats-Indiz-Rechtsprechung“ des BGH berufen. Das AG wies dann den Eröffnungsantrag zurück, wogegen sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde wandte.

    Entscheidungsgründe

    Das LG Hamburg folgte dem AG und verneinte die Anwendung der Vermutung des BGH für das Vorliegen des Eröffnungsgrundes.

     

    • Leitsätze: LG Hamburg 27.7.23, 326 T 19/23
    • 1. Sozialversicherungsträger haben das Vorliegen eines Insolvenzgrundes bei Gläubigerantragstellung in gleicher Weise glaubhaft zu machen, wie andere Gläubiger auch.
    • 2. Der vom BGH in seiner Entscheidung vom 13.6.06 (IX ZB 238/05, ZInsO 06, 827) aufgestellten Beweisregel, bei Rückständen von mindestens sechs Monaten sei in der Regel von Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auszugehen, wird nicht gefolgt.
     

    Die Antragstellerin hat nach Ansicht des LG die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Das Protokoll über einen fruchtlosen Vollstreckungsversuch eines Gerichtsvollziehers oder über die Abgabe der Vermögensauskunft der Schuldnerin hat die Antragstellerin nicht vorgelegt.

     

    Die Drittschuldnererklärung allein sei nicht ausreichend und im Übrigen datiere diese vom 30.6.22 und sei daher nicht hinreichend aktuell.

     

    Auch eine eidesstattliche Versicherung der Schuldnerin oder entsprechende schriftliche Erklärungen der Schuldnerin lägen nicht vor, ebenso wenig eine eidesstattliche Versicherung einer sachkundigen Person, aus der sich ergebe, dass die Schuldnerin nicht zahlungsfähig sei.

     

    Das Ergebnis des LG: Allein Rückstände bei der Antragstellerin belegen noch keine Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin. Sozialversicherungsträger hätten das Vorliegen eines Insolvenzgrundes in gleicher Weise glaubhaft zu machen wie andere Gläubiger auch:

     

    • Die Strafbarkeit der Nichtabführung von Beiträgen ist einer von mehreren Umständen, der bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung zu berücksichtigen ist.

     

    • Sie bildet allein jedoch auch keinen Anlass, den Grundsatz der freien Beweiswürdigung teilweise außer Kraft zu setzen (LG Hamburg ZinsO 21, 739; ZInsO 10, 1650; ZInsO 12, 225). Denn in der Praxis dürfte ein Schuldner eher Sozialversicherungsbeiträge nicht zahlen als beispielsweise seine Warenlieferanten, um den Geschäftsbetrieb fortführen zu können.

     

    • Die Antragstellerin könne sich nicht allein auf ihre Stellung als sog. Institutionelle Gläubigerin zurückziehen. Der vom BGH in seiner Entscheidung vom 13.6.06 (ZinsO 06, 827) aufgestellten Beweisregel, bei Rückständen von mindestens 6 Monaten sei in der Regel von Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auszugehen, werde nicht gefolgt.

     

    • In diesem besonderen Einzelfall komme hinzu, dass nach den eigenen Angaben der Antragstellerin die Schuldnerin nach wie vor einen laufenden Geschäftsbetrieb mit Kundenverkehr unterhalte.

     

    Daher bestehe zumindest die Möglichkeit, dass die Schuldnerin zwar die Sozialversicherungsbeiträge (bewusst) nicht zahlt, im Übrigen aber ihre Gläubiger bedient und auch bedienen kann.

     

    Dies nachzuprüfen sei nicht Aufgabe des Insolvenzeröffnungsverfahrens. Die Antragstellerin hätte z. B. im Rahmen einer Kassenpfändung zunächst weiter versuchen müssen, ihre Forderungen einzuziehen. Dies habe sie jedoch ohne weitere Begründung nicht getan.

     

    MERKE | Das LG war der ‒ problematischen ‒ Auffassung, dass es im konkreten Einzelfall entscheide und deshalb die Rechtsbeschwerde nicht zulassen müsse. Eine grundsätzliche Bedeutung liege nicht vor.

     

    Das überzeugt nicht. Will das Gericht einer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht folgen, kommt es auf die grundsätzliche Bedeutung der Sache nicht an, sondern die Zulassung der Rechtsbeschwerde (schon) wäre zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen gewesen.

     

    Relevanz für die Praxis

    Die Entscheidung wird möglicherweise zu einer gewissen Zurückhaltung bei den institutionellen Gläubigern führen, einen Insolvenzantrag zu stellen. Aus einem fehlenden Insolvenzantrag dürfen also in Zukunft nur zurückhaltend weitere Schlüsse gezogen werden.

     

    Zugleich zeigt die Entscheidung, dass an eine Insolvenzantragstellung und hier an die Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes strengere Anforderungen zu stellen sind.

     

    Checkliste / Glaubhaftmachung der Eröffnungsgründe

    Zur Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) oder der Überschuldung (§ 19 InsO) können Sie auf folgende Unterlagen/Umstände zurückgreifen:

     

    • Fruchtlosigkeitsbescheinigung des Gerichtsvollziehers (§ 32 Abs. 1 GVGA);
    • Erfolglose Vollstreckung in das bewegliche Vermögen (körperliche Sachen und Forderungen und sonstige Vermögensrechte;
    • Nachweis über die Abnahme der Vermögensauskunft nach § 802c, 802d ZPO;
    • Häufung von Mahn- und Vollstreckungsbescheiden;
    • Haftbefehle;
    • Wechsel- und Scheckproteste;
    • umfangreiche Kreditkündigungen durch Banken;
    • Schreiben der Insolvenzschuldnerin über ihre Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung;
    • Bitten um Zahlungsaufschübe von deutlich mehr als einem Monat;
    • Anerkenntnisse und Zahlungsankündigungen, auf die dann allenfalls eigenmächtige Teilzahlungen folgen;
    • Nachweis einer Liquiditätslücke von mehr als 10 Prozent der offenen Forderungen beim Schuldner;
    • Schließung des Geschäftsbetriebs;
    • „Flucht vor den Gläubigern“, indem die Organe des Gläubigers nicht erreichbar sind und nicht reagieren;
    • Nichtzahlung von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und Löhnen sowie sonstiger betriebsnotwendiger Kosten an mehr als einem Zahlungstermin;
    • Überschuldung ausweisende Bilanz oder Auskunft des Steuerberaters bzw. Buchhalters des Schuldners.
     

     

    Es sollten möglichst mehrere Indizien vorliegen und diese müssen zugleich aktuell sein, also nicht älter als drei bis sechs Monate (vgl. insgesamt zu den Anforderungen Braun, Insolvenzordnung, 9. Aufl., § 14 Rn. 29 ff.; Wolfer, BeckOK Insolvenzrecht, 32. Ed. v. 15.7.23, § 14 Rn. 16 ff.; Mönning, in Nerlich/Römermann, Insolvenzrecht, 47. EL März 2023, § 14 Rn. 55 ff.; MüKo/Vuia, InsO, 4. Aufl., Rn. 75 ff.).

    Quelle: Ausgabe 11 / 2023 | Seite 197 | ID 49725352