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  • 07.08.2019 · IWW-Abrufnummer 210417

    Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 10.07.2019 – C-163/18

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    10. Juli 2019(*)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen – Annullierung des Fluges – Unterstützungsleistungen – Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten durch das Luftfahrtunternehmen – Art. 8 Abs. 2 – Pauschalreise – Richtlinie 90/314/EWG – Konkurs des Reiseveranstalters“

    In der Rechtssache C‑163/18

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Noord-Nederland (Bezirksgericht Nordniederlande, Niederlande) mit Entscheidung vom 21. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2018, in dem Verfahren
    HQ,
    IP, gesetzlich vertreten durch HQ,
    JO
    gegen
    Aegean Airlines SA

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský (Berichterstatter) und C. G. Fernlund sowie der Richterin L. S. Rossi,
    Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
    Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Januar 2019,
    unter Berücksichtigung der Erklärungen
    – von HQ, IP, gesetzlich vertreten durch HQ, und JO, vertreten durch I. Maertzdorff, advocaat, sowie M. Duinkerke und M. J. R. Hannink,
    – der Aegean Airlines SA, vertreten durch J. Croon und D. van Genderen, advocaten,
    – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,
    – der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, dann durch M. Hellmann und A. Berg als Bevollmächtigte,
    – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis, C. Valero und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. März 2019
    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1) im Licht der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990, L 158, S. 59).
    2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen HQ, IP, gesetzlich vertreten durch HQ, und JO (im Folgenden: HQ u. a.) auf der einen und der Luftfahrtgesellschaft Aegean Airlines SA auf der anderen Seite wegen der Erstattung von Flugscheinkosten, die HQ u. a. nach der Annullierung eines zu einer Pauschalreise gehörenden Fluges beantragt hatten.

    Rechtlicher Rahmen
    Unionsrecht
    Verordnung Nr. 261/2004

    3

    Die Erwägungsgründe 1, 2 und 16 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
    „(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
    (2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.

    (16) Für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird, sollte diese Verordnung nicht gelten.“

    4

    Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
    „Durch diese Verordnung werden unter den in ihr genannten Bedingungen Mindestrechte für Fluggäste in folgenden Fällen festgelegt:
    a) Nichtbeförderung gegen ihren Willen,
    b) Annullierung des Flugs,
    c) Verspätung des Flugs.“

    5

    Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 6 der Verordnung sieht vor:
    „Diese Verordnung lässt die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden Fluggastrechte unberührt. Diese Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird.“

    6

    Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 der Verordnung lautet:
    „Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen
    a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,
    b) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und
    c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,
    i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder
    ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder
    iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“

    7

    Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) Abs. 1 und 2 der Verordnung sieht vor:
    „(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen
    a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit
    – einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
    b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder
    c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.
    (2) Absatz 1 Buchstabe a) gilt auch für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung, sofern dieser sich aus der Richtlinie 90/314/EWG ergibt.“

    Richtlinie 90/314

    8

    Der 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 90/314 lautet:
    „Sowohl dem Verbraucher als auch der Pauschalreisebranche wäre damit gedient, wenn der Reiseveranstalter und/oder ‑vermittler verpflichtet wäre, Sicherheiten für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses nachzuweisen.“

    9

    Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
    „Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Pauschalreisen (einschließlich Pauschalurlaubsreisen und Pauschalrundreisen), die in der Gemeinschaft verkauft oder zum Kauf angeboten werden.“

    10

    Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie sieht vor:
    „Wenn der Verbraucher gemäß Absatz 5 vom Vertrag zurücktritt oder wenn der Veranstalter – gleich aus welchem Grund, ausgenommen Verschulden des Verbrauchers – die Reise vor dem vereinbarten Abreisetag storniert, hat der Verbraucher folgende Ansprüche:
    a) Teilnahme an einer gleichwertigen oder höherwertigen anderen Pauschalreise, wenn der Veranstalter und/oder der Vermittler in der Lage ist, ihm eine solche anzubieten. Ist die angebotene Pauschalreise von geringerer Qualität, so erstattet der Veranstalter dem Verbraucher den Preisunterschied; oder
    b) schnellstmögliche Erstattung aller von ihm aufgrund des Vertrages gezahlten Beträge.
    …“

    11

    Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
    „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Veranstalter und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, gegenüber dem Verbraucher die Haftung für die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen unabhängig davon übernimmt, ob er selbst oder andere Dienstleistungsträger diese Verpflichtungen zu erfüllen haben, wobei das Recht des Veranstalters und/oder Vermittlers, gegen andere Dienstleistungsträger Rückgriff zu nehmen, unberührt bleibt.“

    12

    Art. 7 der Richtlinie 90/314 sieht vor:
    „Der Veranstalter und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, weist nach, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind.“
    Niederländisches Recht

    13

    Zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse war die Richtlinie 90/314 in Titel 7A („Reisevertrag“) des Siebten Buches des Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch) in niederländisches Recht umgesetzt worden.

    14

    Nach Art. 7:504 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs darf ein Fluggast bei Kündigung des Reisevertrags durch den Reiseveranstalter von diesem u. a. die Erstattung des Preises der Flugscheine verlangen.

    15

    Nach Art. 7:512 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat der Reiseveranstalter die erforderlichen Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, um für den Fall, dass er seinen Verpflichtungen gegenüber einem Reisenden infolge einer Insolvenz nicht nachkommen kann, sicherzustellen, dass entweder diese Verpflichtungen durch einen Dritten übernommen werden oder der Reisepreis erstattet wird.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    16

    Die Aegean Airlines, eine Gesellschaft mit Sitz in Griechenland, schloss mit der in Zypern ansässigen G. S. Charter Aviation Services Ltd (im Folgenden: G. S. Charter) eine Chartervereinbarung, nach der sie gegen Zahlung eines Charterbetrags dieser ein bestimmtes Sitzplatzkontingent zur Verfügung stellen musste. G. S. Charter verkaufte diese Sitzplätze sodann weiter an Dritte, u. a. den in den Niederlanden ansässigen Reiseveranstalter Hellas Travel BV (im Folgenden: Hellas).

    17

    G. S. Charter und Hellas schlossen eine Vereinbarung, wonach vom 1. Mai bis 24. September 2015 jeden Freitag ein Hin- und Rückflug zwischen Eelde (Niederlande) und Korfu (Griechenland) durchgeführt, an Aegean Airlines eine Sicherheit geleistet und jeden Montag der für den folgenden Freitag vorgesehene Rückflug bezahlt werden solle.

    18

    HQ u. a. buchten am 19. März 2015 bei Hellas Hin- und Rückflüge für die Strecke Eelde–Korfu. Diese Flüge waren Teil einer „Pauschalreise“ im Sinne der Richtlinie 90/314, deren Preis an Hellas gezahlt wurde.

    19

    HQ u. a. erhielten für diese am 17. und 24. Juli 2015 vorgesehenen Flüge E‑Tickets mit dem Logo von Aegean Airlines sowie Unterlagen, in denen Hellas als Charterer genannt wurde.

    20

    Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, richtete Hellas einige Tage vor dem vereinbarten Abflugtag ein Schreiben sowie eine E‑Mail an HQ u. a., in denen sie diese darüber informierte, dass sie wegen stagnierender Buchungszahlen sowie Reiserücktritten aufgrund der „unsicheren Situation betreffend den Status von Griechenland“ zum damaligen Zeitpunkt die mit Aegean Airlines vereinbarten Flüge annullieren müsse, da diese beschlossen habe, ab dem 17. Juli 2015 keine Flüge mehr nach und von Korfu durchzuführen, weil sie den zuvor mit Hellas vereinbarten Preis nicht mehr erlangen könne. Hellas teilte daher HQ u. a. mit, dass deren Pauschalreise annulliert werde.

    21

    Am 3. August 2016 wurde über das Vermögen von Hellas das Insolvenzverfahren eröffnet. Sie hatte HQ u. a. die Flugscheinkosten nicht erstattet.

    22

    HQ u. a. erhoben vor der Rechtbank Noord-Nederland (Bezirksgericht Nordniederlande, Niederlande) gegen Aegean Airlines eine Klage zum einen nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 und zum anderen nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung auf Zahlung einer Ausgleichsleistung wegen Annullierung des Fluges vom 17. Juli 2015 sowie auf Erstattung der entsprechenden Flugscheinkosten.

    23

    Aegean Airlines stellte die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 261/2004, u. a. im Hinblick auf deren Art. 3 Abs. 6, in Abrede.

    24

    Mit Zwischenbeschluss vom 14. November 2017 verwarf jedoch die Rechtbank Noord-Nederland (Bezirksgericht Nordniederlande) diesen Einwand mit der Begründung, dass die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 261/2004 zugunsten von Pauschalreisenden nach dieser Bestimmung nur ausgeschlossen sei, wenn die Annullierung unabhängig vom Willen des Luftfahrtunternehmens sei, den oder die zu dieser Reise gehörenden Flüge durchzuführen oder nicht, wobei dies vorliegend nicht der Fall sei. Zum einen sei nämlich die Entscheidung, den Flug zu annullieren, von Aegean Airlines getroffen worden, die offensichtlich nur gewillt gewesen wäre, den Flug durchzuführen, wenn Hellas ihr vorher den festgesetzten Preis dafür gezahlt hätte, und zum anderen sei weder behauptet noch nachgewiesen worden, dass Hellas die Annullierung der Pauschalreise aus anderen Gründen als dieser Entscheidung von Aegean Airlines angekündigt habe.

    25

    Daher erhielten HQ u. a. gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 von Aegean Airlines wegen der Annullierung des betreffenden Fluges eine Pauschalzahlung. Das Gericht entschied dagegen nicht über den Antrag auf Erstattung der Flugscheinkosten.

    26

    Hierzu machte Aegean Airlines hilfsweise geltend, dass sich, da es sich im vorliegenden Fall um eine Pauschalreise handele, aus Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 ergebe, dass sie HQ u. a. nicht den Betrag erstatten müsse, den diese für den Kauf ihrer Flugscheine an Hellas gezahlt hätten.

    27

    Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Noord-Nederland (Bezirksgericht Nordniederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
    1. Ist Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass ein Fluggast, der nach der (in nationales Recht umgesetzten) Richtlinie 90/314/EWG gegen seinen Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung seiner Flugscheinkosten hat, vom Luftfahrtunternehmen keine Erstattung mehr verlangen kann?
    2. Falls Frage 1 bejaht wird: Kann ein Fluggast vom Luftfahrtunternehmen dennoch Erstattung seiner Flugscheinkosten verlangen, wenn davon auszugehen ist, dass sein Reiseveranstalter, wenn er zur Haftung herangezogen würde, finanziell nicht in der Lage sein wird, die Flugscheinkosten tatsächlich zu erstatten und der Reiseveranstalter auch keine Vorsorgemaßnahmen getroffen hat, um die Erstattung sicherzustellen?

    Zu den Vorlagefragen

    28

    Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der nach der Richtlinie 90/314 gegen seinen Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung seiner Flugscheinkosten hat, vom Luftfahrtunternehmen gemäß dieser Verordnung keine solche Erstattung mehr verlangen kann, und zwar auch dann nicht, wenn der Reiseveranstalter finanziell nicht in der Lage ist, die Flugscheinkosten zu erstatten, und keine Maßnahmen getroffen hat, diese Erstattung sicherzustellen.

    29

    Zu der Frage, ob die Fluggäste, die gegen ihren Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung ihrer Flugscheinkosten haben, auch von dem Luftfahrtunternehmen die Erstattung ihrer Flugscheinkosten verlangen können, ist einleitend darauf hinzuweisen, dass zum einen nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit deren Art. 5 Abs. 1 Buchst. a das Luftfahrtunternehmen verpflichtet ist, bei Annullierung eines Fluges den betroffenen Fluggästen u. a. Unterstützungsleistungen in Form der Erstattung ihrer Flugscheinkosten anzubieten (vgl. Urteil vom 12. September 2018, Harms, C‑601/17, EU:C:2018:702, Rn. 12).

    30

    Zum anderen heißt es in Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung, dass der Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten auch für Fluggäste gilt, deren Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist, es sei denn, dass sich ein solcher Anspruch aus der Richtlinie 90/314 ergibt.

    31

    Dem eindeutigen Wortlaut dieses Art. 8 Abs. 2 lässt sich entnehmen, dass bereits das Bestehen eines Erstattungsanspruchs aus der Richtlinie 90/314 ausreicht, um auszuschließen, dass ein Fluggast, dessen Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist, die Erstattung seiner Flugscheinkosten nach der Verordnung Nr. 261/2004 von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen verlangen kann.

    32

    Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 261/2004 gestützt. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 43 und 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich nämlich aus dieser Entstehungsgeschichte, dass der Unionsgesetzgeber zwar die Fluggäste, deren Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist, nicht vollständig vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausschließen wollte, doch ihnen gegenüber die Wirkungen des als ausreichend schützend angesehenen Systems, das zuvor nach der Richtlinie 90/314 errichtet worden war, beibehalten wollte.

    33

    Wie sich hierzu aus Art. 3 Abs. 6 der Verordnung Nr. 261/2004 ergibt, lässt diese Verordnung die aufgrund dieser Richtlinie bestehenden Rechte der Fluggäste, die eine Pauschalreise gebucht haben, unberührt.

    34

    Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 bewirkt damit, dass die Ansprüche auf Erstattung der Flugscheinkosten nach dieser Verordnung und nach der Richtlinie 90/314 nicht kumulierbar sind, wobei eine solche Kumulierung im Übrigen, wie auch der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dazu angetan wäre, zu einem ungerechtfertigten Übermaß an Schutz des betroffenen Fluggastes zu führen, und zwar zulasten des ausführenden Luftfahrtunternehmens, da dieses in diesem Fall nämlich Gefahr liefe, einen Teil der Verantwortung übernehmen zu müssen, die dem Reiseveranstalter seinem Kunden gegenüber nach dem mit diesem geschlossenen Vertrag obliegt.

    35

    Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Fluggäste, die nach der Richtlinie 90/314 gegen ihren Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung ihrer Flugscheinkosten haben, nicht das Luftfahrtunternehmen nach der Verordnung Nr. 261/2004 auf Erstattung in Anspruch nehmen können.

    36

    Dieses Ergebnis gilt auch in dem Fall, dass der Reiseveranstalter finanziell nicht in der Lage sein sollte, die Flugscheinkosten zu erstatten, und keine Maßnahmen getroffen haben sollte, diese Erstattung sicherzustellen.

    37

    Nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 ist es nämlich unerheblich, ob der Reiseveranstalter finanziell nicht in der Lage ist, die Flugscheinkosten zu erstatten, ob er Maßnahmen zur Sicherstellung dieser Erstattung getroffen hat oder auch, ob durch diese Umstände die Erfüllung seiner Verpflichtung zur Entschädigung der betroffenen Fluggäste gefährdet wird.

    38

    Diese Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 wird nicht dadurch entkräftet, dass das Hauptziel dieser Verordnung, wie ihrem ersten Erwägungsgrund zu entnehmen ist, darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

    39

    Aus Rn. 32 des vorliegenden Urteils ergibt sich nämlich, dass der Unionsgesetzgeber das ausreichend schützende System, das zuvor nach der Richtlinie 90/314 errichtet worden war, speziell berücksichtigt hat.

    40

    Insbesondere sieht Art. 7 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren 21. Erwägungsgrund u. a. vor, dass der Reiseveranstalter nachweisen muss, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge sichergestellt ist.

    41

    Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 7 der Richtlinie 90/314 die Erfolgspflicht aufstellt, den Pauschalreisenden für den Fall des Konkurses des Reiseveranstalters ein Recht auf die Erstattung gezahlter Beträge zu verleihen, und dass diese Garantie speziell dazu bestimmt ist, den Verbraucher gegen die Folgen des Konkurses – unabhängig von seinen Ursachen – zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 1999, Rechberger u. a., C‑140/97, EU:C:1999:306, Rn. 74, sowie Beschluss vom 16. Januar 2014, Baradics u. a., C‑430/13, EU:C:2014:32, Rn. 35).

    42

    Der Gerichtshof hat darüber hinaus befunden, dass eine nationale Regelung die Verpflichtungen aus dieser Bestimmung nur dann ordnungsgemäß umsetzt, wenn sie unabhängig von ihren Modalitäten bewirkt, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters für die Fluggäste die Erstattung aller von ihnen gezahlten Beträge tatsächlich sichergestellt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 1999, Rechberger u. a., C‑140/97, EU:C:1999:306, Rn. 64, sowie Beschluss vom 16. Januar 2014, Baradics u. a., C‑430/13, EU:C:2014:32, Rn. 38).

    43

    Andernfalls verfügt, wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, der betroffene Reisende jedenfalls über die Möglichkeit, eine Klage gegen den betreffenden Mitgliedstaat auf Ersatz des Schadens zu erheben, der ihm durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 45 bis 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    44

    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der nach der Richtlinie 90/314 gegen seinen Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung seiner Flugscheinkosten hat, vom Luftfahrtunternehmen gemäß dieser Verordnung keine solche Erstattung mehr verlangen kann, und zwar auch dann nicht, wenn der Reiseveranstalter finanziell nicht in der Lage ist, die Flugscheinkosten zu erstatten, und keine Maßnahmen getroffen hat, diese Erstattung sicherzustellen.

    Kosten

    45
    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

    Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass ein Fluggast, der nach der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen gegen seinen Reiseveranstalter einen Anspruch auf Erstattung seiner Flugscheinkosten hat, vom Luftfahrtunternehmen gemäß dieser Verordnung keine solche Erstattung mehr verlangen kann, und zwar auch dann nicht, wenn der Reiseveranstalter finanziell nicht in der Lage ist, die Flugscheinkosten zu erstatten, und keine Maßnahmen getroffen hat, diese Erstattung sicherzustellen.

    RechtsgebietFluggastrechteVorschriftenArt. 8 Abs. 2 FluggastrechteVO