· Fachbeitrag · Wohlverhaltensphase
Ab Erteilung der Restschuldbefreiung muss mit der Verteilung nicht Schluss sein
| Die Verkürzung der Wohlverhaltensphase bringt es mit sich, dass nicht jeder finanzielle Sachverhalt kurzer Zeit abgeschlossen werden kann. Gerade Verfahren über Steuererstattungen können sich hinziehen, aber auch sonstige Auseinandersetzungen um Ansprüche des Schuldners. Für solche Fälle hat § 203 InsO eine Lösung: Auf Antrag des Insolvenzverwalters oder eines Insolvenzgläubigers oder von Amts wegen ordnet das Insolvenzgericht eine Nachtragsverteilung an, wenn nach dem Schlusstermin zurückbehaltene Beträge für die Verteilung frei werden, Beträge, die aus der Insolvenzmasse gezahlt sind, zurückfließen oder Gegenstände der Masse ermittelt werden. Die Aufhebung des Verfahrens steht dabei der Anordnung einer Nachtragsverteilung nicht entgegen, sondern ist geradezu der Regelfall. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Das Gericht kann von der Anordnung absehen und den zur Verfügung stehenden Betrag oder den ermittelten Gegenstand dem Schuldner überlassen, wenn dies mit Rücksicht auf die Geringfügigkeit des Betrags oder den geringen Wert des Gegenstands und die Kosten einer Nachtragsverteilung angemessen erscheint. Mit einer solchen Fallkonstellation hat sich nun der BGH auseinandergesetzt. |
Sachverhalt
2019 eröffnete das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners, bestellte den Insolvenzverwalter und stellte die Restschuldbefreiung in Aussicht. 2022 erteilte das Insolvenzgericht dem Schuldner die vorzeitige Restschuldbefreiung. Mit weiterem Beschluss hob das Gericht wenig später das Insolvenzverfahren nach Durchführung des Schlusstermins im schriftlichen Verfahren und Vollzug der Schlussverteilung auf. Zugleich beschloss es, dass der Insolvenzbeschlag für näher bezeichnete Steuererstattungsansprüche des Schuldners für die Veranlagungszeiträume 2019 bis 2022 und für solche, die bis zur Aufhebung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, aufrechterhalten bleibe. Es ordnete die Nachtragsverteilung der Erstattungsbeträge an und beauftragte den Insolvenzverwalter mit ihrem Vollzug. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Schuldners, über die der Einzelrichter beim LG entschieden, aber gleichwohl die Rechtsbeschwerde zugelassen hat.
Entscheidungsgründe
Schon aus rein formalen Gründen musste der BGH die Entscheidung des LG aufheben und die Sache zurückweisen. Der Einzelrichter darf keine Rechtsbeschwerde zulassen. Dies hat der BGH inzwischen so häufig entschieden, dass dies eigentlich jeder Richter wissen sollte. Der Einzelrichter muss bei Rechtssachen, die grundsätzliche Bedeutung haben oder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen, das Verfahren gemäß § 568 S. 2 ZPO zwingend dem Kollegium übertragen. Bejaht er mit seiner Entscheidung, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, entscheidet er aber zugleich in der Sache als Einzelrichter, ist seine Entscheidung objektiv willkürlich und verstößt gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters, was vom BGH von Amts wegen zu beachten ist (BGH 27.6.19, IX ZB 5/19; 18.2.21, IX ZB 6/20).
PRAXISTIPP | Für die Bevollmächtigten der Parteien bedeutet dies, dass sie stets beantragen sollten, dass die gesamte Kammer über die sofortige Beschwerde entscheidet, wenn eine rechtsgrundsätzliche Klärung angestrebt wird. |
Der BGH hat sich aber mit der formalen Zurückweisung nicht begnügt, sondern auch die entscheidenden Hinweise in der Sache gegeben.
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Der BGH hat schon vor Jahren geklärt, dass eine Nachtragsverteilung auch noch nach Erteilung der Restschuldbefreiung zu erfolgen hat, falls unbekannte Vermögensgegenstände des Schuldners aufgefunden werden (BGH 10.7.08, IX ZB 172/07). Soweit dagegen argumentiert wird, dass eine Nachtragsverteilung nach Erteilung der Restschuldbefreiung keinen Sinn mehr mache, weil die Insolvenzgläubiger mit ihren Forderungen endgültig ausgeschlossen seien, folgt der BGH dem nicht. Aus dem Umstand, dass Insolvenzforderungen mit der Restschuldbefreiung zu „unvollkommenen“, also zwar erfüllbaren, aber nicht mehr zwangsweise durchsetzbaren Verbindlichkeiten werden, folgt nämlich nicht, dass die Gläubiger nicht mehr Anspruch auf Teilhabe an solchen Vermögenswerten des Schuldners haben, die an sich vor Beendigung des Insolvenzverfahrens hätten verteilt werden müssen, aber noch nicht für die Verteilung an die Gläubiger zur Verfügung standen. Der Schuldner, der von der Restschuldbefreiung profitieren will, ist gerade verpflichtet, sein gesamtes pfändbares Vermögen seinen Gläubigern zur Verfügung zu stellen.
Der Anspruch des Schuldners auf Erstattung von Steuern gehört gemäß § 35 Abs. 1 InsO zur Masse, wenn und soweit der die Erstattungsforderung begründende Sachverhalt vor oder während des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist (BGH 12.1.06, IX ZB 239/04; 13.1.22, IX ZR 64/21; BFHE 212, 436, 438). Der für die insolvenzrechtliche Betrachtung maßgebliche Rechtsgrund für eine Steuererstattung wird bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt, weil der Steuerpflichtige schon zu diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Erstattung unter der aufschiebenden Bedingung erlangt, dass am Jahresende die geschuldete Steuer geringer ist als die Summe der Vorauszahlungen.
Wird dem Schuldner allerdings während des Insolvenzverfahrens Restschuldbefreiung erteilt, gehört das Vermögen, das der Schuldner nach dem Ende der Abtretungsfrist oder nach Eintritt der Voraussetzungen des § 300 Abs. 1 S. 2 InsO erwirbt, gemäß § 300a Abs. 1 InsO nicht mehr zur Insolvenzmasse (BGH 13.2.14, IX ZB 23/13). Das gilt namentlich auch für einen (anteiligen) Steuererstattungsanspruch (BGH 13.1.22, IX ZR 64/21). Vorliegend ist dem Schuldner am 16.5.22 (vorzeitige) Restschuldbefreiung erteilt worden. Die Voraussetzungen des § 300 Abs. 1 S. 2 InsO a. F. (heute § 300 Abs. 2 InsO) werden noch davor eingetreten gewesen sein. Dass auch die Steuererstattungsansprüche des Schuldners für das Jahr 2022 vollständig massezugehörig wären, kann vor diesem Hintergrund nicht ohne Weiteres angenommen werden.
Es kommt nicht darauf an, dass Steuererstattungsansprüche des Schuldners gerade darauf beruhen sollen, dass sein Einkommen ‒ und infolgedessen gemäß § 850e Nr. 3 ZPO auch der gemäß §§ 35, 36 InsO an die Masse abzuführende pfändbare Betrag (BGH 7.3.24, IX ZB 47/22) ‒ im Hinblick auf einen in den Gehaltsabrechnungen durch seinen Arbeitgeber gemäß § 8 Abs. 2 S. 3 EStG pauschal angesetzten Nutzungsvorteil wegen der Überlassung eines Dienstwagens höher gewesen sein soll, als es der tatsächlichen Nutzung des Fahrzeugs für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte entsprochen habe. Zwar trifft es zu, dass der Steuererstattungsanspruch kein Arbeitseinkommen darstellt, weil er öffentlich-rechtlicher Natur ist und nicht den Charakter eines Einkommens hat, das dem Berechtigten aufgrund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses zusteht (BGH 12.1.06, IX ZB 239/04). Seine Pfändbarkeit ergibt sich jedoch aus § 46 Abs. 1 AO. Er gehört daher grundsätzlich zur Masse. Die Berechnung des pfändbaren Betrags des Arbeitseinkommens ist davon unabhängig. Für die Beurteilung der Massezugehörigkeit des Steuererstattungsanspruchs kommt es insbesondere nicht darauf an, ob die ‒ hier ersichtlich durch den Drittschuldner erfolgte ‒ Berechnung des pfändbaren Betrags des Arbeitseinkommens richtig ist oder nicht.
Nach dem BGH wird das LG aber noch einmal prüfen müssen, ob ein Grund für die Anordnung einer Nachtragsverteilung angenommen werden kann. § 203 Abs. 1 Nr. 3 InsO, nach dem eine Nachtragsverteilung angeordnet werden kann, wenn nach dem Schlusstermin Gegenstände der Masse ermittelt werden, ist nach Ansicht des BGH weit auszulegen. Er setzt nicht voraus, dass die Existenz oder der Aufenthaltsort eines Massegegenstands dem Verwalter während der Dauer des Insolvenzverfahrens unbekannt war. Die Vorschrift erfasst vielmehr auch Gegenstände, von deren Existenz der Verwalter wusste, die er aber irrtümlich für nicht verwertbar hielt und deswegen nicht zur Masse zog (BGH 1.12.05, IX ZB 17/04; 2.12.12, IX ZB 184/09). Gleiches gilt, wenn Gegenstände während der Verfahrensdauer tatsächlich (noch) nicht verwertbar waren.
Das LG ist vom zweiten Fall ausgegangen. Es hat angenommen, ein Steuererstattungsanspruch sei bei Insolvenzverfahren natürlicher Personen erst nach der Verfahrensbeendigung realisierbar. Begründung: Der Erstattungsanspruch sei von der Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 S. 1 InsO nicht erfasst.
Die Anwendung von § 287 InsO steht jedoch nach dem BGH nicht infrage. Vielmehr ist allein § 80 Abs. 1 InsO und somit der mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verbundene Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Masse gehörende Schuldnervermögen auf den Insolvenzverwalter maßgeblich. Der Insolvenzverwalter muss nach § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 AO als Vermögensverwalter die steuerlichen Pflichten des Schuldners wahrnehmen (BVerwG DStR 18, 2441 Rn. 21). Daher trifft ihn vor allem auch eine Steuererklärungspflicht des Schuldners. Der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis schließt es darüber hinaus ein, dass der Insolvenzverwalter sogar Steuererstattungsansprüche des Schuldners zugunsten der Masse geltend machen muss, wenn keine steuerrechtliche Verpflichtung des Schuldners zur Abgabe einer Steuererklärung besteht (BGH 14.11.13, IX ZB 161/11). Diese Sichtweise weitergedacht, führt also zur ersten und nicht zur zweiten Fallkonstellation.
Relevanz für die Praxis
Der Gläubiger muss also darauf achten, dass der Insolvenzverwalter seine Pflichten in steuerlicher Hinsicht wahrnimmt und potenzielle Steuererstattungsansprüche geltend macht. Um sich möglicherweise auch Ansprüche gegenüber dem Insolvenzverwalter vorzubehalten, empfiehlt es sich, in geeigneten Fällen auf diese Verpflichtung und auf die Sichtweise des BGH hinzuweisen. Laufen nicht abgeschlossene Steuererstattungsverfahren, sollte der Insolvenzgläubiger von seinem Recht Gebrauch machen, den Vorbehalt der Nachtragsverteilung zu beantragen.