· Fachbeitrag · Steuerhinterziehung
Keine Haftung von Bankmitarbeitern wegen Beihilfe bei Anonymität der mutmaßlichen Haupttäter!
von Richter am Bundesfinanzhof Joachim Moritz, München
| Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass derjenige, der Kapital anonym ins Ausland verbringt, auch in der Steuererklärung unrichtige Angaben zu den daraus erzielten Erträgen macht. Demgemäß setzt die Feststellung einer Steuerhinterziehung voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge steuerpflichtige Erträge erzielt, dadurch Steuern hinterzogen und dabei vorsätzlich gehandelt hat. Verbleiben jedoch Zweifel, ob und in welchem Umfang die mutmaßlichen Haupttäter Steuerhinterziehungen begangen haben, kommt auch eine Haftung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung nicht in Betracht ( BFH 15.1.13, VIII R 22/10 ). |
1. Problemstellung
Bereits in 2006 hat der für die Besteuerung der Kapitaleinkünfte zuständige VIII. Senat des BFH grundlegende Aussagen zum Verhältnis Strafverfahren und Besteuerungsverfahren getroffen und sich insbesondere zur Feststellung der subjektiven und objektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung geäußert (BFH 7.11.06, VIII R 81/04). Angesichts der - nicht zuletzt vom „Fall Hoeneß“ angeheizten - Diskussion in der Öffentlichkeit, ob die seit 1919 in der RAO verankerte Selbstanzeige eingeschränkt oder gar abgeschafft werden soll, hat diese Problematik erhebliche Relevanz. Das gilt umso mehr, als die Finanzverwaltung in den letzten Jahren bei Verdacht auf strafbare Handlungen i.d.R. parallel zum Besteuerungsverfahren umgehend ein Strafverfahren einleitet.
Der BFH hat im Urteil VIII R 81/04 nochmals unmissverständlich klargestellt, dass sich die Rechte und Pflichten der Beteiligten nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften richten. Auch wenn Steuerpflichtige nach dem „nemo-tenetur-Prinzip“ nicht gezwungen sind, sich selbst zu belasten, bleiben sie trotz des gegen sie eingeleiteten Strafverfahrens im Besteuerungsverfahren zur Mitwirkung verpflichtet (vgl. BGH 31.5.68, 4 StR 19/68, BGHST 22, 170; BVerfG 13.1.81, 1 BvR 116/77, BVerfG 56, 37). Das gilt insbesondere auch für die Sachverhaltsaufklärung.
PRAXISHINWEIS | Steuerpflichtige, die wegen strafrechtlichen Ermittlungen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen, laufen daher Gefahr, im laufenden Besteuerungsverfahren mit einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen konfrontiert zu werden. |
Beachten Sie | Soweit in diesem Zusammenhang eine Steuerhinterziehung in Betracht kommt, verweist der BFH darauf, dass die subjektiven und objektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach immer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen sind; und zwar auch bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten.
Die für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO erforderlichen Feststellungen sind nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO), sondern nach denjenigen der AO und der FGO zu treffen (BFH 5.3.79, GrS 5/77). Indes ist auch im Besteuerungs- und FG-Verfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ zu beachten (BFH-Urteil VIII R 81/04 m.w.N.). Dies bedeutet jedoch keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrens, sondern läuft darauf hinaus, dass die Finanzbehörde als Steuergläubiger die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt.
PRAXISHINWEIS | Bezüglich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung ist indes kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt. |
In einer Art „Zwei-Stufen-Theorie“ differenziert der BFH dann zwischen der Feststellung einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach und einer Steuerhinterziehung der Höhe nach:
- Die Feststellung einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach ist mittels reduzierten Beweismaßes nicht zulässig; eine Schätzungsbefugnis nach § 162 AO gibt es nicht. Eine Straftat kann das Gericht nur feststellen, wenn es von ihrem Vorliegen überzeugt ist. Insoweit findet ausschließlich § 96 Abs. 1 S. 1, 1. HS FGO Anwendung; einem Steuerpflichtigen darf die Verletzung von Mitwirkungspflichten insoweit nicht vorgeworfen werden. Das gilt gleichermaßen für die Verletzung sog. erweiterter Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten nach § 90 Abs. 2 AO.
- Ist das Gericht dem Grunde nach von einer Steuerhinterziehung überzeugt, besteht hingegen die Möglichkeit, die Höhe der hinterzogenen Steuern nach § 96 Abs. 1 S. 1 FGO i.V.m. § 162 AO zu schätzen. Dabei schließt der Grundsatz „in dubio pro reo“ allerdings aus, die Schätzungen nach den allgemeinen Grundsätzen zur Verletzung von Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens auszurichten (vgl. Moritz, Inf 07, 203).
Bei anonymisierten Wertpapiertransfers ins Ausland stellt sich häufig das Problem, dass bei den ins Visier der Steufa geratenen Banken ein Teil der Kunden enttarnt werden kann, ein anderer Teil indes nicht. Die Finanzverwaltung versucht in derartigen Fällen, aus den von den enttarnten Kunden begangenen Steuerhinterziehungen auf Steuerhinterziehungen nicht enttarnter Kunden zu schließen und die insoweit mitursächlich gewordenen Bankmitarbeiter per Haftungsbescheid in Anspruch zu nehmen. Nachdem der BFH in einem AdV-Verfahren (BFH 16.7.09, VIII B 64/09, BStBl II 10, 8) bereits Bedenken geäußert hatte, hatte er nunmehr im Hauptsacheverfahren VIII R 22/10 über diese Thematik zu befinden.
2. Sachverhalt
Der Kläger war Leiter der Wertpapieradministration bei der Bank B, die an zwei gleichnamigen Auslandsgesellschaften in der Schweiz bzw. in Luxemburg beteiligt war. Nach Abstimmung mit der Revision sowie der Rechtsabteilung der Bank genehmigte der Kläger 1992 zwei Anweisungen, die darauf gerichtet waren, den anonymen Transfer von Wertpapieren zu den Auslandstöchtern der B zu ermöglichen.
Im Jahr 1996 begann die Finanzverwaltung bei B mit Ermittlungen wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch deren Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder. Das FA stellte fest, dass zahlreiche Kunden der B von der Möglichkeit, Kapital und Wertpapiere anonym über die Grenze zu transferieren, Gebrauch gemacht hatten. Trotz der Anonymisierung gelang es dem FA, etwa 75 % der Vorgänge einzelnen Bankkunden zuzuordnen. Weitere Ermittlungen ergaben, dass nahezu keiner der nachträglich enttarnten Kunden die Erträge aus den ins Ausland transferierten Wertpapieren in seiner ESt-Erklärung angegeben hatte. Die Identität der übrigen Kunden konnte die Finanzverwaltung nicht ermitteln. Insgesamt handelte es sich dabei um 638 Kunden, die Wertpapiere mit einem Nominalwert von über 300 Mio. DM transferiert hatten.
Das FA nahm den Kläger daraufhin wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 638 Fällen gemäß § 71 AO in Haftung. Die Haftungssumme errechnete es auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse hinsichtlich der Gruppe der enttarnten Kunden. Der dagegen erhobenen Klage gab das FG statt und hob den Haftungsbescheid auf. Die dagegen eingelegte Revision des FA wies der BFH als unbegründet zurück.
3. Die Begründung des BFH
Der BFH stellt zunächst klar, dass die Haftung gemäß § 71 AO voraussetzt, dass der in Anspruch Genommene eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt. Wer Teilnehmer einer Straftat ist, ergibt sich mangels eigener Begriffsbestimmungen für das Steuerrecht aus den §§ 25 bis 31 StGB (Täterschaft und Teilnahme). Die hier in Betracht kommende Haftung als Gehilfe setzt voraus, dass der Steuerschuldner den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO verwirklicht hat; er muss eine der in § 370 Abs. 1 AO beschriebene Tathandlungen mit Vorsatz begangen und dadurch Steuern verkürzt haben. Der Gehilfe muss dazu vorsätzlich beigetragen haben. Das FG hat gemäß § 96 FGO aufgrund freier Überzeugung zu entscheiden, ob die für den Erlass eines Haftungsbescheides gemäß § 71 AO erforderlichen Tatsachen vorliegen.
Nach Auffassung des BFH begegnet das angefochtene FG-Urteil keinen Bedenken. Die Haftung nach § 71 AO verlangt eine Steuerhinterziehung i.S. des § 370 Abs. 1 AO sowie die Feststellung entsprechender Tatsachen hinsichtlich einer sicher bestimmbaren Zahl von Fällen. Das setzt - so die unmissverständliche Aussage des BFH - tatsächliche Feststellungen dazu voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge Erträge erzielt hat, die er bewusst der Versteuerung entzogen hat.
Der BFH verweist darauf, dass es keinen allgemeinen Erfahrungssatz gibt, dass derjenige, der Kapital anonym ins Ausland verbringt, auch in der Steuererklärung unrichtige Angaben zu den daraus erzielten Erträgen macht. Demgemäß lehnt er auch die Möglichkeit der hinreichend sicheren Annahme einer Steuerhinterziehung im Sinne einer gruppenbezogenen Betrachtung (der nicht enttarnten Kunden), also ohne entsprechende einzelfallbezogene tatsächliche Feststellungen, ausdrücklich ab; das gilt ebenso für entsprechende Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Eine Haftung gemäß § 71 AO ohne ausreichende tatsächliche Feststellungen kommt daher nicht in Betracht.
4. Anmerkungen
Der Rezensionsentscheidung kommt weitreichende Bedeutung zu, da es sich um den ersten von mehreren beim BFH anhängigen Fällen handelt, bei denen Mitarbeiter von Banken wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Anspruch genommen wurden.
Im Streitfall lag die Besonderheit darin, dass die Finanzverwaltung ca. drei Viertel aller Vorgänge einzelnen Kunden konkret zuordnen konnte, während die restlichen Kunden anonym blieben. Dabei hatten aus dem Kreis der anonymen Kunden insgesamt mehr als 600 Personen Wertpapiere ins Ausland transferiert. Obwohl unklar war, ob die anonymen Kunden im Einzelfall tatsächlich eine Steuerhinterziehung begangen hatten bzw. ob ihr Vorgehen überhaupt eine steuerverkürzende Wirkung hatte, nahm das FA den Kläger, einen leitenden Mitarbeiter der Bank, daraufhin gemäß § 71 AO in Anspruch.
Für den Praktiker dürfte der Gedanke, hier mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu arbeiten oder aus dem Verhalten der enttarnten Kunden auf das Verhalten der nicht enttarnten zu schließen, durchaus naheliegen. Denn es erscheint realistisch, dass sich die anonym gebliebenen Kunden, die ebenso von der Möglichkeit des anonymen Wertpapiertransfers ins Ausland Gebrauch gemacht haben, in Sachen Steuerhinterziehung ähnlich verhalten haben wie die enttarnten Kunden. Dennoch hat der BFH zu Recht die Haftungsvoraussetzungen des § 71 AO verneint.
Der BFH verweist darauf, dass die Haftung gemäß § 71 AO voraussetzt, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO erfüllt ist und die entsprechenden Tatsachen hinsichtlich einer sicher bestimmbaren Zahl von Fällen festgestellt werden können. Daran scheiterte es hier schon deshalb, weil wegen der Anonymität der nicht enttarnten Kunden nicht geklärt werden konnte, ob diese tatsächlich eine Steuerhinterziehung begangen haben. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch einige aus dem Kreis der anonymen Kunden den Tatbestand des § 370 AO erfüllt haben dürften. Ob das wirklich der Fall war und ob dieses Vorgehen zu einer Steuerverkürzung geführt hat, bleibt indes offen.
Eine gruppenbezogene Betrachtung unter Verweis auf die enttarnten Kunden hat der BFH mit der Begründung verworfen, der strafrechtliche Begriff der Steuerhinterziehung gebiete eine auf den Einzelfall abstellende Betrachtung. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das gleiche gilt für Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen oder die Überlegung, für die Überzeugungsbildung des Gerichts komme ein reduziertes Beweismaß zum Tragen.
Auch wenn Wahrscheinlichkeitsüberlegungen oder eine gruppenbezogene Betrachtungsweise einen gewissen Reiz haben, zeigt sich die Richtigkeit der Überlegungen des BFH bereits daran, dass es keine vernünftigen und nachvollziehbaren Maßstäbe für die Größe einer Gruppe i.S. einer gruppenbezogenen Betrachtung gibt. Denn ab welcher Gruppengröße sollen gruppenbezogene Betrachtungen oder Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in Betracht kommen oder aber ausgeschlossen sein? Kommt das lediglich bei Gruppen von mehr als 500 oder gar 1000 Personen in Betracht oder wo auch immer soll die Grenze gezogen werden? Wie soll verfahren werden, wenn nur 10, nur 5 Kunden oder sogar nur 1 Kunde anonym bleiben? Denn je kleiner die Gruppe, desto schwieriger wird es mit der Vermutung, hier seien Steuerhinterziehungen vorgekommen.
5. Fazit
Das Rezensionsurteil stellt einen weiteren Meilenstein in Sachen Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO und Haftung gemäß § 71 AO dar. Nach der „Zwei-Stufen-Theorie“ ist davon auszugehen, dass hinsichtlich der Feststellung einer Steuerhinterziehung dem Grunde und der Höhe nach zu differenzieren ist:
- Hinsichtlich der Steuerhinterziehung dem Grunde nach darf das Gericht bei verbleibenden und nicht behebbaren Zweifeln auch nicht mittels reduzierten Beweismaßes - d.h. im Wege der Schätzung - zu einer Steuerhinterziehung kommen. Denn eine Straftat kann das Gericht nur feststellen, wenn es von ihrem Vorliegen überzeugt ist. Insoweit findet ausschließlich § 96 Abs. 1 S. 1 FGO Anwendung, d.h. einem Steuerpflichtigen darf die Verletzung von Mitwirkungspflichten - anders als bei einer Schätzung nach § 162 AO - nicht zum Vorwurf gemacht werden.
- Ist das Gericht dem Grunde nach aber von einer Steuerhinterziehung überzeugt, ist es möglich, die Höhe der hinterzogenen Steuern nach § 96 Abs. 1 S. 1 FGO i.V.m. § 162 AO zu schätzen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ schließt es lediglich aus, die Schätzung der hinterzogenen Steuern an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzrahmens auszurichten.
Die Rezensionsentscheidung ergänzt diese Aussagen noch: Die Haftung nach § 71 AO wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung setzt stets voraus, dass mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Tatbestand einer Steuerhinterziehung in vollem Umfang erfüllt ist, und zwar subjektiv wie objektiv. Hat das FG Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, ist der Haftungstatbestand des § 71 AO wegen der insoweit bestehenden Feststellungslast des FA zu verneinen. Kann eine Steuerhinterziehung des Haupttäters deshalb nicht sicher festgestellt werden, scheidet eine Haftung i.S. des § 71 AO aus. Das dürfte nicht nur im Zusammenhang mit anonymisierten Wertpapiertransfers ins Ausland, sondern generell gelten.