02.04.2024 · IWW-Abrufnummer 240657
Finanzgericht Thüringen: Urteil vom 13.12.2023 – 4 K 294/20
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Thüringen
Urteil vom 13.12.2023
Tatbestand
I.
1
Strittig ist die ermäßigte Besteuerung einer Kapitalauszahlung einer Rente nach § 34 des Einkommensteuergesetzes - EStG -.
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Die Kläger wurden im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielten sonstige Einkünfte aus Leibrenten und Einkünfte aus Kapitalvermögen.
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Die Klägerin vereinbarte mit ihrem damaligen Arbeitgeber, der A GmbH, dass ein Teil ihres Gehaltes in Höhe von monatlich 180,00 Euro ab 01.12.2002 in Versorgungsleistungen i. S. d. § 1 Abs. 2 BetrAVG umgewandelt wird. Die Umwandlung erfolgte aus Entgeltansprüchen (Bruttoeinkommen) nach § 3 Nr. 63 EStG in Form von Beiträgen an die B Pensionskasse AG. Der Vertrag sah eine Wahl zwischen einer laufenden monatlichen Rente und einer Einmalzahlung vor. Diese Vereinbarung wurde tatsächlich durchgeführt. Mit Schreiben vom 15.05.2015 beantragte die Klägerin die Auszahlung eines einmaligen Kapitalbetrages in Höhe von ... Euro von der B Pensionskasse AG. Diese zahlte der Klägerin im Streitjahr 2015 einen Gesamterstattungsbetrag aus obiger Versicherung in Höhe von ... Euro (Rückkaufswert: ... Euro; Überschüsse ... Euro) aus.
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Mit Bescheid vom 01.02.2017 setzte der Beklagte gegenüber den Klägern eine Einkommensteuer in Höhe von ... Euro fest. Der Beklagte unterwarf den von der B Pensionskasse an die Klägerin ausgezahlten Betrag in Höhe von ... Euro der vollen Versteuerung (§ 22 Nr. 5 EStG) und nicht der Steuerermäßigung nach § 34 Abs. 1 EStG.
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Den gegen obigen Einkommensteuerbescheid eingelegten Einspruch wies das beklagte Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 22.08.2017 zurück. Zur Begründung führte es u. a. aus:
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"Die Einmalzahlung der Pensionskasse ist nicht nach § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 EStG ermäßigt zu besteuern.
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§ 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ist grundsätzlich auf alle Einkunftsarten anwendbar, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind und im Einzelfall keine Gründe für eine einschränkende Auslegung gegeben sind. Weder dem Wortlaut noch der Systematik nach dem Zweck der Norm lässt sich eine Beschränkung ihres Anwendungsbereichs auf bestimmte Einkunftsarten entnehmen (BFH-Urteil vom 20. September 2016, X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rn. 20). Auch stellt die Kapitalabfindung eine "Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten dar. Als "Vergütung" in diesem Sinne kommen alle Vorteile von wirtschaftlichem Wert in Betracht, die der Steuerpflichtige im Rahmen der jeweiligen Einkunftsart erzielt (BFH-Urteil in BFHE 245, BStBl II 2014, 668 [BFH 25.02.2014 - X R 10/12], Rz. 47f.). Die "Tätigkeit" besteht bei Alterseinkünften in der früheren Leistung von Beiträgen (BFH-Urteil in BFHE 243, 287 [BFH 23.10.2013 - X R 3/12], BStBl II 2014, Rz. 70).
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Es fehlt jedoch an der "Außerordentlichkeit" dieser Einkünfte.
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Dieses Erfordernis wird sowohl vom Wortlaut des § 34 Abs. 1 EStG als auch von dem des Einleitungssatzes des § 34 Abs. 2 EStG vorausgesetzt. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dient es der Einschränkung des eher weit geratenen Wortlauts des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG. Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten sind nur dann außerordentlich, wenn die Zusammenballung der Einkünfte nicht in dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der jeweiligen Einkünfteerzielung entspricht (BFH-Urteil vom 20. September 2016, X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rn. 23).
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Vorliegend beruht die Geltendmachung der Kapitalabfindung auf der Kündigung des Vertrages zum 01.04.2015. Es handelt sich um eine im Vertrag vorgesehene Leistung. Die Einkünfte aus dem Zufluss dieser Einmalzahlung sind nicht außerordentlich, wenn bereits im Zeitpunkt der Zusage der betrieblichen Altersversorgung das Kapitalwahlrecht vereinbart worden ist."
II.
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Mit ihrer Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung führen sie aus: Hinsichtlich des im Streitjahr an die Klägerin ausgezahlten Betrages der B Pensionskasse AG sei bereits von vornherein vertraglich ein Kapitalwahlrecht vereinbart gewesen. Die Anwendung der Fünftelregelung auf Einmalkapitalzahlungen der betrieblichen Altersversorgung sei steuersystematisch geboten. Es liege auch keine missbräuchliche Steuergestaltung vor, der durch Versagung der Fünftelregelung begegnet werden müsse. Vielmehr bestehe wegen des Progressionseffekts bei einmaligen Kapitalleistungen der betrieblichen Altersversorgung ein Bedürfnis, die Fünftelregelung anzuwenden. Einmalige Kapitalleistungen der betrieblichen Altersversorgung stellten für den einzelnen Steuerpflichtigen einmalige (atypische) Vorgänge in der lebenslangen Einkünfteerzielung dar. Es bestehe auch keine Feststellungslast des Steuerpflichtigen zur Darlegung einer empirischen Atypik. Des Weiteren verweist der Klägerbevollmächtigte auf seine Kommentierung in Horlemann (Hrsg.), Staatliche Förderung der Altersvorsorge und Vermögensbildung, Kz 200 § 34 EStG Anm. 98.
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Die ursprünglich mit der vorliegenden Klage begehrte Berücksichtigung von Handwerkerleistungen wurden nicht weiterverfolgt.
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Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 27.10.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.08.2017 dahingehend zu ändern, dass auf die von der B Pensionskasse AG im Streitjahr ausgezahlten ... Euro die Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 EStG angewandt wird.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist er auf die Einspruchsentscheidung und führt vertiefend aus, die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 EStG erfordere die "Außerordentlichkeit" der Einkünfte. Die Auszahlung des Kapitalbetrages müsse für den betreffenden Lebensbereich atypisch sein. Die vorliegend in Rede stehende Einmalauszahlung sei kein atypischer Vorgang, da er bei einer Vielzahl von Altersvorsorgeverträgen zur Anwendung komme.
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Die Beteiligten erklärten sich mit der Verwendung des statistischen Materials, das das Finanzgericht Köln im Verfahren mit dem Az. 15 K 855/18 im Hinblick auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.06.2019 (X R 7/18, BStBl II 2019, 583) zur Frage der Außerordentlichkeit der Einkünfte i. S. d. § 34 Abs. 2 Nr. 4, § 34 Abs. 1 EStG eingeholt hat, auch im vorliegenden Verfahren einverstanden. Die Einholung weiterer statistischer Erhebungen und Auskünfte zur obigen Frage wurde von den Beteiligten nicht begehrt.
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Weiter erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und mit einer Entscheidung des Berichterstatters nach § 79 a Abs. 3, 4 FGO einverstanden
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Auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Behördenakte wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Berichterstatter (§ 79 a Abs. 3, 4 FGO) entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 27.10.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.08.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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Das beklagte Finanzamt hat die Kapitalauszahlung der B Pensionskasse AG im Streitjahr in Höhe von ... Euro an die Klägerin zu Recht als in vollem Umfang einkommensteuerpflichtige Leistung gemäß § 22 Nr. 5 EStG angesehen. Denn die Beitragszahlungen waren unstreitig in vollem Umfang nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei gestellt worden (Urteil des BFH vom 20.09.2016, X RA 23/15, BStBl II 2017, 347 [BFH 20.09.2016 - X R 23/15]).
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In Bezug auf die in Rede stehende Kapitalauszahlung liegen keine außerordentlichen Einkünfte i. S. d. § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG vor. Denn die aufgrund der Kündigung der Klägerin erfolgte Kapitalauszahlung stellt keine Entschädigung für entgehende Einnahmen i. S. d. § 24 Nr. 1a EStG dar. Der geleistete Rückkaufswert dient nicht unmittelbar dem Ausgleich des Wegfalls zukünftiger Rentenzahlungen, sondern ist der gegenwärtige "Kaufpreis" für den Rückkauf der Rechte aus der Versicherung durch die Versicherungsgesellschaft. Weiterhin beruht er nicht auf einer neu geschaffenen Rechtsgrundlage, sondern ist lediglich die bei Kündigung vertraglich vorgesehene Rechtsfolge (Urteil des BFH vom 06.05.20, X R 7/19, BFH/NV 2021, 298 m. w. N.).
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Zwar stellt die in Rede stehende Kapitalauszahlung an die Klägerin im Streitjahr eine Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten i. S. d. § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG dar. Mehrjährig nach dieser Vorschrift ist eine Tätigkeit, soweit sie sich über mindestens zwei Veranlagungszeiträume erstreckt und einen Zeitraum von mehr als 12 Monaten umfasst. Die hier vorliegende Einmalauszahlung des Rückkaufswertes einer nach § 3 Nr. 63 EStG geförderten Pensionskassenversicherung stellt einen im Rahmen der Einkunftsart erzielten Vorteil dar, da § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG sämtliche Leistungen aus Direktversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds unabhängig davon erfasst, ob es sich um einmalige oder laufende Zahlungen handelt (Urteil des BFH vom 05.11.2019, X R 38/18, BFH/NV 2020, 673). Sie beruht auf der früheren Leistung von Beiträgen, da auch bei der Ermittlung des Rückkaufswertes die Höhe der zwischenzeitlich eingezahlten Prämien eine maßgebliche Größe bildet (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25.07.2012, IV ZR 201/10, BGHZ 194, 208). Die Mehrjährigkeit ist auch gegeben, da die Klägerin die Beiträge über mindestens zwei Veranlagungszeiträume und mehr als 12 Monate geleistet hat.
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Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes erfordert jedoch sowohl nach § 34 Abs. 1 EStG als auch nach dem Einleitungssatz des § 34 Abs. 2 EStG zusätzlich die "Außerordentlichkeit " dieser Einkünfte. Dies dient der Einschränkung des eher weit geratenen Wortlauts des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG (Urteil des BFH vom 06.05.2020, X R 7/19, BFH/NV 2021, 298). An dem Tatbestandsmerkmal der Außerordentlichkeit der Einkünfte fehlt es im vorliegenden Fall. Das Gericht folgt hierzu den überzeugenden Ausführungen des Finanzgerichts Münster in seinem Urteil vom 24.10.2023 (1 K 1990/22 E, juris) zu einer gleichgelagerten Sachverhaltskonstellation.
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In diesem Urteil führt das Finanzgerichts Münster aus:
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"...Dennoch liegen keine außerordentlichen Einkünfte vor, da es am zusätzlich erforderlichen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der "Außerordentlichkeit" fehlt. Zwar könnte § 34 EStG bei streng wortlautgetreuer Betrachtung so verstanden werden, dass das in Abs. 1 Satz 1 enthaltene Tatbestandsmerkmal "außerordentliche Einkünfte" in Abs. 2 definiert wird und damit keine weiteren als die in den Nrn. 1-4 enthaltenen Voraussetzungen erforderlich wären. Aus der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Vorschrift folgt jedoch nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur ein einschränkendes Verständnis dahingehend, dass - jedenfalls in Bezug auf § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG - nur solche Einkünfte begünstigt sein sollen, die als außerordentlich bzw. atypisch anzusehen sind.
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aa) Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des BFH hat den Anwendungsbereich von § 34 EStG seit jeher auf solche Einkünfte beschränkt, die von den übrigen (laufenden) Einkünften des Steuerpflichtigen abgrenzbar sind und sich daher als "außerordentlich" darstellen (zur Entwicklung der Rechtsprechung s. BFH-Urteil vom 25.2.2014 X R 10/12, BStBl. II 2014, 668, Rn. 22 ff.). § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG enthielt bis zur Änderung durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25.7.1988 (BGBl. I 1988, 1093) anstelle des Begriffs der "Vergütung" den enger gefassten Begriff der "Entlohnung". Aufgrund dieser Formulierung wurde § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nach der früheren Rechtslage als Sondervorschrift für die Einkünfte aus selbstständiger und nichtselbständiger Arbeit angesehen (Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 34 EStG, Rn. 60 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Nunmehr gilt die Regelung für alle Einkunftsarten, auch für sonstige Einkünfte im Sinne von § 22 EStG (s.o. unter II. 2. a)) und für Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Der BFH hat zu den gewerblichen Einkünften, bei denen es häufig zu schwankenden Einnahmen und damit zur Zusammenballung in einem Veranlagungszeitraum kommen kann, entschieden, die weite Auslegung des Begriffs der "Vergütung" müsse im Rahmen der Anwendung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG dadurch ihr Korrektiv finden, dass weiterhin die "Außerordentlichkeit" der Einkünfte erforderlich ist, wozu auch eine typischerweise eintretende Progressionswirkung gehört (BFH-Urteil vom 25.2.2014 X R 10/12, BStBl. II 2014, 668, Rn. 48). Jedenfalls dann, wenn Einkünftebestandteile erst durch die Führung eines Rechtsstreits realisiert werden können, sind deren Bezieher nicht "unabhängig und frei" und es bestehen keine Gestaltungsmöglichkeiten (BFH-Urteil vom 25.2.2014 X R 10/12, BStBl. II 2014, 668, Rn. 34).
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bb) Diese Grundsätze hat der BFH in der Folgezeit auf sonstige Einkünfte, insbesondere auf die Kapitalauszahlung von Renten, übertragen und weiter ausgeschärft.
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(1) Zunächst ging er davon aus, dass derartige Einkünfte nur dann außerordentlich seien, wenn ein Kapitalwahlrecht vertraglich vereinbart wurde, das weder eng begrenzt noch auslaufend ist und damit nicht als Ausnahmeregelung angesehen werden könne. In der betrieblichen Altersversorgung seien Kapitalwahlrechte - anders als bei der Basisversorgung - nicht atypisch, sodass Zuflüsse aus Einmalzahlungen nicht außerordentlich seien (BFH-Urteil vom 20.9.2016 X R 23/15, BStBl. II 2017, 347, Rn. 27, 33).
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(2) Diese Rechtsprechung hat der BFH in späteren Entscheidungen dahingehend geändert, dass die vertragliche Vereinbarung lediglich ein Indiz im Rahmen der Beurteilung der Atypik darstelle, dem aber keine entscheidende Bedeutung zukomme. Maßgeblich sei vielmehr, ob das Kapitalwahlrecht nur in atypischen Einzelfällen tatsächlich ausgeübt wird. Hierfür müsse statistisches Material ausgewertet werden, worüber Organisationen wie die zentrale Stelle (§ 81 EStG), Verbraucherschutzorganisationen sowie Verbände der Anbieter verfügen dürften (BFH-Urteile vom 11.6.2019 X R 7/18, BStBl. II 2019, 538 und vom 6.5.2020 X R 24/19, BStBl. II 2021, 141 und X R 7/19, BFH/NV 2021, 298). Für die vorzunehmende wertende Beurteilung soll auf sämtliche Versicherungsverträge abzustellen sein, die zu gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG zu versteuernden Leistungen aus Pensionsfonds, Pensionskassen und Direktversicherungen führen und die seit Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes am 1.1.2005 bis gegenwärtig durch eine einmalige Kapitalabfindung bei Rentenbeginn oder vorzeitig durch Kündigung bzw. die sonstige Vertragsauflösung mit der Folge einer Auszahlung des Rückkaufswertes beendet worden sind (BFH-Urteile vom 6.5.2020 X R 24/19, BStBl. II 2021, 141, Rn. 33; und X R 7/19, BFH/NV 2021, 298 [BFH 06.05.2020 - X R 7/19], Rn. 34). Der BFH hat mit den beiden letztgenannten Entscheidungen die erstinstanzlichen Urteile aufgehoben und die Sachen zur Ermittlung des statistischen Materials an die Finanzgerichte Köln (Verfahren X R 7/19) bzw. Berlin-Brandenburg (Verfahren X R 24/19) zurückverwiesen.
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(3) Das FG Köln hat daraufhin versucht, statistisches Material vom Statistischen Bundesamt, der Verbraucherzentrale Bundesverband, dem GKV-Spitzenverband, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., dem Statistischen Landesamt NRW, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e.V. und dem Bundesministerium für Gesundheit zu erhalten. Diese Anfragen sind unergiebig geblieben. Die meisten Organisationen haben geantwortet, keine entsprechenden Statistiken geführt zu haben. Im Ergebnis hat das FG Köln die Klage mit Urteil vom 30.9.2021 (15 K 855/18, EFG 2022, 166) nach den Regeln der Feststellungslast abgewiesen.
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(4) Das FG Berlin-Brandenburg hat mit (bisher) nicht veröffentlichtem Urteil vom 14.9.2022 (3 K 3058/19), das den Beteiligten und dem Gericht bekannt ist (Bl. 60-70 der Gerichtsakte), die Klage aus demselben Grund abgewiesen. Es hat sich dabei auf die Ergebnisse der Befragungen des FG Köln gestützt und eine weitere Anfrage an eine Stiftung gestellt, die ebenfalls unergiebig geblieben ist.
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cc) Der Senat hat Bedenken, ob die vom BFH aufgestellten Kriterien zur Beurteilung des Merkmals der Atypik im Hinblick auf Kapitalauszahlungen aus Direktversicherungen im Sinne von § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG nach den Ergebnissen der im Wesentlichen vom FG Köln vorgenommenen Befragungen noch Bestand haben können. Dies folgt zum einen daraus, dass vor der Entscheidung zur Ausübung des Kapitalwahlrechts für den Steuerpflichtigen nicht hinreichend klar und bestimmbar ist, wie der Zufluss steuerlich behandelt werden wird. Zum anderen hat der BFH für den Fall, dass statistisches Material vorgelegt werden könnte, nicht entschieden, wie dieses auszuwerten ist, insbesondere, ab welchem Prozentsatz eine Atypik bejaht werden kann (so auch FG Köln, Urteil vom 30.9.2021 15 K 855/18, EFG 2022, 166, das aber nach § 126 Abs. 5 FGO an die Rechtsauffassung des BFH im konkreten Fall gebunden war).
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dd) Letztlich kann jedoch dahinstehen, ob dem BFH in Bezug auf die Auswertung statistischen Materials zu folgen ist. Verbleibt es bei dieser Rechtsprechung, läge keine Atypik vor, da die Klägerin für das Vorliegen einer Außerordentlichkeit die Feststellungslast trägt. Wendet man hingegen die frühere Rechtsprechung an, wonach es ausschließlich auf die ursprüngliche vertragliche Vereinbarung ankommt, läge ebenfalls keine Atypik vor, weil im Streitfall ein Kapitalwahlrecht von vornherein vereinbart wurde. Es ist kein atypischer Geschehensablauf ersichtlich. Der Senat folgt insoweit nicht der Auffassung der Klägerin, wonach es auf vertragliche Vereinbarungen im Hinblick auf die Anwendung von § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht ankomme, da diese jederzeit geändert werden könnten. Im Streitfall ist der Vertrag während seiner vereinbarten Laufzeit im Hinblick auf das Kapitalwahlrecht tatsächlich weder geändert noch vorzeitig aufgelöst bzw. gekündigt worden. Auch hat kein Rechtsstreit mit der Versicherung stattgefunden, der die Zusammenballung von Einkünften in einem Veranlagungszeitraum verursacht hätte. Vielmehr hat die Klägerin zum vereinbarten Laufzeitende von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Sie war in dieser Entscheidung unabhängig und frei und hätte stattdessen auch laufende Rentenzahlungen wählen können. Eine Atypik kann hierin nicht gesehen werden."
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Der für die vorliegende Entscheidung zuständige Richter (§ 79a Abs. 3, 4 FGO) schließt sich diesen überzeugenden Ausführungen des Finanzgerichts Münster an.
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Daher war die vorliegende Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO (Fortbildung des Rechts) zugelassen (vgl. hierzu Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30.09.2021 15 K 855/18, EFG 2022, 166; Finanzgericht Münster a.a.O).
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