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  • 24.04.2018 · IWW-Abrufnummer 200840

    Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 06.02.2018 – C-359/16

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    6. Februar 2018(*)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 14 Nr. 1 Buchst. a – Entsandte Arbeitnehmer – Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Bescheinigung E 101 – Beweiskraft – Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung“

    In der Rechtssache C‑359/16

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2016, in dem Strafverfahren gegen

    Ömer Altun,
    Abubekir Altun,
    Sedrettin Maksutogullari,
    Yunus Altun,
    Absa NV,
    M. Sedat BVBA,
    Alnur BVBA,

    Beteiligter:
    Openbaar Ministerie,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça, A. Rosas und C. Vajda, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Regan (Berichterstatter),

    Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
    Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2017,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    –        von Ö. Altun, A. Altun, S. Maksutogullari und Y. Altun sowie der Absa NV, der M. Sedat BVBA und der Alnur BVBA, vertreten durch H. Van Bavel, D. Demuynck, E. Matthys, N. Alkis, S. Renette, P. Wytinck und E. Baeyens, advocaten,
    –        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von P. Paepe, advocaat,
    –        von Irland, vertreten durch A. Joyce und G. Hodge als Bevollmächtigte im Beistand von C. Toland, SC,
    –        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und C. David als Bevollmächtigte,
    –        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und E. E. Sebestyén als Bevollmächtigte,
    –        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, A. Siwek und D. Lutostańska als Bevollmächtigte,
    –        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. van Beek als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. November 2017

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 100, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), sowie von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Ömer Altun, Herrn Abubekir Altun, Herrn Sedrettin Maksutogullari und Herrn Yunus Altun sowie gegen die Absa NV, die M. Sedat BVBA und die Alnur BVBA wegen der Entsendung bulgarischer Arbeitnehmer nach Belgien.

    Rechtlicher Rahmen

    Verordnung Nr. 1408/71

    3

    Die Art. 13 und 14 der Verordnung Nr. 1408/71 gehörten zu deren Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“).

    4

    Art. 13 der Verordnung bestimmte:

    „(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

    (2)      Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:

    a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

    …“

    5

    Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) dieser Verordnung sah vor:

    „Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

    1.      a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.

    …“

    6

    Art. 80 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmte:

    „Der bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingesetzten Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – im Folgenden ‚Verwaltungskommission‘ genannt – gehört je ein Regierungsvertreter jedes Mitgliedstaats an, der gegebenenfalls von Fachberatern unterstützt wird. …“

    7

    Nach Art. 81 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 hatte die Verwaltungskommission u. a. alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen zu behandeln, die sich aus dieser Verordnung ergaben.

    8

    Art. 84a Abs. 3 der Verordnung sah vor:

    „Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich dieser Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Staates bzw. des Wohnstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“

    9

    Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

    10

    Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 wurde im Wesentlichen ersetzt durch Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004, wonach „[v]orbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt[, dass] eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, … den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats [unterliegt]“.

    11

    Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 wurde im Wesentlichen ersetzt durch Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004, wonach „[e]ine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, … weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats [unterliegt], sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst“.

    Verordnung Nr. 574/72

    12

    Titel III („Durchführung der Vorschriften der Verordnung zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 574/72 legte u. a. die Einzelheiten der Durchführung der Art. 13 und 14 der Verordnung Nr. 1408/71 fest.

    13

    Insbesondere sah Art. 11 der Verordnung Nr. 574/72, der die Formvorschriften bei Entsendung eines Arbeitnehmers betraf, in Abs. 1 Buchst. a vor, dass in den Fällen u. a. des Art. 14 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 der Träger, den die zuständige Behörde desjenigen Mitgliedstaats bezeichnet, dessen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden sind, eine Bescheinigung – die sogenannte „Bescheinigung E 101“ – darüber ausstellt, dass und bis zu welchem Zeitpunkt diese Rechtsvorschriften weiterhin für den Arbeitnehmer gelten.

    14

    Die Verordnung Nr. 574/72 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

    15

    Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

    „(1)      Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der [Verordnung Nr. 883/2004] und der [Verordnung Nr. 987/2009] bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

    (2)      Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.

    (3)      Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.

    (4)      Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“

    16

    Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009, der im Wesentlichen Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 ersetzt hat, sieht vor, dass „[a]uf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers … der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] anzuwenden sind, [bescheinigt,] dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind“. Diese Bescheinigung erfolgt durch eine sogenannte „Bescheinigung A 1“.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    17

    Die Sociale Inspectie (Sozialaufsichtsbehörde, Belgien) führte bei Absa, einer im Bausektor in Belgien tätigen Gesellschaft belgischen Rechts, eine Prüfung hinsichtlich der Beschäftigung ihrer Belegschaft durch.

    18

    Bei dieser Prüfung wurde festgestellt, dass Absa seit 2008 praktisch kein Personal beschäftigte und mit den Arbeiten auf sämtlichen Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmer betraute, die Arbeitnehmer nach Belgien entsandten. Ferner wurde festgestellt, dass die Beschäftigung dieser Arbeitnehmer bei dem belgischen Träger, dem die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge obliegt, nicht angemeldet worden war, da sie Bescheinigungen E 101 oder A 1 besaßen, die von dem von der zuständigen bulgarischen Behörde gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 benannten Träger ausgestellt worden waren.

    19

    Eine im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens eines belgischen Untersuchungsrichters in Bulgarien veranlasste gerichtliche Untersuchung ergab, dass diese bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübten.

    20

    Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Untersuchung stellte die belgische Sozialaufsichtsbehörde am 12. November 2012 beim zuständigen bulgarischen Träger einen mit Gründen versehenen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der Bescheinigungen E 101 oder A 1, die den entsandten Arbeitnehmern ausgestellt worden waren, um die es im Ausgangsverfahren geht.

    21

    Aus den Erklärungen der belgischen Regierung geht hervor, dass der zuständige bulgarische Träger am 9. April 2013 nach einem Erinnerungsschreiben der belgischen Sozialaufsichtsbehörde auf diesen Antrag antwortete, indem er eine Aufstellung der ausgestellten Bescheinigungen E 101 oder A 1 mit Angabe der jeweiligen Gültigkeitsdauer übersandte und mitteilte, dass die verschiedenen bulgarischen Unternehmen zum Zeitpunkt der Ausstellung dieser Bescheinigungen die Voraussetzungen der Entsendung administrativ erfüllt hätten. Dagegen wurden die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen in dieser Antwort nicht berücksichtigt.

    22

    Die belgischen Behörden leiteten Strafverfahren gegen die Angeklagten des Ausgangsverfahrens in deren Eigenschaft als Arbeitgeber, Hilfspersonen oder Beauftragte ein, weil sie erstens ausländische Staatsangehörige, die nicht berechtigt gewesen seien, sich länger als drei Monate in Belgien aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, ohne Arbeitserlaubnis beschäftigt oder ihre Beschäftigung ohne Arbeitserlaubnis zugelassen hätten, zweitens beim Arbeitsbeginn der Arbeitnehmer nicht die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung bei der für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zuständigen Stelle vorgenommen hätten und drittens die Arbeitnehmer nicht beim Rijksdienst voor Sociale Zekerheid (Landesamt für soziale Sicherheit, Belgien) versichert hätten.

    23

    Mit Urteil vom 27. Juni 2014 sprach die Correctionele rechtbank Limburg, afdeling Hasselt (Strafgericht Limburg, Abteilung Hasselt, Belgien), die Angeklagten von den vom Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Belgien) gegen sie erhobenen Vorwürfen mit der Begründung frei, dass die „Beschäftigung der bulgarischen Arbeitnehmer vollständig durch die ordnungsgemäß und rechtmäßig ausgestellten Bescheinigungen E 101/A 1 gedeckt“ sei.

    24

    Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein.

    25

    Mit Urteil vom 10. September 2015 verurteilte der Hof van beroep Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) die Angeklagten des Ausgangsverfahrens. Dieses Gericht stellte zwar fest, dass jedem der entsandten Arbeitnehmer eine Bescheinigung E 101 oder A 1 ausgestellt worden sei und die belgischen Behörden nicht das für die Anfechtung der Gültigkeit dieser Bescheinigungen vorgesehene Verfahren durchlaufen hätten, war jedoch der Auffassung, dass es durch diese Umstände nicht gebunden sei, weil die Bescheinigungen betrügerisch erwirkt worden seien.

    26

    Am 10. September 2015 erhoben die Angeklagten des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil.

    27

    Da der Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 hat, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Kann eine E-101-Bescheinigung, die gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 in der vor ihrer Aufhebung durch Art. 96 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 geltenden Fassung ausgestellt wurde, von einem anderen Gericht als dem des Entsendemitgliedstaats für nichtig erklärt oder außer Acht gelassen werden, wenn der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung trägt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde?

    Zur Vorlagefrage

    28

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen sind, dass, wenn ein Arbeitnehmer eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, ein Gericht des letztgenannten Mitgliedstaats eine gemäß der zweitgenannten Bestimmung ausgestellte Bescheinigung E 101 außer Acht lassen kann, wenn ihm der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung erlaubt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde.

    29

    Die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, zu dem Art. 14 dieser Verordnung gehört, bilden nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen, das bezweckt, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (Urteile vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe, C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Zu diesem Zweck wird in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 der Grundsatz aufgestellt, dass ein Arbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet er beschäftigt ist (Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe, C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    31

    Dieser Grundsatz gilt jedoch nur, „soweit nicht die Artikel 14 bis 17 [der Verordnung Nr. 1408/71] etwas anderes bestimmen“. In der Tat könnte die ausnahmslose Anwendung des in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung aufgestellten allgemeinen Grundsatzes in bestimmten Sonderfällen sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber und die Sozialversicherungseinrichtungen zur Schaffung statt zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten führen, die eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Personen bewirken würden, die unter die genannte Verordnung fallen (Urteil vom 4. Oktober 2012, Format Urządzenia i Montaże Przemysłowe, C‑115/11, EU:C:2012:606, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Für derartige Fälle enthält Art. 14 der Verordnung Nr. 1408/71 Sondervorschriften.

    32

    Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 hat insbesondere das Ziel, die Dienstleistungsfreiheit zugunsten von Unternehmen zu fördern, die Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten als den Staat ihrer Betriebsstätte entsenden. Diese Bestimmung soll Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer überwinden helfen sowie die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung fördern und dabei administrative Schwierigkeiten insbesondere für die Arbeitnehmer und die Unternehmen vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Um zu vermeiden, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen seine im Übrigen dem System der sozialen Sicherheit dieses Staates unterliegenden Arbeitnehmer beim entsprechenden System eines anderen Mitgliedstaats anmelden muss, wenn sie zur Verrichtung von Arbeiten von begrenzter Dauer in diesen entsandt würden, kann es das Unternehmen nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 bei der Anmeldung seiner Arbeitnehmer beim System des ersten Mitgliedstaats belassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    34

    Die Anwendung dieser Vorschrift unterliegt jedoch zwei Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung, die die erforderliche Bindung zwischen dem Unternehmen, das den Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat als den Staat seiner Betriebsstätte entsendet, und dem entsandten Arbeitnehmer betrifft, verlangt, dass zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer während der Dauer seiner Entsendung eine arbeitsrechtliche Bindung erhalten bleibt. Die zweite Voraussetzung, die die Bindung des Unternehmens an den Mitgliedstaat, in dem es seine Betriebsstätte hat, betrifft, verlangt, dass das Unternehmen in diesem Mitgliedstaat gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 21 bis 24, 30, 33 und 40 bis 45).

    35

    In diesem Zusammenhang soll die Bescheinigung E 101 – ebenso wie die materiell-rechtliche Regelung in Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 – die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Dienstleistungsfreiheit fördern (Urteil vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36

    In dieser Bescheinigung erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das die betreffenden Arbeitnehmer beschäftigt, seine Betriebsstätte hat, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf diese Arbeitnehmer anwendbar bleibt. Wegen des Grundsatzes, dass die Arbeitnehmer einem einzigen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein sollen, hat diese Bescheinigung damit notwendig zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaats nicht angewandt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 21, und vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 38).

    37

    Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet dabei den ausstellenden Träger, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung E 101 aufgeführten Angaben zu gewährleisten (Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    38

    Ebenso würde der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit ausgeführt wird, seine Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verletzen – und die Ziele von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 verfehlen –, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung E 101 gebunden sähe und diese Arbeitnehmer zusätzlich seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellte (vgl. entsprechend Urteile vom 30. März 2000, Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 39, sowie vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 40).

    39

    Da die Bescheinigung E 101 eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss des betreffenden Arbeitnehmers an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    40

    Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit impliziert nämlich auch den des gegenseitigen Vertrauens.

    41

    Solange eine Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, hat deshalb der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass dieser bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist; der Träger kann daher den fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen (Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    42

    Allerdings ergibt sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass jeder Träger eines Mitgliedstaats eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vorzunehmen hat. Aus diesem Grundsatz ergibt sich ferner, dass die Träger der anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten dürfen, dass der Träger des betroffenen Mitgliedstaats dieser Pflicht nachgekommen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 3. März 2016, Kommission/Malta, C‑12/14, EU:C:2016:135, Rn. 37).

    43

    Folglich muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 ausgestellt hat, überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und diese Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt, Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben insbesondere deshalb geltend macht, weil diese den Tatbestand des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 nicht erfüllten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    44

    Nach Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 können sich die betreffenden Träger, wenn sie im Einzelfall namentlich bei der Beurteilung des Sachverhalts und damit der Frage, ob dieser unter Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, zu keiner Übereinstimmung gelangen, an die Verwaltungskommission gemäß Art. 80 dieser Verordnung wenden (vgl. entsprechend Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    45

    Gelingt es dieser nicht, zwischen den Standpunkten der zuständigen Träger in Bezug auf das in dem konkreten Fall anwendbare Recht zu vermitteln, steht es dem Mitgliedstaat, in dem der betreffende Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt – unbeschadet einer in dem Mitgliedstaat des ausstellenden Trägers etwa möglichen Klage – zumindest frei, gemäß Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, so dass der Gerichtshof die Frage des auf diesen Arbeitnehmer anwendbaren Rechts und damit die Richtigkeit der Angaben in der Bescheinigung E 101 prüfen kann (Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    46

    Im Fall eines – selbst offensichtlichen – Beurteilungsfehlers in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72, und auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Bedingungen, unter denen die betreffenden Arbeitnehmer ihre Tätigkeit ausüben, offensichtlich nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, auf deren Grundlage die Bescheinigung E 101 ausgestellt worden ist, ist daher das Verfahren, das zu befolgen ist, um etwaige Streitigkeiten zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Gültigkeit oder die Richtigkeit einer Bescheinigung E 101 beizulegen, einzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 52 und 53).

    47

    Mit der derzeit geltenden Verordnung Nr. 987/2009 ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs kodifiziert worden, indem darin der bindende Charakter der Bescheinigung E 101 und die ausschließliche Zuständigkeit des ausstellenden Trägers für die Beurteilung der Gültigkeit dieser Bescheinigung verankert wurden und ausdrücklich dieses Verfahren als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten sowohl über die Richtigkeit der vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente als auch über die Bestimmung der auf den betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften übernommen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 59).

    48

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen diese Erwägungen jedoch nicht dazu führen, dass sich die Rechtsunterworfenen in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 1996, Paletta, C‑206/94, EU:C:1996:182, Rn. 24, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 68, vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 35, sowie vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 37).

    49

    Der in dieser Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist. Die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften kann nämlich nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2007, Kofoed, C‑321/05, EU:C:2007:408, Rn. 38, und vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 27).

    50

    Die Feststellung eines Betrugs beruht auf einem Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt.

    51

    Das objektive Element besteht in der Nichterfüllung der in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen und in Rn. 34 des vorliegenden Urteils aufgeführten Voraussetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101.

    52

    Das subjektive Element besteht in der Absicht der Betreffenden, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen.

    53

    Die betrügerische Erwirkung einer Bescheinigung E 101 kann sich somit aus einer willentlichen Handlung – wie der unzutreffenden Darstellung der tatsächlichen Situation des entsandten Arbeitnehmers oder des ihn entsendenden Unternehmens – oder einer willentlichen Unterlassung – wie dem Verschweigen einer relevanten Information – ergeben, die in der Absicht erfolgt, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu umgehen.

    54

    Wenn im Rahmen des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Dialogs der Träger des Mitgliedstaats, in den Arbeitnehmer entsendet wurden, dem Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, konkrete Beweise vorlegt, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, hat der ausstellende Träger gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit anhand dieser Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen, wie aus der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht.

    55

    Nimmt der ausstellende Träger nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine solche erneute Überprüfung vor, müssen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, die betreffenden Bescheinigungen außer Acht lässt.

    56

    Die Personen, denen in einem solchen Verfahren zur Last gelegt wird, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erlangten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, müssen jedoch unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften, bevor das nationale Gericht gegebenenfalls entscheidet, diese Bescheinigungen außer Acht zu lassen, und über die Verantwortlichkeit dieser Personen nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht befindet.

    57

    Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die von der belgischen Sozialaufsichtsbehörde in Bulgarien durchgeführte Prüfung die Feststellung erlaubt hat, dass die bulgarischen Unternehmen, die die im Ausgangsverfahren betroffenen Arbeitnehmer entsandt hatten, in Bulgarien keine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübten.

    58

    Ferner ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen betrügerisch erwirkt wurden, indem nicht der Wirklichkeit entsprechende Tatsachen vorgetragen wurden, um die nach der Unionsregelung für die Entsendung geltenden Voraussetzungen zu umgehen.

    59

    Wie in Rn. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ergibt sich außerdem aus den Erklärungen der belgischen Regierung, dass – was vom vorlegenden Gericht anhand der im gerichtlichen Verfahren festgestellten Tatsachen zu überprüfen ist – der zuständige bulgarische Träger, bei dem beantragt worden war, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen im Licht der Ergebnisse der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils erwähnten Prüfung erneut zu prüfen und zu widerrufen, es unterlassen hat, diese Ergebnisse zu berücksichtigen, um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt war.

    60

    In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens kann das nationale Gericht die betreffenden Bescheinigungen E 101 außer Acht lassen und hat festzustellen, ob die Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erwirkten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, auf der Grundlage des anwendbaren innerstaatlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden können.

    61

    Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen sind, dass, wenn der Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, den Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf dieser Bescheinigungen im Licht von im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise zu berücksichtigen, um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung der Bescheinigungen zu Recht erfolgt ist, das nationale Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung derartiger Bescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen kann, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.

    Kosten

    62

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

    Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004, und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung sind dahin auszulegen, dass, wenn der Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, den Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf dieser Bescheinigungen im Licht von im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise zu berücksichtigen, um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung der Bescheinigungen zu Recht erfolgt ist, das nationale Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung derartiger Bescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen kann, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.