· Fachbeitrag · Verfahrensrecht
Einspruchsrücknahme als verfahrensrechtliches Gestaltungsmittel: Was ist zu beachten?
von RiFG Prof. Dr. Volker Kreft, Diplom-Finanzwirt, Bielefeld
| Jeder steuerliche Berater kommt im Rahmen seiner Tätigkeit häufig an den Punkt zu entscheiden, ob es sinnvoll oder sogar notwendig ist, einen eingelegten Einspruch zurückzunehmen. Insbesondere kann sich eine solche Verfahrensfrage stellen, wenn das FA auf die fehlenden Erfolgsaussichten hinweist oder gar im Falle der Fortführung des Einspruchsverfahrens eine Verböserung androht. Um das Gestaltungsmittel der Einspruchsrücknahme für die Mandanten optimal nutzen zu können, sollte man einige verfahrensrechtliche Problematiken unbedingt kennen. Der folgende Beitrag zeigt, welche Spielregeln hier zu beachten sind und was für Auswirkungen das auf die Kanzleiorganisation hat. |
1. Allgemeines
Schätzt der steuerliche Berater die Erfolgsaussichten negativ ein, will er der Verböserung entgehen oder will er die Hinzuziehung Dritter zum Einspruchsverfahren vermeiden, können diese Ziele mit einer Rücknahme des eingelegten Einspruchs erreicht werden. Die Rücknahme, die als empfangsbedürftige Willenserklärung mit dem Zugang bei der Empfangsbehörde wirksam wird, beendet unmittelbar das Verfahren.
PRAXISTIPP | Von der Rücknahme des Einspruchs gemäß § 362 AO ist der Verzicht auf den (künftig zu erhebenden) Einspruch (§ 354 AO) zu unterscheiden. |
2. Inhalt der Rücknahmeerklärung
Da die Rücknahmeerklärung eine empfangsbedürftige Willenserklärung ist, ist der Inhalt im Zweifel unter Anwendung der Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Entscheidend ist dabei, wie die Finanzbehörde als Erklärungsempfänger deren objektiven Erklärungsgehalt verstehen musste. Es kommt also auf den Inhalt der Erklärung aus der Sicht des Empfängerhorizonts an. Dabei sind nach der Rechtsprechung des BFH (8.6.00, IV R 37/99, BStBl II 01, 162) auch Umstände in Betracht zu ziehen, die sich nicht aus dem Rücknahmeschreiben selbst ergeben, die jedoch der entscheidenden Behörde und ggf. den anderen Verfahrensbeteiligten bekannt sind.
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Zunächst wird in solchen Fällen also der wirkliche Inhalt der Rücknahmeerklärung anhand des der Finanzbehörde als Erklärungsempfänger vorhandenen Kenntnisstandes über den bisherigen Verfahrensablauf ermittelt. Sodann stellt sich die weitere Frage, welche für die Finanzbehörde innerhalb der einzelnen organisatorischen Einheiten handelnden Personen als Empfänger dieser an die Behörde gerichteten Erklärung anzusehen sind. Denn hiervon hängt z. B. ab, welche Kenntnisse über den Gang des Verfahrens bei den in Betracht kommenden Personen vorhandenen sind, auf deren Grundlage eine solche Erklärung ggf. auszulegen ist.
Nach Auffassung des FG Köln (16.12.20, 4 K 1039/20, Rev. BFH: VIII R 6/21) ist für die Auslegung einer Erklärung über die Einspruchsrücknahme nur auf den Empfängerhorizont des für die Bearbeitung der Einsprüche zuständigen Beamten abzustellen. Auf den Empfängerhorizont anderer Sachbearbeiter im Finanzamt (etwa Beamte der zuständigen Veranlagungsstelle) kommt es demnach nicht an. Die Klärung dieser Rechtsfrage durch den BFH steht derzeit allerdings noch aus.
Verfahrensrechtlich ist hinsichtlich der Auslegung zu beachten, dass für außerhalb der Rücknahmeerklärung liegende Sachverhaltsumstände, die deren Verständnis entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch in ihr Gegenteil wandeln sollen (z. B. anstatt der vorliegenden Rücknahme sollte es sich um eine bloße Einschränkung der Einsprüche handeln), nicht das FA die Beweislast trifft, sondern den sich hierauf berufenden Steuerpflichtigen.
PRAXISTIPP | Insbesondere bei komplexeren Sachverhalten ‒ etwa bei mehreren angefochtenen Steuerbescheiden und mehreren Beteiligten ‒ sollte daher zur Vermeidung von Unklarheiten darauf geachtet werden, die jeweiligen Einspruchsführer und Steuerbescheide präzise zu benennen. |
3. Umfang der Rücknahmeerklärung
Hinsichtlich des Umfangs der Rücknahmeerklärung gilt das „Ganz-oder-gar-nicht-Prinzip“. M. a. W., eine Teilrücknahme (etwa in Bezug auf einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid) ist grundsätzlich unzulässig. Allerdings kann die Erklärung einer Teilrücknahme als Einschränkung des Antrags i. S. d. § 357 Abs. 3 S. 2 AO zu deuten sein mit der Folge, dass dadurch die Intensität der Aufklärung durch die Behörde eingeschränkt wird.
PRAXISTIPP | Wegen der Unzulässigkeit einer Teilrücknahme sollte der steuerliche Berater des Einspruchsführers daher vor einer solchen Erklärung sorgfältig prüfen, ob noch aus weiteren Gründen Rechtmäßigkeitsbedenken gegen die Steuerfestsetzung oder -feststellung bestehen oder noch Wahlrechte ausgeübt werden sollen. |
Um eine Teilrücknahme handelt es sich im Übrigen nicht, wenn (gleichzeitig) mehrere Steuerbescheide angefochten worden sind, aber nur der Einspruch gegen einen oder mehrere (nicht alle) der angefochtenen Bescheide zurückgenommen wird („unechte Teilrücknahme“) oder wenn der Einspruch von mehreren Einspruchsführern erhoben wurde, später von einigen (nicht von allen) aber zurückgenommen wird (objektive und subjektive „Einspruchshäufung“).
Beachten Sie | Der Grundsatz der Unzulässigkeit der Teilrücknahme wird durchbrochen durch die Ausnahme des § 362 Abs. 1a AO. Die Besteuerungsgrundlage, auf die sich die Teilrücknahme des § 362 Abs. 1a AO bezieht, darf dann entgegen § 367 Abs. 2 S. 1 AO nicht mehr überprüft werden; insoweit besteht Teilbestandskraft (Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 362 AO Tz. 7).
4. Rücknahmefrist
Besondere Aufmerksamkeit sollte der steuerliche Berater der Einhaltung der Frist für die Rücknahmeerklärung widmen. Nach dem Gesetzwortlaut des § 362 Abs. 1 S. 1 AO kann die Rücknahme nur bis zur Bekanntgabe eines Vollabhilfebescheids oder der (das Verfahren abschließenden) Einspruchsentscheidung erklärt werden.
Entscheidend ist, dass die Rücknahmeerklärung in schriftlicher oder elektronischer Form der Empfangsbehörde bis zu dem Zeitpunkt zugegangen ist, in dem die Einspruchsentscheidung dem Einspruchsführer bekannt gegeben worden ist. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ist dabei bei Bekanntgabe mittels einfachen Briefes zugunsten des Einspruchsführers anzuwenden (BFH 26.2.02, X R 44/00, BFH/NV 02, 1409). Das heißt, der steuerliche Berater kann den Einspruch bei einem tatsächlichen Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist ‒ unabhängig von der tatsächlichen Kenntnisnahme vom Inhalt einer verbösernden Einspruchsentscheidung ‒ noch bis zum Ablauf der Bekanntgabefrist zurücknehmen.
MERKE | Da die Rechtsprechung des BFH die Drei-Tages-Frist mittlerweile als echte gesetzliche Frist i. S. d. § 108 AO ansieht, gilt insoweit auch die Wochenend- und Feiertagsregelung des § 108 Abs. 3 AO (BFH 14.10.03, IX R 68/98, BStBl II 03, 898). Endet die Drei-Tages-Frist also etwa auf einem Sonntag, kann der Einspruch noch bis zum Ablauf des Montags (BFH 13.2.20, VI R 38/17, BFH/NV 20, 871: bis 24:00 Uhr) zurückgenommen werden. |
Höchstrichterlich nicht geklärt ist, wie zu verfahren ist, wenn die Bekanntgabe außerhalb der Drei-Tages-Frist erfolgt, also etwa am vierten oder fünften Tag nach der Aufgabe zur Post. Aktuell hat sich das FG Niedersachsen in einem Gerichtsbescheid vom 3.5.21 (9 K 168/20, Rev. BFH: IX R 16/21) hierzu positioniert. Das FG hat zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden, dass eine Rücknahme zur Vermeidung einer verbösernden Einspruchsentscheidung auch dann noch bis zum Ablauf des Bekanntgabetages wirksam ist, wenn es hinsichtlich der Bekanntgabe auf den tatsächlichen Zugang außerhalb der Bekanntgabefiktion ankommt. Dies sei aus teleologischen, gesetzessystematischen und verfassungsrechtlichen Erwägungen geboten.
Beachten Sie | Da die Verfahrensordnung ein Festhalten des exakten Zugangszeitpunktes nicht vorsieht und ein solcher Zeitpunkt daher in der Praxis auch nicht dokumentiert wird (so auch im dortigen Streitfall), würde nach Auffassung des FG eine andere Auslegung in Konfliktfällen allein noch zu einer Beweislastentscheidung führen (wer kann und muss beweisen, dass die Rücknahme vor dem Zugang der Einspruchsentscheidung erfolgt ist). Dies könne nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen.
PRAXISTIPP | Wird die Rechtsauslegung des FG vom BFH im anhängigen Revisionsverfahren bestätigt, hat dies Auswirkungen auf die Kanzleiorganisation. Folgende Maßnahmen scheinen geboten:
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Abgrenzung: Im Finanzgerichtsprozess kann eine Klagerücknahme noch gemäß § 72 Abs. 1 S. 1 FGO im Grundsatz bis zur Rechtskraft des Urteils erfolgen. Die Wirksamkeit der Klagerücknahme nach Abschluss der mündlichen Verhandlung, bei Verzicht auf die mündliche Verhandlung und nach Ergehen eines Gerichtsbescheides ist allerdings nur mit Einwilligung des Beklagten (FA) möglich (§ 72 Abs. 1 S. 2 AO).
5. Wirkungen der Rücknahme
Die Rücknahme des Einspruchs gegen einen Steuerbescheid führt unabhängig von dessen materieller Rechtmäßigkeit zu dessen formeller Bestandskraft, sodass eine Änderung dieses Bescheides zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen nur noch möglich ist, wenn er oder das FA sich hierfür auf eine der in der AO (§§ 129, 164, 172 ff. AO) oder in den Einzelsteuergesetzen geregelten verfahrensrechtlichen Anspruchsgrundlagen berufen können.
Beachten Sie | Beruht eine angedrohte Verböserung etwa auf einer neuen Tatsache (z. B. nicht erklärte Einnahme) und ist noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, kann eine Einspruchsrücknahme wegen der Möglichkeit der nachfolgenden Änderung des angefochtenen Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Schlechterstellung letztlich nicht verhindern.
Die Rücknahme hat den Verlust des „eingelegten“ (s. § 362 Abs. 2 AO) Einspruchs zur Folge, d. h.: Nimmt der Einspruchsführer seinen Einspruch noch vor Ablauf der Einspruchsfrist zurück und legt er auch noch innerhalb der Frist (und, ohne dass eine [Teil-]Einspruchsentscheidung ergangen ist) erneut Einspruch ein, ist der zweite erneut eingelegte Einspruch zulässig (Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 362 AO Tz. 9). Wird innerhalb der Frist ein zweiter Einspruch eingelegt, bevor der erste Einspruch zurückgenommen worden ist, wird der zweite Einspruch zulässig, wenn der erste zurückgenommen wird. Der zweite Einspruch wächst dann in die Zulässigkeit hinein. Wird der innerhalb der Frist eingelegte Einspruch zurückgenommen, aber erst nach Fristablauf erneut Einspruch eingelegt, ist dieser Einspruch unzulässig (FG Baden-Württemberg 25.6.12, 8 K 3603/11, DStRE 13, 441).
6. Folgen eines unterbliebenen Verböserungshinweises
Vielfach gehen steuerliche Berater in der Praxis davon aus, dass bei unterbliebenem Hinweis auf eine verbösernde Einspruchsentscheidung eine Änderung des angefochtenen Steuerbescheides zum Nachteil des Einspruchsführers im Rahmen einer Einspruchsentscheidung generell nicht zulässig ist. In diesem Zusammenhang ist Folgendes zu beachten: Eines Verböserungshinweises nach § 367 Abs. 2 S. 2 AO bedarf es nicht, wenn eine Steuerfestsetzung selbst nach Rücknahme eines Einspruchs nach den allgemeinen Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen zu ändern wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen ist es auch unbeachtlich, wenn der Steuerpflichtige vor Gebrauchmachen von einer solchen Korrekturmöglichkeit verfahrenswidrig nicht gehört worden ist (vgl. BFH 10.11.89, VI R 124/88, BStBl II 90, 414; FG Saarland 14.12.01, 1 K 130/00; FG Hamburg 28.10.03, III 219/02).
PRAXISTIPP | Bei Ergehen einer verbösernden Einspruchsentscheidung trotz unterbliebenem Verböserungshinweis sollte in jedem Fall aber die Möglichkeit der Einspruchsrücknahme bis zum Ablauf des Tages der Bekanntgabe (s. o.) geprüft und ggf. genutzt werden. So erhält man die Möglichkeit, Einwendungen gegen einen ggf. nachfolgenden Änderungsbescheid geltend zu machen. |
7. Schlussempfehlungen an die steuerliche Praxis
Die vorstehenden Ausführungen zeigen die vielen Besonderheiten und Fallstricke im Zusammenhang mit der Einspruchsrücknahme auf, die man als Berater zu beachten hat. Insbesondere im Hinblick auf eine optimale Kanzleiorganisation sollten die aufgezeigten Aspekte berücksichtigt werden. Unabhängig davon bleibt abschließend die Empfehlung, zeitnah (innerhalb von 14 Tagen) nach Ergehen eines Verböserungshinweises nach § 367 Abs. 2 S. 2 AO die Sach- und Rechtslage sorgfältig zu prüfen, die Erfolgsaussichten abzuwägen und den Einspruch ggf. zurückzunehmen. So lassen sich zuverlässig verbösernde Einspruchsentscheidungen vermeiden.