· Fachbeitrag · Kostenrecht
Keine Anrechnung der Geschäftsgebühr nach mehr als zwei Kalenderjahren
von VRiOLG Frank-Michael Goebel, Koblenz
| Die Erhöhung der Gebühren nach dem RVG lässt auf sich warten. Statt dem berechtigten Gebührenerhöhungsverlangen der Rechtsanwälte und Inkassodienstleister Rechnung zu tragen, soll die Kostenrechtsänderung wohl herausgezögert werden, bis sie als Wahlgeschenk für die Bundestagswahl 2025 „verkauft“ werden kann. Umso wichtiger ist es, die Möglichkeiten des geltenden Kostenrechts zu nutzen. Eine Möglichkeit zeigt das AG Stralsund, in der eine Anrechnung der Geschäftsgebühr unterbleiben kann. |
Sachverhalt
Der spätere Prozessbevollmächtigte wurde zunächst mit der außergerichtlichen Regulierung eines Schadensfalls beauftragt. Im November 2019 rechnete die Gegnerin ab und der Auftrag wurde beendet, sodass der Rechtsanwalt die vorgerichtliche Geschäftsgebühr nebst Auslagen abrechnete.
Nachdem gleichwohl noch weitere Ansprüche zur Regulierung offenstanden, wurde der Rechtsanwalt dann im Dezember 2022 erneut beauftragt, nun unmittelbar mit der Erhebung der Klage, wobei auch die Kosten der früheren vorgerichtlichen Rechtsverfolgung eingeklagt werden sollte. Entsprechend wurde Klage erhoben, das Verfahren gewonnen und der beklagten Gegnerin die Kosten des Verfahrens auferlegt.
Die Beklagte ist nun in der Kostenfestsetzung der Auffassung, der Bevollmächtigte müsse sich die vorgerichtliche Geschäftsgebühr nach der Vorbem. 3 Abs. 4 VV hälftig auf die Verfahrensgebühr des Klageverfahrens anrechnen lassen. Dies könne nach § 15a Abs. 3, Alt. 1 RVG auch in der Kostenfestsetzung geltend gemacht werden. Der Rechtspfleger war anderer Auffassung.
Entscheidungsgründe
Das AG hat die Ansicht des Rechtspflegers bestätigt und von einer Anrechnung abgesehen.
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Liegen zwischen Beendigung der außergerichtlichen Vertretung und dem Auftrag zur Einreichung der Klage mehr als zwei Kalenderjahre, wird die Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nicht angerechnet (Abruf-Nr. 239214). |
Die Anrechnung zuvor entstandener Gebühren hat in § 15 RVG eine eingehende Regelung erfahren. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG im Wortlaut: „Ist der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt, gilt die weitere Tätigkeit als neue Angelegenheit und in diesem Gesetz bestimmte Anrechnungen von Gebühren entfallen.“
Die Regelung ist nach Ansicht des AG vom Wortlaut her eindeutig, unmissverständlich und zugleich zweckmäßig. Sie trage insbesondere dem Umstand Rechnung, dass nach einer längeren Unterbrechung einer Rechtsverfolgung eine erneute Einarbeitung eines Bevollmächtigten erforderlich ist.
Beachten Sie | Die Unterbrechung muss zwei Kalenderjahre betragen und der Auftrag tatsächlich beendet sein. Nach Beendigung des Auftrags 2019 lagen mit 2020 und 2021 zwei Kalenderjahre zwischen diesem Zeitpunkt und der Neubeauftragung 2022.
Nach Ansicht des AG rechtsirrig nahm die Beklagte an, die Klägerin habe früher, also schon 2021, den Klageauftrag erteilen müssen, um Kosten und Gebühren möglichst klein zu halten. Die späte Beauftragung sei aber nicht treuwidrig gewesen, da die beklagte Gegnerin die Regulierung bis dahin stets verschleppt hatte.
PRAXISTIPP | Ungeachtet dessen, dass es in der Dispositionsbefugnis des Mandanten steht, wann er welchen Antrag stellt oder Klage erhebt, kann der Gegner jederzeit reagieren und negative Feststellungsklage erheben. Diesen Aspekt muss der Bevollmächtigte des Gegners im Auge haben und seinen Mandanten bei einer Verzögerungstaktik auf die potenziellen kostenrechtlichen Nachteile hinweisen. |
Relevanz für die Praxis
Es gibt weitere Fälle, in denen die zutreffende Ansicht des AG bei der Abrechnungspraxis zu berücksichtigen ist:
- Der Anwalt wird mit dem gerichtlichen Mahnverfahren beauftragt, in dem der Schuldner Widerspruch einlegt. Darauf wird der Auftrag beendet, weil die Bonität des Schuldners schlecht ist. Zwei Kalenderjahre später sind alle Eintragungen aus dem Schuldnerverzeichnis gelöscht und die Bonität besser. Jetzt wird dem Anwalt kurz vor Ablauf der Verjährung doch Klageauftrag erteilt. Die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Mahnverfahrens nach Nr. 3305 VV RVG ist dann nicht auf diejenige für das Klageverfahren nach Nr. 3100 VV RVG anzurechnen (AG Siegburg NJW-Spezial 16, 413).
- Nach Abschluss eines selbstständigen Beweisverfahrens wird zunächst keine Klage erhoben. Erst nach der Beendigung des Auftrags und Ablauf von zwei Kalenderjahren kommt es zur Klage. Auch hier unterbleibt dann die in Vorbem. 3 Abs. 5 VV vorgesehene Anrechnung der 1,3-Verfahrensgebühr aus dem selbstständigen Beweisverfahren auf diejenige des folgenden Rechtsstreits nach 3100 VV RVG.
- Wird nach einem Berufungsurteil Revision eingelegt, endet regelmäßig das Mandat des bisherigen Bevollmächtigten, weil ‒ mangels Postulationsfähigkeit des bisherigen Anwalts ‒ notwendigerweise ein neues Mandatsverhältnis zum Bevollmächtigten beim BGH begründet werden muss. Revisionsverfahren können dann sehr lange dauern, sodass eine Anrechnung der Verfahrensgebühr des ersten Verfahrens vor dem Berufungsgericht auf die Verfahrensgebühr des zweiten Verfahrens vor dem Berufungsgericht nach der Zurückverweisung gemäß Vorbem. 3 Abs. 6 VV RVG gleichfalls unterbleibt, wenn dazwischen mehr als zwei Kalenderjahre liegen.